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OVG Hamburg Beschluss vom 03.12.2002 - 3 Bs 253/02 - Der bloße Besitz einer geringen Menge von Cannabis reicht nicht aus, um eine MPU anzuordnen

OVG Hamburg v. 03.12.2002: Der bloße Besitz einer geringen Menge von Cannabis reicht nicht aus, um eine MPU anzuordnen




Das OVG Hamburg (Beschluss vom 03.12.2002 - 3 Bs 253/02) hat entschieden:

  1.  Im Lichte der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung spricht viel dafür, dass der bloße Besitz einer geringen Menge von Cannabis nicht ausreicht, um von dem der Behörde in § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV eingeräumten Ermessen im Sinne der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens Gebrauch zu machen oder Satz 1 Nr. 2 dahin auszulegen, dass bereits der bloße Besitz einer geringen Menge Cannabis die Annahme begründet, dass Einnahme von Betäubungsmitteln vorliegt.

  2.  Der Umstand allein, dass der Fahrerlaubnisinhaber bei einer Autofahrt 4 g Cannabis bei sich hatte, legt eine von ihm ausgehende Gefahr für die übrigen Verkehrsteilnehmer nicht hinreichend nahe.


Siehe auch
Besitz von Cannabisprodukten (Haschisch, Marihuana, Gras usw.)
und
Stichwörter zum Thema Cannabis

Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung vom 6. Juni 2002 ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen. Der Widerspruch bietet jedenfalls in solchem Maße Aussicht auf Erfolg, dass der mutmaßliche Ausgang des Widerspruchsverfahrens aus der Sicht der Antragsgegnerin bestenfalls als offen bezeichnet werden kann. Angesichts dieser Lage verbietet es sich, den Antragsteller weiterhin vorläufig von der Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen. Im Rahmen der Folgenabwägung legt der Umstand allein, dass er bei einer Autofahrt 4 g Cannabis bei sich hatte, eine von ihm ausgehende Gefahr für die übrigen Verkehrsteilnehmer nicht hinreichend nahe. Es steht nicht fest und wird von ihm bestritten, dass er bisher ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln geführt hätte.

Es ist zweifelhaft, ob die Verfügung vom 6. Juni 2002 Bestand haben wird. Dass sie etwa auf § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gestützt werden könnte, macht die Antragsgegnerin selbst nicht geltend. In Betracht kommt als Rechtsgrundlage offenbar nur § 46 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV. Danach darf die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn dieser sich weigert, sich untersuchen zu lassen, oder wenn er das von der Behörde geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Anforderung des Gutachtens rechtmäßig war (vgl. zum bisherigen Recht: BVerwG, Urt. v. 5.7.2001, NJW 2002 S. 78, 79).




Der Antragsteller stellt die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Antragsgegnerin vom 27. April 2002, ein fachärztliches Gutachten darüber vorzulegen, ob er Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes einnimmt, zu Recht unter Hinweis auf die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Frage (vgl. BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 8.7.2002, NJW 2002 S. 2381, und Beschl. v. 20.6.2002, NJW 2002 S. 2378 m. Anm. Gehrmann, NZV 2002 S. 529 ff.; Beschl. v. 1.8.2002 - 1 BvR 1143/98 -, Juris). Danach stand die frühere behördliche und fachgerichtliche Praxis zur Überprüfung von Fahrerlaubnisinhabern mit Verfassungsrecht - insbesondere dem grundrechtlichen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - nicht in Einklang, soweit die Feststellung des unerlaubten Besitzes einer kleinen Menge Cannabis für sich allein bereits zum Anlass genommen worden ist, dem Betroffenen ein fachärztliches Gutachten auf der Grundlage eines Drogenscreenings abzuverlangen (BVerfG, Beschl. v. 8.7.2002, NJW 2002 S. 2381). Die Annahme der Verkehrsbehörde, dass die Feststellung des unerlaubten Besitzes einer kleinen Menge Haschisch als deutliches Indiz für beabsichtigten Eigenkonsum gewertet werden kann, stößt zwar auf keine Bedenken. Aus der einmaligen Feststellung beabsichtigten Eigenkonsums darf jedoch ohne entsprechende Anhaltspunkte nicht auf das ständige Vorhandensein fahreignungsrelevanter körperlich-geistiger Leistungsdefizite geschlossen werden. Ebenso wenig wäre es tragfähig, aus dieser Feststellung den Schluss zu ziehen, dass der betreffende Kraftfahrer entweder nicht in der Lage oder aber nicht Willens ist, zuverlässig zwischen dem Drogenkonsum und der aktiven Teilnahme am Straßenverkehr zu trennen (BVerfG, Beschl. v. 20.6.2002, NJW 2002 S. 2378, 2380). Bedenken gegen die Überprüfung der Eignung bestehen jedoch nicht, wenn über den bloßen Besitz von Cannabis hinaus konkrete tatsächliche Verdachtsmomente dafür ermittelt worden sind, dass der Betroffene den Konsum von Cannabis und die aktive Teilnahme am Straßenverkehr nicht zuverlässig zu trennen vermag oder zu trennen bereit ist (BVerfG, Beschl. v. 8.7.2002, NJW 2002 S. 2381).

Auch das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass ein einmaliger oder gelegentlicher Cannabiskonsum ohne konkrete Verknüpfung mit der Teilnahme am Straßenverkehr für sich allein keinen nach dem früheren § 15 b Abs. 2 StVZO ausreichenden Anlass zur Anforderung eines Drogenscreenings gab (Urt. v. 5.7.2001, NJW 2002 S. 78, 80). Dies trägt dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Angemessenheit der eingreifenden Maßnahme im Verhältnis zum Anlass des Einschreitens Rechnung (BVerfG, Beschl. v. 20.6.2002, NJW 2002 S. 2378, 2380).

Über den Antragsteller war der Antragsgegnerin in dem hier interessierenden Zusammenhang bei Erlass der Anordnung vom 27. April 2002 nicht mehr bekannt, als dass er am 23. März dieses Jahres in Leck 4 g Cannabis in seinem Kraftfahrzeug mit sich geführt hat. Nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen reicht dies schwerlich aus, um die besagte Anordnung zu rechtfertigen, selbst wenn man seiner ihn entlastenden Einlassung im Schriftsatz vom 5. Juli 2002, er habe das Stück Cannabis einer Frau, die es auf einer privaten Feier in Leck vergessen habe, auf deren Bitte mit nach Hamburg bringen wollen, mit Skepsis begegnet. Unverständlicherweise erst nach Einlegung des Widerspruchs hat die Antragsgegnerin sich bemüht, die näheren Einzelheiten hinsichtlich des Vorfalls vom 23. März 2002 zu erforschen und ein vollständigeres Bild von der Persönlichkeit des Antragstellers zu gewinnen (vgl. ihre Schreiben vom 21. Juni 2002 an die Kriminalpolizeistelle Husum und an das Landeskriminalamt). Insbesondere hat auch eine Anhörung des Antragstellers, die den gegen ihn bestehenden Verdacht entweder hätte erhärten oder aber ausräumen können, vor Erlass der Anordnung vom 27. April 2002 nicht stattgefunden.




Hinreichend konkrete Verdachtsmomente, die einen Eignungsmangel als nahe liegend erscheinen lassen, sind danach hier schwerlich feststellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.6.1993, BVerfGE Bd. 89 S. 69, 85). Insbesondere sind ausreichende Indizien für einen regel- oder gar gewohnheitsmäßigen Cannabiskonsum des Antragstellers - ein solcher kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts berechtigte Zweifel an der Kraftfahreignung begründen, die die Aufklärung rechtfertigen können, ob der Fahrerlaubnisinhaber seinen Drogengebrauch und das Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr ausreichend zu trennen vermag (BVerwG, Urt. v. 5.7.2001, NJW 2002 S. 78, 79) - hier nicht festgestellt.


Allerdings stehen die hier gemachten Ausführungen unter dem Vorbehalt, dass die von dem Bundesverfassungsgericht gebildeten Grundsätze für alle Erscheinungsformen des Besitzes von Cannabis gelten. Dies versteht sich keineswegs von selbst. Diese Frage kann in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes indes nicht geklärt werden. Die daraus resultierende Ungewissheit kann freilich nicht zu Lasten des Antragstellers gehen.

Ein weiterer Vorbehalt hinsichtlich einer unbesehenen Anwendung der Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich daraus, dass das Bundesverfassungsgericht - ebenso wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 5. Juli 2001 - es mit Sachverhalten zu tun hatte, die noch nach altem Recht zu beurteilen waren. Auf den ersten Blick spricht allerdings wenig dafür, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Anwendung der Vorschriften der Fahrerlaubnis-Verordnung nicht eine ähnliche Bedeutung haben sollte wie für die Bestimmung des § 15 b StVZO (so auch Gehrmann, NZV 2002 S. 530). § 14 Abs. 1 Satz 1 FeV, auf den die Antragsgegnerin sich im Beschwerdeverfahren beruft, wohingegen die Anordnung vom 27. April 2002 auf § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV gestützt ist, dürfte nicht einschlägig sein. Demgemäß spricht wenig dafür, dass die Fahrerlaubnisbehörde die im Streit befindliche Anordnung erlassen musste, wie in dem Schriftsatz vom 27. November 2002 geltend gemacht wird. § 14 Abs. 1 Satz 1 FeV setzt voraus, dass Tatsachen die Annahme der in Nr. 1 bis 3 im Einzelnen umschriebenen Sachverhalte begründen. Im Lichte der angeführten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV - die beiden anderen Alternativen kommen ohnehin nicht in Betracht - nicht so ausgelegt werden dürfen, dass bereits der Besitz einer geringen Menge Cannabis eine Tatsache ist, die die Annahme der Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes begründet. Gegen eine solche Auslegung spricht auch die Bestimmung des § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV, die andernfalls bei Cannabis nur für den Besitz größerer Mengen noch Bedeutung hätte (ebenso OVG Münster, Beschl. v. 22.11.2001, DAR 2002 S. 185, 186). Es kann danach auf sich beruhen, ob die nachträgliche Auswechslung der für die Anordnung der Begutachtung gegebenen Begründung im gerichtlichen Verfahren überhaupt ein taugliches Mittel wäre, um einen der Anordnung ursprünglich anhaftenden Fehler zu heilen (vgl. zu dieser Frage VGH Mannheim, Beschl. v. 24.6.2002, VBlBW 2002 S. 441, 442).



Die Vorschrift des § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV , auf die die Anordnung vom 27. April 2002 gestützt ist, eröffnet der Fahrerlaubnisbehörde ein Ermessen. Ein freies Ermessen stünde aber mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang. Zum einen sind nämlich die denkbaren Folgen eines nach § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV eingeleiteten Verfahrens regelmäßig allein schon deswegen bedeutsam, weil unter den heutigen Bedingungen einer Fahrerlaubnis existenzsichernde Bedeutung zukommen kann, zum anderen ist die Befolgung einer Aufforderung, ein Gutachten beizubringen, mit beträchtlichen Belastungen verbunden; über die Kostenfrage hinaus, die von erheblichem Gewicht sein kann, ist auch eine fachärztliche Untersuchung auf Drogenabbaustoffe zumindest mit Unannehmlichkeiten sowie dem Zwang verbunden, persönliche Daten preiszugeben (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.7.2001, NJW 2002 S. 78, 79). Danach spricht viel dafür, dass der bloße Besitz einer geringen Menge Cannabis nicht ausreicht, um von dem Ermessen im Sinne einer Anordnung der Begutachtung Gebrauch zu machen. Das muss zumal dann gelten, wenn wie hier dem Betreffenden zuvor keine Gelegenheit gegeben wurde, sich zu etwaigen Konsumgewohnheiten zu äußern.

Sollte die Antragsgegnerin im Widerspruchsverfahren nach näherer Prüfung feststellen, dass ihre Anordnung vom 27. April 2002 die materiellen und formellen Voraussetzungen nicht erfüllt, bleibt es ihr, falls sie neues den Antragsteller belastendes Material zu Tage fördert, unbenommen, sie durch eine neue Aufforderung mit der Begründung zu ersetzen, dass dieses neue Material begründete(re)n Anlass zur Annahme der Ungeeignetheit biete; das Verfahren kann dann von neuem beginnen, wobei es nach Auffassung des Beschwerdegerichts nicht nötig ist, die Entziehungsverfügung vom 6. Juni 2002 aufzuheben, bevor endgültig fest steht, dass dem Antragsteller die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden darf. Eine unberechtigte Aufforderung zur Gutachtenbeibringung kann jedenfalls nicht dadurch "geheilt" werden, dass die Behörde nachträglich - etwa im Gerichtsverfahren - darlegt, objektiv hätten seinerzeit Umstände vorgelegen, die Anlass zu Zweifeln an der Fahreignung hätten geben können (vgl. zu allem BVerwG, Urt. v. 5.7.2001, NJW 2002 S. 78, 80). ..."

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