Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

OLG Köln Beschluss vom 07.09.2004 - 8 Ss-OWi 12/04 - Zur Schätzung durch Polizeibeamten bei einem qualifizierten Rotlichtverstoß

OLG Köln v. 07.09.2004: Zur Schätzung durch Polizeibeamten bei einem qualifizierten Rotlichtverstoß


Das OLG Köln (Beschluss vom 07.09.2004 - 8 Ss-OWi 12/04) hat die freie Schätzung der Rotlichtdauer durch einen Polizeibeamten als Beweis für eine sog. qualifizierten Rotlichtverstoß nicht als ausreichend angesehen:

Die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes allein aufgrund freier (gefühlsmäßiger) Sekundenschätzung eines Polizeibeamten ist rechtsfehlerhaft.


Siehe auch Stichwörter zum Thema Rotlichtverstöße


Sachverhalt: Das AG hat den Betr. „wegen einer fahrlässigen OWi gem. §§ 37, 49 StVO” mit einer Geldbuße von 150 Euro belegt und ihm ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats auferlegt. Das AG hat zum Tatgeschehen folgende Feststellungen getroffen: „Am 5. 4. 2003 gegen 4.24 Uhr befuhr der Betr. mit einem Pkw Taxi in Köln die Straße D. in Fahrtrichtung Hauptbahnhof. Vor dem neu gebauten Kreisel in Höhe der ehemaligen Hauptpost befindet sich eine Fußgängerampel, die deutlich sichtbar am rechten Fahrbahnrand zusätzlich mit einer Peitschenampel aufgestellt ist. Obwohl diese Fußgängerampel bereits mindestens drei Sekunden auf Rot umgesprungen war, verlangsamte der Betr. seine Geschwindigkeit nicht und fuhr über die weiterhin Rotlicht zeigende Ampel weiter bis zum Kreisel, wo er von Polizeibeamten, die dies beobachtet hatten, gestellt wurde.”

Das AG hat die bestreitende Einlassung des P. für widerlegt gehalten. Dazu heißt es im Urteil:
„Der Zeuge konnte sich als Polizeibeamter bei seiner Vernehmung an den fraglichen Vorfall noch genau erinnern. Er hat etwa einhundert Meter vor dem Polizeifahrzeug sei der Betr. mit seinem Taxi in derselben Richtung gefahren. Bei der Annäherung an die Fußgängerampel in Höhe der ehemaligen Hauptpost habe er, der Zeuge P., bereits von weitem gesehen, dass diese Ampel auf Rot gestanden habe. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Betr. noch eine längere Strecke vor der fraglichen Ampel befunden und trotz des Rotlichtes seine gefahrene Geschwindigkeit von etwa 50 km/h nicht verlangsamt. Er habe dann bewusst die Zeit abgeschätzt und bei der Nachfahrt festgestellt, dass es noch mindestens drei Sekunden gedauert habe, bis der Betr. die immer noch auf Rot stehende Ampel passiert habe... Diese Beobachtungen des Zeugen P. sind zur Feststellung eines längeren, qualifizierten Rotlichtverstoßes ausreichend. Bei der langen Rotlichtzeit ist auch keine Feststellung dazu nötig, wo sich der Pkw des Betr. im Verhältnis zur Haltelinie der Ampel befand, als diese von Gelb auf Rot umsprang."
Die Rechtsbeschwerde des Betr. mit der Sachrüge führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das AG.


Aus den Entscheidungsgründen:

"Die Beweiswürdigung des Tatrichters trägt die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes (§ 37 Abs. 2 StPO i.V.m. Nr. 132.2 BKat) nicht.

Der Tatrichter muss für das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbar darlegen, dass seine Überzeugung auf tragfähigen tatrichterlichen Erwägungen beruht (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat VRS 106, 214 m. N.). Schlussfolgerungen dürfen sich nicht so sehr von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass sie letztlich nicht mehr als einen schweren Verdacht begründen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat a.a.O.).

Wegen der erheblichen Auswirkungen im Rechtsfolgenausspruch muss insbesondere auch die Feststellung, dass das Rotlicht — im maßgebenden Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie (dazu unten) — länger als eine Sekunde andauerte, vom Tatrichter nachvollziehbar aus der Beweiswürdigung hergeleitet werden (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat a.a.O.).

Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil nicht. Der Tatrichter hat seine Überzeugung vom Vorliegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes allein auf die Schätzung des Polizeibeamten P. gestützt, die LZA habe bereits mehr. als drei Sekunden Rotlicht gezeigt, als der Betr. diese passiert habe. Zeitschätzungen sind jedoch wegen der Ungenauigkeit des menschlichen Zeitgefühls i.d.R. mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet (OLG Hamm, (Beschluss vom 16. 1. 1997 — 3 Ss OWi 1540/96; vgl. BayObLG VRS 103, 449 = NZV 2002, 518 = NStZ RR 2002, 345; OLG Düsseldorf, DAR 2003, 85; Senat VRS 100, 140). Infolgedessen bedarf es in einem solchen Fall einer Darlegung tatsächlicher Anhaltspunkte, die eine Überprüfung der Schätzung auf ihre Zulässigkeit zulassen, z. B. der Zählweise beim Mitzählen (vgl. dazu Senat VRS 106, 214), der Geschwindigkeit des Betr. und seine Entfernung von der Ampelanlage bei Lichtwechsel auf Rot oder zumindest der Beschreibung eines während der Rotlichtdauer abgelaufenen, zeitlich eingrenzbaren Vorgangs, an dem sich der Zeuge bei seiner Schätzung orientiert hat (Senat VRS 100, 140 m.N.).

Freie Schätzungen aufgrund bloß gefühlsmäßiger Erfassung der verstrichenen Zeit sind zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich ungeeignet (BayObLG a.a.O.; vgl. Senat VRS 100, 140).

Die Ausführungen im angefochtenen Urteil lassen befürchten, dass sich der Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung auf eine bloß freie Schätzung des Polizeibeamten verlassen hat. Dass dessen Schätzung auf nachvollziehbaren Grundlagen beruht, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.

Darüber hinaus ergibt sich die Ungeeignetheit der Schätzung des Polizeibeamten für die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes auch daraus, dass der Zeuge ersichtlich darauf abgestellt hat, wann der Betr. die Ampel passiert hat. Ist - wie nach den Urteilsgründen hier - eine Haltelinie vorhanden, dann ist für die Bemessung der Rotlichtdauer grundsätzlich der Zeitpunkt maßgebend, in dem das Fahrzeug des Betr. die Haltelinie überfährt (Senat VRS 100, 140 m.N.).

Wenngleich aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen davon ausgegangen werden könnte, dass der Betr. jedenfalls gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO verstoßen hat, muss das Urteil insgesamt aufgehoben werden, da die Frage, ob es sich um einen qualifizierten oder nur um einen einfachen Rotlichtverstoß handelt, den Schuldumfang betrifft und die hierzu zu treffenden Feststellungen untrennbar mit den Schuldfeststellungen verknüpft sind (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat VRS 106, 214)."