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OLG Brandenburg Urteil vom 21.06.2007 - 12 U 2/07 - Zu den Anforderungen bei einem Fahrstreifenwechsel und zur Schreckensreaktion bei überraschendem Spurwechsel

OLG Brandenburg v. 21.06.2007: Zu den Anforderungen bei einem Fahrstreifenwechsel und zur Schreckensreaktion bei überraschendem Spurwechsel


Das OLG Brandenburg (Urt. v. 21.06.2007 - 12 U 2/07) hat entschieden:
  1. Bei einem Unfall im örtlichen und zeitlichen unmittelbaren Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel spricht bereits ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Fahrstreifenwechslers.

  2. Die Einhaltung der äußersten Sorgfalt nach § 7 Abs. 5 StVO setzt voraus, dass der Kraftfahrer vor dem Fahrstreifenwechsel nach links in den Innen- und Außenspiegel blickt, sich nach links umsieht und rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt.

  3. Dass ein von einem Fahrstreifenwechsel überraschter Kfz-Führer sein Fahrzeug nicht abbremst, sondern in einer Schreckreaktion nach rechts ausgeweicht und dabei die Kontrolle über das Fahrzeug verliert, kann ihm im Rahmen der Haftungsabwägung nicht zum Nachteil gereichen.

Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht gem. den §§ 517 ff ZPO eingelegte Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Der Klägerin steht über den vom Landgericht zuerkannten Umfang hinaus kein weiterer Anspruch gegen die Beklagten auf Ersatz ihres vollständigen, infolge des Verkehrsunfalls vom 02.03.2002 entstandenen Schadens aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG zu. Auf den zu Grunde liegenden Sachverhalt ist die bis zum 31.07.2002 geltende Rechtslage anzuwenden, da sich der streitgegenständliche Verkehrsunfall bereits am 02.03.2002 ereignet hat (Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB).

Das Landgericht ist bei der nach § 17 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung zutreffend von einer Mithaftung der Klägerin von jedenfalls 50 % ausgegangen. Die Klägerin hat nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme nicht den ihr obliegenden Beweis erbracht, dass der Verkehrsunfall für den Zeugen P. als Fahrer des klägerischen Busses unabwendbar i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG a. F. gewesen ist. Vielmehr ist von einem zumindest fahrlässigen Verstoß des Zeugen P. gegen § 7 Abs. 5 StVO auszugehen.

Bei einem Unfall im örtlichen und zeitlichen unmittelbaren Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel spricht bereits ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Fahrstreifenwechslers (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 4 StVO, Rn. 18 m.w.N.). Ein solcher zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem Fahrstreifenwechsel des Zeugen P. und dem Unfall ist im Streitfall gegeben. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. S. war das Fahrzeug des Beklagten zu 1. zum Zeitpunkt des Beginns des Fahrstreifenwechsels etwa 115 - 120 m von dem Bus entfernt (vgl. Bl. 224 GA). Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Fahrzeug des Beklagten zu 1. auf der Überholspur neben dem Fahrzeug des Zeugen W. Als der Beklagte zu 1. bei der von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellten Geschwindigkeit von 170 km/h den klägerischen Bus bemerkte, hatte er sich nach den Feststellungen des Sachverständigen auf etwa 30 - 35 m an den Bus angenähert. Aufgrund dessen wurde der Beklagte zu 1. zu einer Gefahrenbremsung und zum Ausweichen auf die rechte Fahrspur gezwungen, wo er ins Schleudern geraten und gegen die auf den Standstreifen befindlichen Fahrzeuge und gegen den Bus der Klägerin geprallt ist. Der unmittelbare örtliche und zeitliche Zusammenhang ergibt sich darüber hinaus auch aus den Bekundungen der Zeugen W. und M. Der Zeuge M. hat bekundet, er habe sich ca. 200 - 300 m hinter dem Beklagten zu 1. befunden. Nachdem er von dem Beklagten zu 1. überholt worden sei, sei er gleich wieder nach links ausgeschert, als der klägerische Bus einmal geblinkt und sofort nach links rübergezogen sei. Er habe zu seiner Frau gesagt “jetzt knallts” (vgl. Bl. 115 GA). Der Zeuge W., der mit seinem Fahrzeug hinter dem Bus der Klägerin auf der rechten Fahrspur fuhr, hat bekundet, dass zu dem Zeitpunkt, als er von dem Beklagten zu 1. überholt worden ist, der Bus noch mit dem Fahrstreifenwechsel beschäftigt gewesen sei (Bl. 117 GA). Beide Zeugen haben damit übereinstimmend bekundet, dass der Fahrstreifenwechsel jedenfalls Anlass für das Ausweichmanöver des Beklagten zu 1. gewesen ist.

Den für ein Verschulden des Zeugen P. sprechenden Anscheinsbeweis hat die Klägerin nicht entkräften können. Soweit der Sachverständige Dr. S. in seinem Ergänzungsgutachten vom 15.08.2006 ausgeführt hat, das Fahrzeug des Beklagten zu 1. müsse für den Zeugen P. bei einem Blick in den Rückspiegel noch nicht erkennbar gewesen sein (vgl. Bl. 225 GA), steht dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gerade nicht fest, da der Sachverständige insoweit nur von einer Möglichkeit spricht. Die danach verbleibenden Zweifel, ob der Zeuge P. das Fahrzeug des Beklagten zu 1. zu Beginn des Fahrstreifenwechsels tatsächlich nicht im Rückspiegel hat sehen können, gehen zu Lasten der Klägerin, da sie in diesem Zusammenhang sowohl den gegen sie sprechenden Anschein zu entkräften hat, als auch den Nachweis der Unabwendbarkeit i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG a. F. führen muss. Darüber hinaus ergibt sich aus den Äußerungen des Zeugen P. selbst, dass dieser den strengen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO nicht gerecht worden ist. Die Einhaltung der äußersten Sorgfalt nach § 7 Abs. 5 StVO setzt voraus, dass der Kraftfahrer vor dem Fahrstreifenwechsel nach links in den Innen- und Außenspiegel blickt, sich nach links umsieht und rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt (vgl. Hentschel a.a.O., § 7 StVO, Rn. 17). Aus den Bekundungen des Zeugen P. ergibt sich jedoch nicht, dass der Zeuge vor dem Fahrstreifenwechsel ausreichend Rückschau nach hinten gehalten hat. So hat er unmittelbar nach dem Unfall gegenüber den den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten erklärt, er habe rechtzeitig geblinkt und sei mit dem Bus nach links herübergefahren (vgl. Bl. 9 BA). In seiner Vernehmung vor dem Landgericht hat er angegeben, er habe in den Spiegel geschaut, geblinkt und sei dann auf die Überholspur gefahren. Als er dann noch mal in den Spiegel geschaut habe, habe er den BMW hinter sich bemerkt (Bl. 114 GA). Da nicht feststeht, dass das Fahrzeug des Beklagten zu 1. zu dem Zeitpunkt, als der Zeuge P. Rückschau gehalten hat, noch nicht erkennbar war, hätte der Zeuge daher bei Anwendung der erforderlichen äußersten Sorgfalt das Fahrzeug des Beklagten zu 1. bemerken müssen, bevor er den Bus nach links herüberzog. Ein Verstoß des Zeugen P. gegen § 7 Abs. 5 StVO ergibt sich darüber hinaus auch aus den Bekundungen des Zeugen M., der glaubhaft bekundet hat, der Bus habe nur einmal geblinkt und sei dann sofort nach links herübergezogen. Der BMW-Fahrer habe keine Chance gehabt (vgl. Bl. 115 GA). Eine Gefährdung des Beklagten zu 1. als nachfolgenden Verkehrsteilnehmer durch das Fahrmanöver des Zeugen P. kann danach gerade nicht ausgeschlossen werden.

Die somit nach § 17 StVG vorzunehmende Abwägung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge führt jedenfalls nicht zu einer überwiegenden Haftung der Beklagten. Zwar muss sich auch der Beklagte zu 1. eine Mitverursachung an dem Unfall anrechnen lassen, da er - wie jedenfalls im Berufungsverfahren außer Streit steht - das Verkehrsgeschehen für jedenfalls 3 Sekunden nicht ausreichend sorgfältig beobachtet hat, dadurch verzögert auf den Fahrstreifenwechsel des Zeugen P. reagiert und zudem die Autobahnrichtgeschwindigkeit um ca. 40 km/h überschritten hat. Dies führt jedoch im Rahmen der Abwägung nicht zu einer überwiegenden oder gar alleinigen Haftung der Beklagten. Der feststehende Verstoß des Zeugen P. gegen § 7 Abs. 5 StVO ist demgegenüber zumindest gleichrangig zu gewichten. Dass der Beklagte zu 1. sein Fahrzeug nicht abgebremst hat, obwohl ihm dies nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. S. noch gefahrlos möglich gewesen wäre, sondern offenbar in einer Schreckreaktion nach rechts ausgewichen ist und dabei die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hat, kann ihm im Rahmen der Abwägung nicht zum Nachteil gereichen. Andererseits ist bei der Abwägung zu Lasten der Klägerin die gegenüber dem Fahrzeug des Beklagten zu 1. erhöhte Betriebsgefahr des klägerischen Busses zu berücksichtigen. Nach alledem kommt eine Abänderung der vom Landgericht zuerkannten Quote zu Gunsten der Klägerin nicht in Betracht. ..."



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