Das Verkehrslexikon

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Grundsätzlich spricht der Anscheinsbeweis beim Abkommen von der Fahrbahn für ein Verschulden des Fahrzeugführers

Grundsätzlich spricht der Anscheinsbeweis beim Abkommen von der Fahrbahn für ein Verschulden des Fahrzeugführers


Gegen den Führer eines aus ungeklärter Ursache von der Fahrbahn abkommenden Fahrzeugs spricht der Beweis des ersten Anscheins (BGH VersR 67, 709 = VRS 33, 172; KG DAR 75, 331; OLG Celle NZV 90, 432; OLG Köln VR 90, 390), und zwar erstreckt sich der Anscheinsbeweis hier auch auf die Annahme eines schuldhaften Verhaltens, so dass hier keineswegs lediglich eine Haftung aus der Betriebsgefahr in Betracht kommt (OLG Hamm VRS 57, 86; OLG Köln VR 90, 390; OLG Frankfurt VR 87, 927).

Auch das OLG Karlsruhe NZV 1994, 229 f. = VersR 1994, 698 f. (Urt. v. 16.12.1992 - 1 U 140/92) hat ausgeführt:
"Kommt ein Kfz. von der Fahrbahn ab und verursacht es hierbei einen Unfall, ohne dass weitere Feststellungen zum Unfallhergang getroffen werden können, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Fahrers."


Das OLG Stuttgart NZV 2005, 319 (Urteil vom 14.10.2004 - 7 U 96/04) hat hierzu ebenfalls entschieden:
"Der Beweis des ersten Anscheins spricht für ein Verschulden desjenigen, der von einer geraden Fahrbahn abkommt. Der Anscheinsbeweis kann nur durch bewiesene Tatsachen entkräftet werden, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs ergibt. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten, wonach ein plötzlicher Druckverlust des rechten vorderen Reifens zum Abkommen von der Fahrbahn geführt habe, bleibt spekulativ. Zwar ist in der polizeilichen Unfallaufnahme festgehalten, dass der vordere rechte Reifen luftleer und vom Felgenhorn abgelöst war. Da dies jedoch auch auf den Aufprall des Fahrzeugs auf die in das Erdreich eingelassene Stahlschutzplanke am rechten Fahrbahnrand mit dem rechten Vorderrad zurückzuführen sein kann, fehlt es an ausreichenden Anknüpfungstatsachen für ein Sachverständigengutachten."
Andererseits hat der BGH (Urteil vom 19.03.1996 - VI ZR 380/94) dies bei besonderen tatsächlichen Umständen relativiert:
"Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (vgl. Senatsurteile vom 24. März 1959 - VI ZR 82/58 - VersR 1959, 518, 519 und vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84 - VersR 1986, 343, 344; zur erforderlichen Typizität auch Senatsurteil vom 3. Juli 1990 - VI ZR 239/89 - VersR 1991, 195).

a) Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass es in diesem Sinne der allgemeinen Lebenserfahrung entspricht, dass einem Kraftfahrer, der mit dem von ihm geführten Kraftfahrzeug von einer geraden und übersichtlichen Fahrbahn abkommt, ein bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt vermeidbarer Fahrfehler zur Last fällt (vgl. z. B. Senatsurteil vom 19. September 1989 - VI ZR 349/88 - VersR 1989, 1197, 1198). Indessen reicht allein das "Kerngeschehen" des Abkommens von der Fahrbahn als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, der im Rahmen des Unfallereignisses seine Fahrbahn verlassen hat, schuldhaft gehandelt hat (vgl. im einzelnen Senatsurteil vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84 - aaO). Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann also stets nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben. Der Typizität kann gegebenenfalls auch bereits das Vorbringen desjenigen entgegenstehen, der sich auf den Anscheinsbeweis berufen will.

b) Im vorliegenden Fall zeigt die hiernach gebotene Gesamtbetrachtung aller bekannten Sachverhaltsumstände, dass gerade nicht der typische Fall des nach allgemeiner Lebenserfahrung schuldhaften Abkommens eines Kraftfahrzeugs von gerader und übersichtlicher Fahrbahn vorliegt. Den Feststellungen des Berufungsgerichts ist zu entnehmen, dass das Abkommen des Beklagten zu 1) von der Fahrbahn im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Überholvorgang stand, bei welchem das Fahrzeug des Beklagten zu 1) durch einen anderen Pkw, und zwar bei Gegenverkehr, überholt worden ist. Das Berufungsgericht geht selbst davon aus, dass der Überholvorgang aufgrund des entgegenkommenden Verkehrs nur knapp zu Ende geführt werden konnte. Auch wenn offen bleibt, ob der überholende Pkw den Beklagten zu 1) nach rechts von der Fahrbahn abgedrängt hat, reichen die feststehenden Sachverhaltselemente bereits aus, um dem Geschehensablauf die als Grundlage des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität zu nehmen.

Denn es geht nun nicht mehr um ein schlichtes Abkommen eines Kraftfahrzeugs von einer geraden und übersichtlichen Strecke, das nach allgemeiner Lebenserfahrung auf einen Fahrfehler des betreffenden Kraftfahrers schließen lässt. Vielmehr handelt es sich darum, dass der Beklagte zu 1) im Rahmen eines komplexen, von vornherein gefahrträchtigen Verkehrsgeschehens, an dem mehrere Kraftfahrzeuge beteiligt waren, von der Fahrbahn abgeraten ist, so dass allein die allgemeine Lebenserfahrung keinen hinreichenden Schluss darauf zulässt, dass dies auf einem vorwerfbaren Sorgfaltsverstoß des Beklagten zu 1) beruht. Einen den Anscheinsbeweis begründenden Erfahrungssatz dahin, dass in einer derartigen Verkehrssituation das Unfallgeschehen typischerweise auf eine Fehlreaktion eines Fahrers mit wenig Verkehrspraxis zurückzuführen ist, vermag der Senat nicht zu erkennen. Unter diesen Umständen kann auf ein Verschulden des Beklagten zu 1) von vornherein nicht nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins geschlossen werden."



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