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OVG Bremen Beschluss vom 29.06.2006 - 1 B 167/06 - Nur ein Aufbauseminar bei Punktestand zwischen 14 und 17 ist rechtmäßig

OVG Bremen v. 29.06.2006: Nur ein Aufbauseminar bei Punktestand zwischen 14 und 17 ist rechtmäßig




Siehe auch
Siehe auch Aufbauseminar - Nachschulung - verkehrspsychologische Beratung - Wiederherstellungskurse
und
Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein

Das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen (Beschluss vom 29.06.2006 - 1 B 167/06) hat entschieden:

   Eine auf § 4 Abs 3 Nr 2 StVG gestützte Anordnung der Fahrerlaubnisbehörde, an einem Aufbauseminar teilzunehmen, ist nur rechtmäßig, wenn im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ein Punktestand zwischen 14 und 17 Punkten im Verkehrszentralregister eingetragen ist. Reduzierungen des Punktestandes, die während des Widerspruchsverfahrens erfolgen, berühren die Rechtmäßigkeit der behördlichen Anordnung.


Zum Sachverhalt:


Die 1960 geborene Antragstellerin erwarb 1979 eine Fahrerlaubnis der Klasse 3. Am 04.07.2001 teilte das Kraftfahrtbundesamt (KBA) der Antragsgegnerin mit, dass die Antragstellerin wegen verschiedener zwischen 1997 und 2000 begangener Verkehrsstraftaten mit insgesamt 27 Punkten im Verkehrszentralregister eingetragen sei (2 Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz, 1 Verkehrsunfallflucht, 1 fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr). Unter Hinweis auf diese Mitteilung verwarnte die Antragsgegnerin die Antragstellerin mit Schreiben vom 06.08.2001.




Am 19.11.2001 teilte das KBA die Erhöhung des Punktestandes auf 33 Punkte mit (wegen eines erneuten Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz), am 06.01.2003 die Erhöhung auf 34 Punkte (wegen eines Rotlichtverstoßes), am 05.03.2004 die Erhöhung auf 35 Punkte (wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung), am 05.11.2004 die Erhöhung auf 36 Punkte (wegen verbotenen Telefonierens im Auto) und am 09.02.2006 die Erhöhung auf 37 Punkte (wegen erneuten verbotenen Telefonierens im Auto).

Die letztgenannte Mitteilung nahm die Antragsgegnerin zum Anlass, mit Bescheid vom 22.02.2006 die Teilnahme der Antragstellerin an einem Aufbauseminar anzuordnen (Kurs mit 4 Sitzungen von jeweils 135 Minuten).

Die Antragstellerin hat rechtzeitig Widerspruch eingelegt, mit dem sie geltend macht, dass ausweislich einer ihr am 17.03.2006 erteilten Auskunft des KBA am 13.03.2006 bezüglich der 5 zwischen 1997 und 2001 begangenen Verkehrsstraftaten Tilgungsreife eingetreten sei. Ihr Punktestand betragen seitdem 7 Punkte und rechtfertige damit nicht die Anordnung eines Aufbauseminars.

Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18.04.2006 zurückgewiesen. Für die Rechtmäßigkeit der behördlichen Maßnahme komme es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsakts an. Zu diesem Zeitpunkt sei die Tilgungsreife noch nicht eingetreten gewesen, so dass die Anordnung rechtlich nicht zu beanstanden sei.

Die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin war erfolgreich.

Das KBA hat in einer am 26.06.2006 vom Oberverwaltungsgericht eingeholten Auskunft bestätigt, dass für die Antragstellerin derzeit 7 Punkte im Verkehrszentralregister eingetragen seien.

Die Antragsgegnerin hält die vom KBA vorgenommene Berechnung des Punktestandes für unrichtig; bei zutreffender Anwendung der Tilgungsvorschriften sei von derzeit 13 Punkten auszugehen. Das könne aber letztlich dahinstehen, weil auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Maßnahme abzustellen sei und zu diesem Zeitpunkt in jedem Fall die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar vorgelegen hätten.




Aus den Entscheidungsgründen:


"... § 4 Abs. 3 StVG sieht - gestaffelt nach den im Verkehrszentralregister eingetragenen Punkten des Fahrerlaubnisinhabers - ein abgestuftes System von Maßnahmen (Punktesystem) vor. Ergeben sich 14, aber nicht mehr als 17 Punkte, so hat die Fahrerlaubnisbehörde die Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen ( § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG ). Für die gerichtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, d. h. bei Abschluss des Widerspruchsverfahrens maßgebend. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage bei der Überprüfung einer Fahrerlaubnisentziehung (vgl. BVerwG, U. v. 27.09.1995 - 11 C 34.94 - BVerwGE 99, S. 249 ; B. v. 22.01.2001 - 3 B 144.00 - Juris). An dieser Rechtsprechung ist unter der Geltung des zum 01.01.1999 neugefassten § 4 StVG (Gesetz vom 24.04.1998, BGBl. 1 S. 747) festzuhalten, und zwar auch in Bezug auf die durch die Neuregelung geschaffene Maßnahme, die Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen. Auch deren Rechtmäßigkeit beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids.

Mit dem Widerspruchsverfahren, in dem die Rechtmäßigkeit des Erstbescheids einer umfassenden rechtlichen Überprüfung durch die Widerspruchsbehörde unterzogen wird ( § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO ), werden verschiedene Zwecke verfolgt. Neben der Selbstkontrolle der Verwaltung und der Entlastung der Gerichte dient es dem Rechtsschutz des Bürgers (vgl. Eyermann/Rennert, VwGO, 12. Aufl. § 68 Rdnr. 2; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., Vorb. § 68 Rdnr. 1). Der Bürger hat deshalb, soweit dessen Durchführung nicht ausdrücklich gesetzlich ausgeschlossen ist, einen Anspruch auf Überprüfung des Erstbescheids in einem Widerspruchsverfahren. Diese Überprüfung kann eigenständig nur durchgeführt werden, wenn die Widerspruchsbehörde auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Entscheidung abstellt. Dem entspricht es, dass gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO Gegenstand der Anfechtungsklage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt ist, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Bezogen auf die vorliegenden Fall bedeutet das, dass Reduzierungen des Punktestandes, die im Laufe des Widerspruchsverfahrens eintreten, von der Widerspruchsbehörde zu berücksichtigen sind.

Der Auffassung des VGH Mannheim (B. v. 17.02.2005 - 10 S 2875/04 - DÖV 2005, S. 746), maßgeblich sei allein der Punktestand bei Erlass des Erstbescheids, vermag der Senat im Rahmen der in einem Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Überprüfung nicht zu folgen. Der Umstand, dass die abgestuften Maßnahmen nach dem Punktesystem gesetzlich genau vorgegeben sind, kann eine derartige Vorverlagerung des maßgeblichen Zeitpunkts nicht rechtfertigen. Auch in anderen Bereichen des Ordnungsrechts, in denen aus Gründen der Gefahrenabwehr eine gesetzliche Pflicht zum Einschreiten der Behörde besteht, wird eine entsprechende Vorverlagerung nicht angenommen (z. B. im Gewerbe- und Gaststättenrecht). Gleiches gilt für die vom Gesetzgeber vorgesehene sofortige Vollziehbarkeit der Maßnahme ( § 4 Abs. 7 S. 2 StVG ). Aus dieser gesetzlichen Regelung folgt nicht, dass das Gericht bei seiner Überprüfung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erstbescheids festgelegt wäre.




Die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 StVG wird damit nicht etwa von „Zufälligkeiten“ oder vom Verhalten des Betroffenen während des Widerspruchsverfahrens abhängig gemacht. Die Dauer des Widerspruchsverfahrens liegt weitgehend in der Hand der Widerspruchsbehörde. Wird das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit durchgeführt, wird es in der Mehrzahl der Fälle währenddessen nicht infolge Zeitablaufs zu einer entscheidungserheblichen Reduzierung des Punktestandes kommen. Steht eine solche Minderung unmittelbar bevor, entspricht es andererseits regelmäßig bereits dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, diesen Sachverhalt nicht unberücksichtigt zu lassen.



Im vorliegenden Fall ist auf den Widerspruch der Antragstellerin noch kein Widerspruchsbescheid erlassen worden, deshalb ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung abzustellen. Derzeit beträgt der Punktestand der Antragstellerin nach der Auskunft des KBA 7 Punkte, was eine Anordnung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG nicht rechtfertigt. Die Maßnahme setzt, wie dargelegt, 14 bis 17 Punkte voraus. Der bei Erlass des Erstbescheids am 22.02.2006 vorhandene deutlich höhere Punktestand - nach der Berechnung der Antragsgegnerin aufgrund der Regelung in § 5 Abs. 5 S. 2 StVG 17 Punkte - ist seit dem 13.03.2006 entfallen.

Die Mitteilung des KBA über den aktuellen Punktestand entspricht, soweit sich dies übersehen lässt, den Tilgungsvorschriften. Aufgrund der nachträglichen Gesamtstrafenbildung am 12.12.2001 begann die Tilgungsfrist für die am 13.03.2001 und am 16.08.2001 abgeurteilten Verkehrsstraftaten mit dem „Tag des ersten Urteils“, d. h. mit dem 13.03.2001 ( § 29 Abs. 4 Nr. 1 StVG ). Die gegenteilige Ansicht der Antragsgegnerin, die vom KBA ausdrücklich nicht geteilt wird, wonach der Punktestand der Antragstellerin sich derzeit auf 13 Punkte belaufe, vermag nicht zu überzeugen. Abgesehen davon wären auch nach dieser Ansicht derzeit nicht die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG erfüllt.

Der vorliegende Fall belegt im Übrigen, dass der hier eingenommene Rechtsstandpunkt nicht zu Unzuträglichkeiten bei der Umsetzung des Punktesystems führt. Die Maßnahme ist von der Antragsgegnerin 3 Wochen vor einer durch die Tilgungsvorschriften veranlassten wesentlichen Absenkung des Punktestandes ergriffen worden. In den Jahren zuvor hatte das KBA wiederholt auf eine Erhöhung des Punktestandes hingewiesen (2003: einmal; 2004: zweimal), was die Antragsgegnerin ohne weiteres als Anlass hätte nehmen können, um Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 StVG zu treffen. Im Regelfall „baut“ sich also ein entsprechendes Punktekonto auf, was der Behörde Gelegenheit zum Einschreiten bietet. Unterlässt sie dies und wird erst unmittelbar vor Ablauf der Tilgungsfristen tätig, trägt sie das Risiko, dass die erst zögerlich ergriffene Maßnahme keinen rechtlichen Bestand hat. ..."

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