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BGH Urteil vom 16.11.1999 - VI ZR 257/98 - Zur Ersatzpflicht für psychische Unfallfolgen

BGH v. 16.11.1999: Zur Ersatzpflicht für psychische Unfallfolgen


Der BGH (Urteil vom 16.11.1999 - VI ZR 257/98) hat zur Ersatzpflicht für psychische Unfallfolgen geurteilt:
Die Ersatzpflicht des für einen Körper- oder Gesundheitsschaden einstandspflichtigen Schädigers erstreckt sich grundsätzlich auch auf psychisch bedingte Folgewirkungen des von ihm herbeigeführten haftungsbegründenden Ereignisses (st Rspr; zuletzt BGH, 11. November 1997, VI ZR 146/96, VersR 1998, 200, 201 und BGH, 11. November 1997, VI ZR 376/96, VersR 1998, 201, 202f).


Siehe auch Halswirbelschleudertrauma - Lendenwirbelschleudertrauma - unfallbedingte Wirbelsäulenverletzungen


Zum Sachverhalt: Die Klägerin verlangt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 9. September 1992, bei dem sie u.a. ein HWS-Schleudertrauma mit Rückenmarkskompression sowie Prellungen an Kopf und Schulter erlitt. Die Beklagte muss als Haftpflichtversicherer ihres an dem Unfall beteiligten Versicherungsnehmers für die Schäden der Klägerin in vollem Umfang einstehen.

Die Klägerin hat behauptet, der Unfall habe bei ihr zu gesundheitlichen Dauerschäden geführt. Sie hat materielle Schäden von 71.996,94 DM errechnet und ein Schmerzensgeld von 50.000 DM für angemessen gehalten. Unter Abzug bereits erbrachter Leistungen der Beklagten hat die Klägerin die Zahlung von 102.316,94 DM nebst Zinsen verlangt und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden begehrt.

Das Landgericht hat ein Teilanerkenntnisurteil über den Feststellungsanspruch erlassen und der Klägerin durch Schlussurteil unter Abweisung der Klage im übrigen noch 914,60 DM nebst Zinsen zugesprochen. Das Oberlandesgericht hat der Klägerin, die ihr Klagebegehren im Berufungsrechtszug in Höhe von 63.785,37 DM mit Zinsen aufrechterhalten hat, weitere 1.800 DM, also insgesamt 2.714,60 DM nebst Zinsen zuerkannt und die weitergehende Klage abgewiesen.

Die Revision der Klägerin führte zur teilweisen Aufhebung des Berufungsurteils.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Das Berufungsurteil hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Keinen Erfolg hat die Revision allerdings mit ihrer Verfahrensrüge, das Berufungsgericht habe noch ein fachorthopädisches Sachverständigengutachten einholen müssen. ...

2. Mit Recht rügt die Revision jedoch, dass das Berufungsgericht zur Frage der Ursächlichkeit des Verkehrsunfalls für die von der Klägerin behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht das von ihr beantragte psychiatrische Sachverständigengutachten eingeholt hat.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats erstreckt sich die Ersatzpflicht des für einen Körper- oder Gesundheitsschaden einstandspflichtigen Schädigers grundsätzlich auch auf psychisch bedingte Folgewirkungen des von ihm herbeigeführten haftungsbegründenden Ereignisses (siehe BGHZ 132, 341, 343 ff.; Senatsurteile vom 25. Februar 1997 - VI ZR 101/96 - VersR 1997, 752, 753 sowie jeweils vom 11. November 1997 - VI ZR 146/96 - VersR 1998, 200, 201 und VI ZR 376/96 - VersR 1998, 201, 202 f.).

Die Klägerin hat hier stets auch eine psychische Beeinträchtigung durch den Verkehrsunfall geltend gemacht. Eine solche behauptete Unfallfolge hat zudem in den von der Klägerin eingereichten Unterlagen ihren Niederschlag gefunden. So spricht auch das Berufungsgericht bei der Wiedergabe des Inhalts dieser Unterlagen an mehreren Stellen seines Urteils von einer psychosomatischen Ursache oder Störung, einer psychogenen Ausgestaltung, einer psychosomatischen Fehlverarbeitung, einer auf das Unfallgeschehen zurückzuführenden psychoreaktiven depressiven Verstimmung und einer traumatisch bedingten psychischen Störung bei der Klägerin. Wie das Berufungsgericht dazu u.a. ausführt, heißt es in einem für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstatteten Gutachten eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, dass sich bei der Klägerin eine neurologisch nicht eindeutig fassbare Koordinationsschwäche entwickelt habe, welche den Eindruck einer psychogenen Ausgestaltung vermittle.

b) Auf dieser Grundlage hätte das Berufungsgericht dem Antrag der Klägerin auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zum Nachweis der Ursächlichkeit des Unfalls für die geltend gemachten psychischen Beschwerden nachkommen müssen. Denn eine etwa zu abweichender Betrachtung Anlass gebende besondere Fallgestaltung dahin, dass trotz unfallbedingten Eintritts der von der Klägerin behaupteten Beeinträchtigungen diese von der Beklagten ausnahmsweise nicht auszugleichen wären, liegt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht vor.

aa) Nach Art und Umfang der Primärverletzungen der Klägerin handelt es sich hier nicht um einen Bagatellfall im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung des Senats, bei dem ausnahmsweise keine Ersatzpflicht des Schädigers begründet wäre (siehe insbesondere BGHZ 132, 341, 346, 349 und Senatsurteil vom 11. November 1997 - VI ZR 376/96 - VersR 1998, 201, 202). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass das Berufungsgericht eine HWS-Schleuderverletzung mit dem bei der Klägerin für erwiesen erachteten Schweregrad III als leichtesten Fall einstuft. Zum einen kommt es bei der Frage nach einem Bagatellfall allein auf die konkret eingetretenen Primärverletzungen und nicht auf die bestimmte Stufe einer abstrakten Schweregradskala an; zum anderen wird das vom Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte Verständnis des Schweregrades III dieser Skala von der Revision unter Bezugnahme auf medizinische Literatur, nach welcher der Grad III eine schwere Verletzung bezeichnet, mit erheblichen Gründen angegriffen.

bb) Auch eine reine Begehrensneurose der Klägerin, die nach der Rechtsprechung des Senats ebenfalls keine Schadensersatzpflicht auslösen würde (vgl. die vorstehend unter 2 a zitierten Senatsurteile), ist vom Berufungsgericht nicht festgestellt worden. Der im Berufungsurteil insoweit angesprochene bloße Verdacht einer derartigen Neurose reicht dazu nicht aus, zumal das Berufungsgericht im weiteren selbst ausführt, dass eine klare Abgrenzung zwischen psychosomatischen Beschwerden und einer von der Klägerin zweckbestimmt angegebenen Krankheitssymptomatik nicht möglich sei.

3. Das Berufungsurteil stellt sich schließlich auch nicht im Sinne von § 563 ZPO aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar. So kann angesichts der vom Berufungsgericht nicht rechtsfehlerfrei verneinten ersten Stufe der haftungsausfüllenden Kausalität, nämlich der Ursächlichkeit der Unfallverletzungen für die von der Klägerin geltend gemachte psychosomatische Fehlverarbeitung, nach den bisherigen Feststellungen auch nicht etwa die zweite Stufe der haftungsausfüllenden Kausalität, also die Ursächlichkeit einer solchen Fehlverarbeitung für die eingeklagten Schadenspositionen verneint werden. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil das Berufungsgericht mehrere auf den schlechten Gesundheitszustand der Klägerin gegründete Klagepositionen nur deshalb nicht unter die Ersatzpflicht der Beklagten fallen lässt, weil ihm die vom Chirurgen auf dauerhaft nur 10% bemessene körperliche Beeinträchtigung der Klägerin dazu nicht ausreicht. Kommt nämlich zu dieser körperlichen Beeinträchtigung noch eine psychosomatische Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens mit darauf beruhenden schädlichen Auswirkungen hinzu, so kann sich insgesamt eine andere Beurteilung des Schadensumfangs ergeben.

Der Senat hält es angesichts der Gesamtumstände des Streitfalles auch nicht für angezeigt, bereits jetzt über die nicht auf den schlechten Gesundheitszustand der Klägerin gegründeten materiellen Schadenspositionen abschließend zu befinden. Da die Revision auch insoweit das Übergehen von Sachvortrag und Beweisanträgen rügt, erscheint es angebracht, dass das Berufungsgericht das abgewiesene Klagebegehren auch in dieser Hinsicht neu prüft.

...

Das Berufungsurteil ist deshalb im Umfang des Revisionsantrags aufzuheben und die Sache insoweit gemäß § 565 Abs. 1 ZPO zur weiteren Sachaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. ..."



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