Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Urteil vom 19.09.2005 - 12 U 288/01 - Keine generelle Harmlosigkeitsgrenze für die Verursachung eines Schleudertraumas

KG Berlin v. 19.09.2005: Keine generelle Harmlosigkeitsgrenze für die Verursachung eines Schleudertraumas


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 19.09.2005 - 12 U 288/01) hat entschieden:
Eine generelle Harmlosigkeitsgrenze ist abzulehnen. Bei einer Geschwindigkeitsänderung von unter 15 km/h spricht jedoch kein Anscheinsbeweis für die Verursachung eines HWS-Schleudertraumas; es ist vielmehr voller Beweis nach § 286 ZPO zu fordern.


Siehe auch Halswirbelschleudertrauma - Lendenwirbelschleudertrauma - unfallbedingte Wirbelsäulenverletzungen


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Der BGH hat in seinem erst nach Erlass des angefochtenen Urteils ergangenen Urteil vom 28.1.2003 (BGH, Urt. v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, MDR 2003, 566 = BGHReport 2003, 487) die Annahme einer sog. „Harmlosigkeitsgrenze” d.h. einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, bei deren Vorliegen eine Verletzung der HWS generell auszuschließen sei, abgelehnt (BGH v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, MDR 2003, 566 = BGHReport 2003, 487 = NJW 2003, 1116 f. = VersR 2003, 474; mit zustimmender Anm. Jaeger, VersR 2003, 476).

2. ... a) Für die Frage, ob die Klägerin bei dem streitgegenständlichen Unfall die von ihr geklagten Verletzungen erlitten hat, gilt das Beweismaß des § 286 ZPO, denn es ist zwischen den Parteien streitig, ob die Klägerin bei dem Unfall überhaupt verletzt wurde (vgl. BGH v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, MDR 2003, 566 = BGHReport 2003, 487 = NJW 2003, 1116 = VersR 2003, 474; KG v. 21.10.1999 – 12 U 8303/95, KGReport Berlin 2000, 81 = NJW 2000, 877 [878] m.w.N., st. Rspr.). Auch der BGH (BGH v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, MDR 2003, 566 = BGHReport 2003, 487 = NJW 2003, 1116 = VersR 2003, 474 [475]) geht davon aus, dass für die Feststellung, ob der Anspruchsteller bei dem Unfall eine HWS-Distorsion erlitten hat, der Maßstab des § 286 ZPO gilt.

b) Ein Anscheinsbeweis für das Vorliegen einer unfallbedingten Verletzung der HWS greift zu Gunsten der Klägerin nicht ein. Dieser könnte nur dann angenommen werden, wenn bei einem Heckaufprall eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von über 15 km/h bewiesen wäre (KG v. 21.10.1999 – 12 U 8303/95, KGReport Berlin 2000, 81 = NJW 2000, 877; Revision nicht angenommen: BGH, Beschl. v. 23.5.2000 – VI ZR 378/99; vgl. auch KG NZV 2003, 281, st. Rspr.). Ein Heckaufprall liegt aber nicht vor. Auch hat die Klägerin auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen vom 21. November 2003, dem der Senat folgt, weil es ersichtlich fachgerecht erstellt und in seinem Gedankengang nachvollziehbar schlüssig ist, sowie der ergänzenden Ausführungen diese Sachverständigen lediglich eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 6 km/h bewiesen, wobei das Fahrzeug der Klägerin überwiegend nach rechts gestoßen (Geschwindigkeitsänderung: 5 km/h) und mit einer kleineren Komponente entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung abgebremst worden ist (Geschwindigkeitsänderung: 2 km/h). Möglich ist nach den Ausführungen des Sachverständigen eine maximale kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 9 km/h, die bloße Möglichkeit reicht aber für einen Beweis einer solchen Geschwindigkeitsänderung nicht aus. Soweit die Klägerin – gestützt auf das von ihr vorgelegte Gutachten des Dipl- Ing. – eine Geschwindigkeitsänderung in Querrichtung von 10 bis 13 km/h behauptet, beruht dies, wie der Sachverständige auf Seite 19 seines Gutachtens vom 21. November 2003 überzeugend ausführt, auf falschen Voraussetzungen. Tatsächlich bewiesen ist, wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen auf Seite 4 seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23. Dezember 2004 ergibt, eine Geschwindigkeitsänderung in Querrichtung von lediglich 5 km/h. In Bezug auf die Kollisionsdauer hat die Klägerin lediglich einen Delta t-Wert von 0,15 s bewiesen, da der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme für diesen Wert eine Spanne von 0,06 bis 0,15 s angibt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten und in seinen ergänzenden Stellungnahmen den Akteninhalt vollständig gewürdigt und sich mit den Einwendungen der Klägerin umfassend und für den Senat überzeugend auseinandergesetzt.

c) Durch das medizinische Gutachten des Sachverständigen für Fachorthopädie Prof. Dr. vom 8. Juli 2004 dem der Senat folgt, weil es ersichtlich fachgerecht erstellt und in seinem Gedankengang nachvollziehbar schlüssig ist, hat die Klägerin einen Ursachenzusammenhang zwischen den von ihr geklagten Gesundheitsbeeinträchtigungen und dem streitgegenständlichen Unfall vom 24. Oktober 1995 nicht bewiesen. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten sowie in seiner ergänzenden Stellungnahme überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 6 km/h und einem Delta t-Wert von 0,15 s könne weder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bejaht werden, dass die Klägerin durch den streitgegenständlichen Verkehrsunfall ein HWS-Schleudertrauma erlitten habe. Er hat auch ausgeführt, dass diese Aussage auch zutrifft, wenn man zu Gunsten der Klägerin von einem Delta t-Wert von 0,10 s ausgeht. Der Sachverständige Prof. hat in seinem Gutachten und in seiner ergänzenden Stellungnahme den Akteninhalt vollständig und erschöpfend gewürdigt. Er hat die Klägerin vor Gutachtenerstellung eingehend untersucht. Er hat sich an die Vorgaben des Gerichts gehalten und sich mit den Einwendungen der Klägerin für das Gericht überzeugend auseinandergesetzt. ..."



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