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OLG Hamm Beschluss vom 17.02.2006 - 2 Ss OWi 63/05 - Abstandsschätzung hintereinander fahrender Fahrzeuge durch darin geübte Personen kann zuverlässig sein

OLG Hamm v. 17.02.2006: Abstandsschätzung hintereinander fahrender Fahrzeuge durch darin geübte Personen kann zuverlässig sein




Das OLG Hamm (Beschluss vom 17.02.2006 - 2 Ss OWi 63/05) hat zur Schätzung eines Abstandsverstoßes durch nachfahrende Polizeibeamte entschieden:

   Der Abstand hintereinander fahrender Kraftfahrzeuge kann nach allgemeiner Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung durch eine Schätzung darin geübter Personen jedenfalls dann hinreichend verlässlich festgestellt werden, wenn die beteiligten Fahrzeuge aus nicht zu großer Entfernung über eine genügend lange Fahrstrecke ungehindert beobachtet werden können und es sich nicht um einen "Grenzfall", sondern um eine beträchtliche Unterschreitung des notwendigen Sicherheitsabstandes handelt.

Siehe auch
Sicherheitsabstand
und
Stichwörter zum Thema Abstandsverstöße

Zum Sachverhalt:

Der Betroffene befuhr am 09.04.05 gegen 14.05 Uhr mit dem Pkw Daimler Chrysler ...die A 43 in Recklinghausen.

Zum genannten Zeitpunkt befuhren die Zeugen L. als Fahrer und der Zeuge H. als Beifahrer mit dem Streifenwagen MS - 3695 die A 43 in Recklinghausen. Die Polizeibeamten benutzten den rechten Fahrstreifen. Sie bemerkten, dass der Betroffene auf dem linken Fahrstreifen fahrend mit einem Abstand von ca. 6 m einem vorausfahrenden Fahrzeug folgte. Das nahmen die Beamten zum Anlass, ebenfalls vom rechten auf den linken Fahrstreifen überzuwechseln und eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren einzuleiten. Diese Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren erfolgte zwischen den Autobahnkilometern 34,5 und 33,5. Die Beamten hatten nach dem Aufschließen während der erwähnten Strecke einen gleich bleibenden Abstand von 50 m zum Pkw des Betroffenen eingehalten. Leicht versetzt fahrend konnten die Beamten sich davon überzeugen, dass auch auf dieser Messstrecke der von ihnen geschätzte Abstand von etwa 6 m zwischen dem Fahrzeug des Betroffenen und dem vorausfahrenden Pkw eingehalten wurde. Den gleichbleibenden Abstand stellten die Beamten dabei anhand der Seitenpfosten fest.

Nachdem der vorausfahrende, unbekannt gebliebene Pkw-Fahrer auf den rechten Fahrstreifen übergewechselt war und der Betroffene offensichtlich den Streifenwagen erkannt hatte, wechselte dieser gleichfalls auf den rechten Fahrstreifen über. Die Polizeibeamten überholten nunmehr den Pkw des Betroffenen und bedeuteten diesem durch Anhaltezeichen, dem Wagen zu folgen. Der Betroffene folgte zunächst dem Streifenwagen, hielt aber dann auf dem Seitenstreifen des Autobahnkreuzes Herne in Höhe Kilometer 31,0 an, weil er beabsichtigte, über die A 42 nach Duisburg zu fahren. Die Beamten veranlassten jedoch dann aus Sicherheitsgründen den Betroffenen, ihnen weiterhin über die A 43 bis zur Anschlussstelle Herne-Eickel bei Kilometer 29,8 zu folgen und hielten ihn dort auf dem Seitenstreifen der Ausfahrt an.

Zum Tatzeitpunkt herrschte auf der A 43 mittlerer bis dichter Verkehr. Der Tachometer des Streifenwagen war justiert. Die Fa. van Holt-Bosch-Service - hatte am 03.02.05 den Tachometer überprüft und bei 120 km Übereinstimmung von bis - und Sollanzeige festgestellt.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die §§ 4, 49 StVO, 24, 25 StVG zu einer Geldbuße von 100 Euro und außerdem ein Fahrverbot von einem Monat festgesetzt. Hiergegen richtete sich die Rechtsbeschwerde, mit der die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt worden ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben.

Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg.





Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Aufhebungsantrag " - unter anderem - "wie folgt begründet:

   "... Indessen tragen die getroffenen Feststellungen nicht den Schuldspruch des Betroffenen wegen Unterschreitung des gem. § 4 Abs. 1 S. 1 StVO einzuhaltenden Sicherheitsabstandes, weil das Amtsgericht materiell rechtlich fehlerhaft der von den Polizeibeamten hierbei angewandten Messmethode eine Beweiskraft beigemessen hat, die ihr nicht zukommt.

Zwar ist es - auch im Hinblick auf die Beurteilung des einzuhaltenden Sicherheitsabstandes - grundsätzlich möglich, dass geübte und erfahrene Polizeibeamte durch Beobachtung der beteiligten Fahrzeuge über eine hinreichend lange Strecke den Abstand zwischen ihnen in gerichtsverwertbarer Weise einschätzen können, wenn sie in einer nicht zu großen Entfernung schräg versetzt hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug fahren (zu vgl. OLG Hamm, VRS 94, 303; VRS 58, 276; OLG Düsseldorf, VRS 56, 57), was insbesondere gilt, wenn Schätzungshilfen, wie etwa die Länge der Leitlinienmarkierungen oder dergleichen, vorhanden sind.

Derartige Schätzungen bedürfen allerdings besonders kritischer tatsächlicher Bewertung, die hier der rechtlichen Nachprüfung nicht stand hält. Ausweislich der tatrichterlichen Feststellungen wechselten die Zeuginnen L. und H. mit ihrem Fahrzeug vom rechten auf den linken Fahrstreifen, nachdem sie den Betroffenen auf dem linken Fahrstreifen fahrend mit einem geschätzten Abstand von 6 m zum vorausfahrenden Fahrzeug bemerkt hatten. In einem Abstand von 50 m zum Fahrzeug des Betroffenen folgten die Zeugen seitlich versetzt auf dem linken Fahrstreifen. Orientierungshilfen, durch die eine Schätzung von 6 m Abstand während der 1000 m Messstrecke gesichert wird, hat der Tatrichter nicht festgestellt. Allein der Hinweis, dass sich die Zeugen L. und H. leicht versetzt fahrend anhand der Seitenpfosten davon überzeugen konnten, dass auf der Messstrecke der von ihnen geschätzte Abstand von etwa 6 m zwischen dem Fahrzeug des Betroffenen und dem vorausfahrenden Pkw eingehalten wurde, lässt nicht auf eine hinreichende Möglichkeit schließen, dass es den beiden Polizeibeamten möglich war, den Abstand zwischen den Fahrzeugen zuverlässig zu beurteilen.

Der Tatrichter hat die Schätzung der Zeugen L. und H. im Rahmen der Beweissicherung dagegen uneingeschränkt als zuverlässig beurteilt, anstatt sie kritisch auf ihre Vereinbarkeit mit den tatsächlichen Gegebenheiten zu überprüfen. Ausführungen dazu, dass es sich bei den Zeugen L. und H. um geübte und erfahrene Polizeibeamte gehandelt hat (vgl. dazu auch OLG Düsseldorf, NZV 1993, 242) und ihnen daher eine genaue Schätzung möglich gewesen sei, enthalten die Urteilsgründe nicht. Nähere Angaben dazu wären aber schon aufgrund des eingeschränkten ungünstigen Winkels erforderlich gewesen. Denn über die Messstreckendistanz fuhr das nachfahrende Fahrzeug nicht - wie sonst in diesen Fällen zur Erlangung einer möglichst guten Sicht für die Beamten üblich - schräg versetzt auf der benachbarten Fahrspur, sondern rückwärtig versetzt auf der von dem Betroffenen benutzten Richtungsfahrbahn. Das ermöglichte den Zeugen nur eine stark eingeschränkte Sicht auf die beiden vorausfahrenden Fahrzeuge in einem sehr spitzen Winkel. Wenn es aber schon unverhältnismäßig schwierig ist, den Abstand zweier vorausfahrender Fahrzeuge aus einem Fahrzeug heraus bei guter Sicht zuverlässig zu ermitteln (zu vgl. OLG Hamm, VRS 58, 276, 278), dann bedarf es gerade bei einem stark eingeschränkten Blickwinkel einer besonders kritischen tatrichterlichen Würdigung.

Angesichts der Schwierigkeit einer zuverlässigen Schätzung unter den gegebenen Umständen konnte der Tatrichter ohne Verstoß gegen einen Erfahrungssatz die Schätzung der Zeugen L. und H. für nicht so zuverlässig erachten, dass er sie der Verurteilung des Betroffenen zugrunde legen durfte...."

Diesen überzeugenden Ausführungen tritt der Senat nach eigener Sachprüfung bei und macht sie sich zu eigen. Er weist zusätzlich auf Folgendes hin:



... Der Abstand hintereinander fahrender Kraftfahrzeuge kann nach allgemeiner Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. außer den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen auch noch OLG Düsseldorf DAR 2000, 80 = VRS 98, 155 = VM 2000, Nr 38) durch eine Schätzung darin geübter Personen jedenfalls dann hinreichend verlässlich festgestellt werden, wenn die beteiligten Fahrzeuge aus nicht zu großer Entfernung über eine genügend lange Fahrstrecke ungehindert beobachtet werden können und es sich nicht um einen "Grenzfall", sondern um eine beträchtliche Unterschreitung des notwendigen Sicherheitsabstandes handelt. Bei der Beurteilung dieser Frage hat der Tatrichter dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine hinreichend genaue Abstandsschätzung ungeübten Personen in der Regel nicht möglich ist. Hierbei handelt es sich um einen allgemeinen Erfahrungssatz, dessen Nichtberücksichtigung der Nichtanwendung einer Rechtsnorm gleichkommt und deshalb zu einer Verletzung sachlichen Rechts führt (vgl. zu alledem auch OLG Düsseldorf NZV 1993, 242 = DAR 1993, 360 sowie Krumm in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, Rn. 99, 112). Das angefochtene Urteil lässt nicht erkennen, dass diesem allgemeinen Erfahrungssatz bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung Rechnung getragen wurde. Das Amtsgericht hat dem Schuldspruch die Abstandsschätzung der Zeugen zugrunde gelegt, ohne, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, mitzuteilen, ob und inwieweit die Zeugen - sei es aufgrund ihrer beruflichen Ausbildung oder aufgrund anderer Umstände - im Schätzen räumlicher Abstände geübt sind. Nähere Ausführungen hierzu waren im vorliegenden Fall schon aufgrund der schwierigen Schätzungssituation unverzichtbar, denn nach den tatrichterlichen Feststellungen fuhren die Zeugen rückwärtig versetzt auf der von dem Betroffenen benutzten Richtungsfahrbahn, hatten also keinem Zeitpunkt die sonst übliche gute Sicht aus einer schräg versetzten Position auf der benachbarten Fahrspur. ..."

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