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Verwaltungsgericht Gießen Beschluss vom 26.02.2003 - 6 G 368/03 - Bei der Reduzierung des Punktestandes gemäß § 4 Abs 5 Satz 2 StVG wegen unterbliebener Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde erhält der Betroffene einen echten Punktabzug

VG Gießen v. 26.02.2003: Bei der Reduzierung des Punktestandes gemäß § 4 Abs 5 Satz 2 StVG wegen unterbliebener Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde erhält der Betroffene einen echten Punktabzug




Das Verwaltungsgericht Gießen (Beschluss vom 26.02.2003 - 6 G 368/03) hat sich zugunsten der Subtraktionsmethode beim Punkteabzug nach dem Punktsystem ausgesprochen:

   Bei der Reduzierung des Punktestandes gemäß § 4 Abs 5 Satz 2 StVG wegen unterbliebener Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde nach § 4 Abs 3 StVG wird der Betroffene nicht lediglich so gestellt, als ob er erst die vorherige Eingriffsstufe erreicht hätte, sondern erhält einen echten Punktabzug.

Siehe auch
Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem
und
Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein

Aus den Entscheidungsgründen:


"... Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Landrates des L.-D.-K. vom 16.01.2003 wieder herzustellen bzw. anzuordnen, mit dem ihm unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis der Klassen 3, 4 und 5 (alt) entzogen und er unter Fristsetzung zur Herausgabe seines Führerscheines aufgefordert sowie ihm die Ersatzvornahme der Einziehung des Führerscheins angedroht worden ist, ist zulässig und begründet.

Die Wiederherstellung bzw. die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Verwaltungsakt kann gemäß § 80 Abs. 5 VwGO erfolgen, wenn der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist oder - bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens - aus anderen Gründen das private Aufschubinteresse das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Darüber hinaus erfolgt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, wenn das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes durch die Behörde nicht hinreichend begründet wurde (§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO).

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Nach der im gerichtlichen Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist die angefochtene Verfügung rechtswidrig. Der Landrat des L.-D.-K. hat in dem Bescheid vom 16.01.2003 dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen 3, 4 und 5 (alt) zu Unrecht gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG entzogen.




Maßgebend für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis ist, da bisher noch kein Widerspruchsbescheid erlassen ist, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Eilverfahren. Danach sind die vorliegend einschlägigen Bestimmungen der §§ 4 und 65 StVG in der - neuen - Fassung des Artikels 1 des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 19.03.2001 (BGBl. I, S. 386) anzuwenden. Nach § 65 Abs. 4 S. 2 StVG richten sich die gegen den Antragsteller auf Grund der Vielzahl der von ihm begangenen Verkehrsverstöße zu ergreifenden Maßnahmen insgesamt nach dem Punktesystem des § 4 StVG n. F., weil zu den vor dem 01.01.1999 begangenen Verkehrsverstößen ab dem 01.01.1999 weitere Ordnungswidrigkeiten hinzugetreten sind.

Gemäß der von dem Antragsgegner für die Fahrerlaubnisentziehung herangezogenen Bestimmung des § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG gilt der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich 18 oder mehr Punkte nach dem Punktesystem ergeben; die Fahrerlaubnisbehörde hat in diesem Fall die Fahrerlaubnis zu entziehen. Vorliegend hätte der Antragsteller zwar auf der Grundlage der letzten in der Verwaltungsakte des Antragsgegners befindlichen Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 30.10.2002 derzeit einen Punktestand von 19 Punkten (26 Punkte ausweislich der vorgenannten Mitteilung abzüglich wegen Zeitablaufs am 12.12.2002 gelöschter 4 und am 24.12.2002 gelöschter 3 Punkte). Gleichwohl greift hier die Ungeeignetheitsvermutung des § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG nicht ein. Denn der vorgenannte Punktestand ist nach den Bestimmungen des Straßenverkehrsgesetzes um 6 Punkte zu reduzieren.




Gemäß § 4 Abs. 5 S. 2 StVG wird der Punktestand des Betroffenen auf 17 reduziert, wenn er 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ergriffen hat. Nach dieser Bestimmung hat die Fahrerlaubnisbehörde, wenn sich 14, aber nicht mehr als 17 Punkte ergeben, die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach Abs. 8 anzuordnen und den Betroffenen schriftlich auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung nach Abs. 9 hinzuweisen, sowie ihn darüber zu unterrichten, dass ihm bei Erreichen von 18 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird. Dabei ist ein Überschreiten der in § 4 Abs. 5 S. 2 StVG genannten Punktzahl nicht nur dann anzunehmen, wenn sie erstmals überschritten wird, sondern auch dann, wenn die schon erreichte Punktzahl sich weiter erhöht, die für den Fall des Erreichens oder Überschreitens der Punktzahl vorgesehenen Maßnahmen (Rückstufung und Ergreifen der Maßnahmen der vorgesehenen Stufe) zuvor aber unterblieben sind (siehe OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.02.2000, NZV 2000, 219).

Die vorgenannten Voraussetzungen sind hier gegeben. Denn der Antragsgegner hat den Antragsteller erst mit Verfügung vom 16.07.2001 gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG zur Teilnahme an einem Aufbauseminar über die zukünftige Bewährung im Straßenverkehr aufgefordert und ihn über die anschließend bestehende Möglichkeit der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung informiert, nachdem dieser ausweislich der Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 02.07.2001 bereits einen Punktestand von insgesamt 23 Punkten aufwies. Auch ist dem Antragsteller nicht zuvor nach alter Rechtslage gemäß § 3 Nr. 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 15 b StVZO eine Begutachtung durch einen amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr oder stattdessen die Ableistung eines Nachschulungskurses aufgegeben worden, was nach § 65 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StVG der Aufforderung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar gleichgestellt wäre. Vielmehr ist er damals gemäß § 3 Nr. 4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Vorlage eines Gutachtens einer amtlich anerkannten medizinisch-psychologischen Untersuchungsstelle und im Anschluss daran zur Teilnahme an einem Schulungskurs Selbstkontrolle beim Fahren aufgefordert worden. Beides kann in Anbetracht des eindeutigen Wortlauts des § 65 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StVG der Anordnung eines Aufbauseminars nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG nicht gleichgestellt werden, obwohl nach alter Rechtslage gemäß § 3 Nr. 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 15 b StVZO eine Begutachtung durch einen amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr bereits bei 14 Punkten anzuordnen war, während die beim Antragsteller angeordnete medizinisch-psychologische Untersuchung nach Nr. 4 der Vorschrift angeordnet wurde, weil der Antragsteller innerhalb eines Zeitraums von mehr als zwei Jahren 18 Punkte erreicht hatte. Entgegen der amtlichen Begründung zur Änderung des § 65 Abs. 4 StVG durch das Straßenverkehrsrechtsänderungsgesetz vom 19.03.2001 (siehe BT - Drucksache 14/4304, S. 13) wird durch die Neufassung der Vorschrift nur sehr eingeschränkt klargestellt, dass bei Anwendung des § 4 StVG auch die Maßnahmen einbezogen bzw. gleichgestellt werden, die gegen den Betroffenen bereits auf Grund der Regelungen des bisherigen Punktesystems nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 15 b StVZO ergriffen wurden.




Nach alledem war im Zeitpunkt der Aufforderung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG an den Antragsteller vom 16.07.2001 der Punktestand gemäß § 4 Abs. 5 S. 2 StVG um 6 Punkte auf 17 zu reduzieren. Dies bedeutet entgegen der Ansicht des Antragsgegners einen echten Punktabzug.

Dies wird in der amtlichen Begründung zur Neufassung des § 4 Abs. 5 StVG durch das Straßenverkehrsrechtsänderungsgesetz vom 19.03.2001 ausdrücklich klargestellt. Dort heißt es (BT - Drucksache 14/4304, S. 10):

   "In diesen Fällen wird der Betroffene auf die jeweils vorhergehende Schwelle (...) des Punktesystems 'zurückgestuft'. Die entsprechende Formulierung in den Sätzen 1 und 2 (...) führte allerdings in der Praxis bislang hin und wieder zu Missverständnissen. Die Formulierung kann zu Zweifeln Anlass geben, ob bei der Bewertung durch die örtliche Fahrerlaubnisbehörde wie auch bei der Registrierung im Verkehrszentralregister beim Kraftfahrtbundesamt die Rückstufung nur in Form einer 'Als-Ob-Regelung' oder auch tatsächlich erfolgen würde. Dass letzteres der Fall ist, wird dies durch die neue Formulierung klargestellt"
(vgl. dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.03.2002, NJW 2002, 2264)



Die gegenteilige Auffassung des Antragsgegners, dass der Betroffene zwar nach § 4 Abs. 5 StVG so gestellt würde, als ob dieser erst die vorherige Eingriffsstufe erreicht hätte, gleichwohl aber seine Punktezahl behält, würde zudem den Zweck des § 4 Abs. 5 StVG verfehlen, die generelle Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von 18 Punkten nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG erst eingreifen zu lassen, wenn die Punktzahl trotz der im Maßnahmenkatalog nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und 2 StVG enthaltenen Hilfestellungen, erreicht wird (siehe zu diesem Zweck OVG Hamburg, Beschluss vom 25.11.1999, NZV 2000, 267 und OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.02.2000 NZV, 2000, 219). Denn der Anwendungsbereich der Vorschrift liefe dann weitgehend leer. So könnte ein Betroffener im Falle des § 4 Abs. 5 S. 2 StVG den Entzug der Fahrerlaubnis nur vermeiden, wenn er nicht mehr als 19 Punkte hätte, da ihm nach § 4 Abs. 4 S. 2 StVG für die Teilnahme an der in § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG genannten verkehrspsychologischen Beratung lediglich 2 Punkte abgezogen werden. Im Ergebnis ist damit durch die Regelung des § 4 Abs. 5 S. 2 StVG die Punktezahl des Betroffenen bis zum Erlass der Anordnung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG bei 17 Punkten festgeschrieben.

Für den Punktestand des Antragstellers im Zeitpunkt der heutigen Entscheidung ergibt sich damit folgende Berechnung: 17 Punkte im Zeitpunkt der Anordnung vom 16.07.2001 zur Teilnahme an dem Aufbauseminar, abzüglich wegen Zeitablaufs zwischenzeitlich getilgter 3 Punkte am 22.11.2001, 4 Punkte am 12.12.2002 und 3 Punkte am 24.12.2002, zuzüglich 3 Punkte wegen der Verkehrsordnungswidrigkeit vom 20.09.2001, rechtskräftig seit dem 29.12.2001 und weiterer 3 Punkte wegen der Verkehrsordnungswidrigkeit vom 25.11.2001, rechtskräftig seit dem 20.06.2002, mithin insgesamt 13 Punkte. Dies rechtfertigt die angegriffene Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG nicht. ..."

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