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OLG Saarbrücken Urteil vom 19.07.2005 - 4 U 290/04 - Möglicher Fahrstreifenwechsel erschüttert den Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden

OLG Saarbrücken v. 19.07.2005: Ein möglicher Fahrstreifenwechsel erschüttert den Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden


Das Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken (Urteil vom 19.07.2005 - 4 U 290/04) hat zum Anscheinsbeweis bei einem Zusammentreffen von Fahrstreifenwechsel und Auffahrunfall entschieden:
Zwar spricht der Anscheinsbeweis gegen den auffahrenden Hintermann. Jedoch ist der Anscheinsbeweis nicht erst dann erschüttert, wenn ein atypischer Unfallverlauf in einer den Anforderungen des § 286 ZPO entsprechenden Weise feststeht. Vielmehr reicht es zur Widerlegung des dem Anscheinsbeweis zugrunde liegenden Erfahrungssatzes aus, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen die Möglichkeit besteht, dass sich der Unfall durch einen atypischen Verlauf ereignet haben mag.


Siehe auch Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden und Auffahrunfall und Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle


Aus den Entscheidungsgründen:

"... a) Sind an dem die Haftung begründenden Schadensereignis mehrere Kraftfahrzeuge beteiligt, so hängt die Verpflichtung zum Ersatz des dem jeweiligen Fahrzeughalter entstandenen Schadens sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes gem. § 17 Abs. 1 StVG a.F. von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind (vgl. BGH, Urt. v. 27.6.2000 - VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 17 Rdn. 5).

b) Die Berufung rügt mit Recht, dass ein schuldhafter Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) auf der Grundlage des Ergebnisses der Beweisaufnahme nicht bewiesen ist. Insbesondere steht es nicht bereits nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises fest, dass der Beklagte zu 1) entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand unterschritt oder unaufmerksam fuhr.

aa) Zwar spricht der Anscheinsbeweis gegen den auffahrenden Hintermann. Jedoch ist der Anscheinsbeweis nicht erst dann erschüttert, wenn ein atypischer Unfallverlauf in einer den Anforderungen des § 286 ZPO entsprechenden Weise feststeht. Vielmehr reicht es zur Widerlegung des dem Anscheinsbeweis zugrunde liegenden Erfahrungssatzes aus, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen die Möglichkeit besteht, dass sich der Unfall durch einen atypischen Verlauf ereignet haben mag.

Nur dieses Rechtsverständnis entspricht den im Zivilprozessrecht anerkannten Beweisgrundsätzen: Der Anscheinsbeweis erlaubt bei typischen Geschehensabläufen den auf der Lebenserfahrung beruhenden Schluss, dass ein Ereignis auf einer bestimmten Ursache oder einem bestimmten Ablauf beruht (st. Rspr. BGHZ 100, 31, 33; vgl. BGH, Urt. v. 29.6.1982 - VI ZR 206/80, NJW 1982, 2447, 2448; Urt. v. 22.9.1982 - VIII ZR 246/81, VersR 1982, 1145). Die Anknüpfungstatsachen des Erfahrungssatzes müssen entweder unstreitig oder nach Maßgabe des § 286 ZPO bewiesen sein. Allerdings steht der durch den Anscheinsbeweis bewiesene Zusammenhang nicht unverrückbar fest. Vielmehr kann der Gegner die auf dem Erfahrungssatz beruhende Schlussfolgerung bereits dann erschüttern, wenn er die Möglichkeit eines anderen Ablaufs aufzeigt, indem er Tatsachen beweist, die einen abweichenden Geschehensverlauf nicht nur theoretisch denkbar, sondern mit einer empirisch nicht zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit für möglich erscheinen lassen, wozu nicht erforderlich ist, dass diese überwiegt (BGHZ 6, 169, 170; Urt. v. 17.1.1995 - X ZR 82/93, VersR 1995, 723, 724; Urt. v. 3.7.1990 - VI ZR 239/89, NJW 1991, 230, 231; vgl. Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., vor § 284 Rdn. 29; MünchKomm(ZPO)/Prütting, 2. Aufl., § 286 Rdn. 48 ff., 65; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 286 Rdn. 87 ff., 98; Musielak/Foerste, ZPO, 4. Aufl., § 286 Rdn. 23; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 26. Aufl., § 286 Rdn. 13).

Im gleichen Sinne ist die vom Landgericht zitierte Entscheidung des Kammergerichts (MDR 2001, 808) zu verstehen: Auch das Kammergericht geht in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. v. 9.12.1986 - VI ZR 138/85, NJW 1987, 1075, 1077; Urt. v. 18.10.1988 - VI ZR 223/87, MDR 1989, 150; ebenso Hentschel, aaO., § 4 StVO Rdn. 18) davon aus, dass der Anscheinsbeweis entkräftet wird, wenn der Auffahrende die ernsthaft in Betracht kommende Möglichkeit eines atypischen Geschehens behauptet und gegebenenfalls beweist. Als entlastenden Umstand erwähnt das Kammergericht beispielhaft den Fall, dass der Vorausfahrende in engem Zusammenhang mit dem Unfall die Spur gewechselt hat. Soweit das Kammergericht die Auffassung vertritt, dass der von hinten Angefahrene, nicht als „Vorleistung“ beweisen müsse, in den letzten 3, 4, 5 Sekunden in gleicher Spur wie der Auffahrende gewesen und weder nach links noch nach rechts ausgewichen zu sein, will das Kammergericht lediglich die Anforderungen an die Entkräftung des Anscheinsbeweises verdeutlichen: Zeigt das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so kann sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung, mithin mit dem Aufzeigen der theoretischen Möglichkeit eines atypischen Kausalverlaufs entlasten mit der Folge, dass es nunmehr Sache des Angefahrenen wäre, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf i. S. einer beweisrechtlichen „Vorleistung“ auszuschließen. Vielmehr trägt der Auffahrende die Beweislast für diejenigen Umstände, die mit einiger Wahrscheinlichkeit den atypischen Unfallverlauf belegen (vgl. BGH, MDR 1989, 150). ..."



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