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BGH Urteil vom 15.09.2010 - IV ZR 107/09 - Zum Recht des Versicherten auf einen eigenen Anwalt bei Vorwurf der Unfallmanipulation

BGH v. 15.09.2010: Zum Recht des Versicherten auf einen eigenen Anwalt bei Vorwurf der Unfallmanipulation


Der BGH (Urteil vom 15.09.2010 - IV ZR 107/09) hat entschieden:
Hat der Kfz-Haftpflichtversicherer im Verkehrsunfallprozess gegen den mitversicherten und mitverklagten Fahrer den Vorwurf eines versuchten Versicherungsbetrugs (Unfallmanipulation) erhoben, so muss er den Fahrer im Rahmen seiner Rechtsschutzverpflichtung von den Kosten für die Vertretung durch einen eigenen Rechtsanwalt freihalten, obwohl er ihm als Streithelfer beigetreten ist und sein Prozessbevollmächtigter auf diesem Wege für beide Klageabweisung beantragt hat.


Siehe auch Die Beauftragung eines eigenen Rechtsanwalts neben dem der Versicherung im Prozess des Unfallgegners gegen Haftpflichtversicherung und Versicherungsnehmer und Unfallmanipulationen (Unfallbetrug - Berliner Modell)


Tatbestand:

Der Kläger, am 8. Dezember 2005 Fahrer eines bei der Beklagten haftpflichtversicherten PKW, fordert als Versicherungsleistung die Erstattung der Kosten für einen von ihm im Haftpflichtprozess beauftragten Rechtsanwalt.

Gegen 23.30 Uhr des genannten Tages fuhr der Kläger mit dem versicherten Fahrzeug in B. auf ein anderes Fahrzeug auf, welches dabei einen Totalschaden erlitt.

Dessen Halter verklagte daraufhin vor dem Landgericht den Kläger als Fahrer, ferner den Halter des vom Kläger gesteuerten PKW und die Beklagte als dessen Kfz-Haftpflichtversicherer auf Zahlung von 7.844 € Schadensersatz und vorgerichtlicher Nebenkosten. Die Beklagte, die der Auffassung war, der Unfall sei gestellt worden, lehnte eine Schadenregulierung ab, trat jedoch sowohl dem Kläger als auch dem Fahrzeughalter und Versicherungsnehmer im Haftpflichtprozess als Nebenintervenientin bei. Der Kläger beauftragte einen eigenen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung. In der Beweisaufnahme bestätigte sich der Verdacht einer Unfallmanipulation nicht. In erster Instanz wurden die drei dortigen Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung von 7.384 € Schadensersatz verurteilt. Unter Zurückweisung der von der Beklagten auch namens des Klägers und des Versicherungsnehmers eingelegten Berufung im Übrigen setzte das Berufungsgericht die Schadensersatzforderung auf 5.928,82 € herab.

Im vorliegenden Deckungsrechtsstreit streiten die Parteien nur um die Kosten des vom Kläger im Haftpflichtprozess beauftragten Rechtsanwalts. Der Kläger meint, die Beklagte müsse ihn von diesen Kosten im Rahmen ihrer Rechtsschutzverpflichtung freihalten. Wegen des von ihr erhobenen Manipulationsvorwurfs habe die Beklagte in einem Interessenkonflikt gestanden, der es ihm unzumutbar gemacht habe, sich im Haftpflichtprozess allein von der Beklagten und dem von ihr beauftragten Rechtsanwalt vertreten zu lassen. Die Beklagte habe ihn, den Kläger, mit ihrem Vorwurf der Gefahr einer späteren strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt.

Die Beklagte meint, der Kläger sei im Haftpflichtprozess infolge ihrer Nebenintervention ausreichend vertreten gewesen; der Beauftragung eines eigenen Anwalts habe es nicht bedurft.

Das Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, den Kläger von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.176,98 € freizustellen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Mit der Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.


Entscheidungsgründe:

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Beklagte habe im Haftpflichtprozess mit ihrer Nebenintervention auf Seiten des Klägers ihre Rechtsschutzverpflichtung erfüllt und insbesondere sichergestellt, dass keine Verurteilung aufgrund eines Versäumnisurteils oder sonst als unbestritten angesehener Tatsachenbehauptungen des Geschädigten habe erfolgen können. Sie habe zudem erreicht, dass der Sachverhalt mittels einer Beweisaufnahme geklärt und damit alles zur Abwehr des Haftpflichtanspruchs Erforderliche unternommen worden sei. Die Interessenkollision zwischen der Beklagten und dem Kläger sei hier "systembedingt" und habe auch nicht durch die Beauftragung eines eigenen Klägeranwalts beseitigt werden können; denn auch damit habe der Kläger nicht verhindern können, dass der im Haftpflichtprozess auch direkt beklagte Haftpflichtversicherer sich durch seine Anwälte selbst verteidigt habe. Die Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung des Klägers auszuräumen. Der Haftpflichtversicherungsschutz umfasse nicht den Schutz der versicherten Person vor strafrechtlichen Ermittlungen wegen Verdachts des Versicherungsbetruges. Auch der drohende Regress der Beklagten beim Kläger verpflichte sie nicht dazu, die Kosten für eine eigenständige Vertretung des Klägers im Haftpflichtprozess zu tragen. Dass die Beklagte grundlos und ins Blaue hinein Vorwürfe gegen ihn erhoben habe, mache der Kläger nicht geltend.


II.

Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beklagte ist infolge ihres Leistungsversprechens i.V. mit § 150 Abs. 1 Satz 1 VVG (in der hier noch maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung) verpflichtet, den Kläger von den ihm im Haftpflichtprozess entstandenen Rechtsanwaltskosten, über deren Höhe im Rechtsmittelverfahren kein Streit mehr besteht, freizustellen.

1. Die Rechtsschutzverpflichtung und die Pflicht zur Befriedigung begründeter Haftpflichtansprüche sind gleichrangige Hauptleistungsverpflichtungen des Haftpflichtversicherers (Senatsurteile vom 7. Februar 2007 - IV ZR 149/03 - BGHZ 171, 56 Tz. 12 m.w.N.; vom 30. September 1992 - IV ZR 314/91 - BGHZ 119, 276, 281). Nach § 150 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. umfasst die Versicherung auch die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten, die durch die Verteidigung gegen den von einem Dritten erhobenen Anspruch entstehen, soweit die Aufwendung dieser Kosten den Umständen nach geboten ist.

2. Der im Haftpflichtprozess mit der Beauftragung eines eigenen Anwalts für den Kläger verbundene Kostenaufwand war hier geboten.

a) Im Haftpflichtprozess hat grundsätzlich der Haftpflichtversicherer selbst in Erfüllung seiner Rechtsschutzverpflichtung die Interessen des Versicherten so zu wahren, wie das ein von diesem beauftragter Rechtsanwalt tun würde (BGHZ aaO). Das ist im Regelfall unproblematisch, weil sich die Abwehrinteressen des Versicherers und des Versicherten meist entsprechen werden. Wegen des umfassend versprochenen Rechtsschutzes gilt das aber sogar dann, wenn eine Kollision der Interessen des Versicherers und des Versicherten auftritt. Selbst in diesem Fall bleibt der Versicherer grundsätzlich verpflichtet, seine eigenen Interessen hintanzustellen. Nur diese weite Auslegung des Leistungsversprechens kann den mit der Haftpflichtversicherung bezweckten Schutz gewährleisten (BGHZ aaO).

b) Eine besondere Interessenkollision entsteht dann, wenn im Haftpflichtprozess nach einem Verkehrsunfall neben dem Fahrer und Halter des versicherten Fahrzeugs gestützt auf den gesetzlichen Direktanspruch zugleich der Haftpflichtversicherer auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird und letzterer sich mit der Behauptung verteidigen will, der behauptete Unfall sei in Wahrheit von den vorgeblich Unfallbeteiligten verabredet worden.

In diesem Fall steht der Haftpflichtversicherer in einem unauflösbaren Konflikt. Er kann sich zwar dafür entscheiden, sein Ziel, eine Unfallverabredung gerichtlich feststellen zu lassen, nicht weiterzuverfolgen, um stattdessen allein das Rechtsschutzbegehren der Versicherten zu unterstützen und damit seiner nach dem Versicherungsvertrag geschuldeten Rechtsschutzverpflichtung zu genügen. Wird er aber auch selbst unmittelbar auf Schadensersatz in Anspruch genommen, kann es ihm nicht verwehrt werden, sich dagegen umfassend zu verteidigen, und zwar auch mit der Behauptung, das schadenbegründende Ereignis sei nicht - wie vom Geschädigten behauptet - unfreiwillig erlitten, sondern von den angeblich Unfallbeteiligten einvernehmlich herbeigeführt worden. Dennoch bleibt der Haftpflichtversicherer - lehnt er nicht von vornherein Deckung ab - aufgrund seines Leistungsversprechens weiter gehalten, den Versicherungsnehmer und den mitversicherten Fahrer wie ein von diesen beauftragter Anwalt zu vertreten und sie notfalls von Schadensersatzverpflichtungen freizuhalten.

aa) In der geschilderten Situation ist weder der Haftpflichtversicherer noch ein von ihm beauftragter Rechtsanwalt in der Lage, beide Ziele gleichzeitig zu verfolgen, ohne dabei die vom Versicherungsvertrag geschützten Interessen der Versicherten zu verletzen. Vielmehr stehen sowohl der Haftpflichtversicherer als auch der von ihm beauftragte Rechtsanwalt in einem unlösbaren Interessenkonflikt, der es ihnen verbietet, im Haftpflichtprozess zugleich das eigene Anliegen und das des Versicherten zu vertreten (so auch BGH, Beschluss vom 6. Juli 2010 - VI ZB 31/08 - veröffentlicht in juris, Tz. 9, 10; OLG Düsseldorf Verkehrsrecht aktuell 2009, 165 m. zust. Anm. Elsner in jurisPR-VerkR 7/2010 Anm. 4; OLG Köln VersR 1997, 597; OLG Koblenz VersR 1996, 604; LG Hagen r+s 1996, 466; Meiendresch, r+s 2005, 50 ff.). Soll Letzterem der im Versicherungsvertrag versprochene Rechtsschutz dennoch ungeschmälert zuteil werden, ist er - wie hier der Kläger als mitversicherter Fahrer - darauf angewiesen, dass der Haftpflichtversicherer seine Rechtsverteidigung im Haftpflichtprozess in andere Hände legt und deshalb die Kosten eines eigens für den Versicherten beauftragten Rechtsanwalts übernimmt, denn nur damit kann gewährleistet werden, dass sowohl der Versicherer als auch der Versicherte ihre unterschiedlichen Standpunkte im Haftpflichtprozess gleichermaßen Erfolg versprechend vertreten können.

bb) Zwar steht es dem Haftpflichtversicherer im Rahmen der ihm übertragenen Prozessführungsbefugnis grundsätzlich frei, im Haftpflichtprozess den versprochenen Rechtsschutz durch einen eigens für den Versicherten beauftragten Rechtsanwalt oder lediglich mittels einer Nebenintervention zu gewährleisten (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 1993 - VI ZR 249/92 - VersR 1993, 625 unter 1; Freyberger, VersR 1991, 842, 845; Geyer, VersR 1989, 882, 888). Bei der hier in Rede stehenden Interessenkollision ist dieses Ermessen aber nicht mehr eröffnet, weil einerseits der Versicherer selbst nicht mehr in der Lage ist, die Interessen des Versicherten sachgerecht wahrzunehmen, ein vom Versicherer beauftragter Rechtsanwalt schon wegen der Strafdrohung des § 356 StGB gehindert wäre, zugleich die Interessen des Versicherers und des Versicherten zu vertreten (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 6. Juli 2010 aaO), und andererseits der Versicherte gerade deshalb, weil gegen ihn von Seiten des Versicherers ein Betrugsvorwurf erhoben wird, in besonderem Maße des rechtlichen Beistands bedarf.

Wie der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im Beschluss vom 6. Juli 2010 (aaO) zu der Frage, ob der Wunsch des Versicherten nach Beiordnung eines eigenen Rechtsanwalts in solchen Fällen mutwillig i.S. von § 114 Satz 1 ZPO erscheint, zutreffend ausgeführt hat, sind hier die Interessen des beklagten Versicherungsnehmers und des beklagten Haftpflichtversicherers nur vordergründig gleichgerichtet, auch wenn sie beide der Klage entgegentreten (vgl. OLG Köln VersR 1997, 597, 598). Für den Versicherungsnehmer ist es von besonderem Interesse, ob die Haftpflichtklage mit der Begründung abgewiesen wird, es liege ein von ihm mitmanipulierter Unfall vor, oder aus anderen Gründen. Deswegen kann weder mit Blick auf § 114 Satz 1 ZPO noch für die Frage, ob die Unterstützung des Versicherungsnehmers durch einen eigenen Rechtsanwalt notwendig erscheint, angenommen werden, eine verständige, nicht hilfsbedürftige Partei nähme in einem solchen Fall ihre Rechte ohne den Beistand eines eigenen Prozessbevollmächtigten wahr (BGH aaO). Denn der Haftpflichtversicherer lässt über seinen Rechtsanwalt in einem zentralen Punkt, dem der Unfallmanipulation, gerade das Gegenteil dessen vortragen, was der beklagte Versicherungsnehmer vorzutragen wünscht (OLG Düsseldorf Verkehrsrecht aktuell 2009, 165). Deshalb muss der Versicherungsnehmer, der sich im Haftpflichtprozess gegen den Vorwurf eines versuchten Versicherungsbetrugs verteidigen will, diesen Vorwurf nicht ohne eigene anwaltliche Vertretung hinnehmen und sich auf eventuelle Nachfolgeprozesse verweisen lassen (BGH aaO; OLG Düsseldorf aaO).

cc) Entgegen einer in Rechtsprechung und Literatur vereinzelt vertretenen Auffassung lässt sich der aufgezeigte Interessenkonflikt nicht anderweitig lösen. Zwar wird teilweise angenommen (KG VersR 2008, 1558 = NZV 2008, 519 - zur Frage der Mutwilligkeit i.S. von § 114 ZPO; AG Düsseldorf VersR 1997, 52; Freyberger, VersR 1991, 842 ff.; Geyer, VersR 1989, 882, 888), das Versicherteninteresse genieße nach dem Haftpflichtversicherungsvertrag einen nur eingeschränkten Schutz. Er beschränke sich darauf zu verhindern, dass es im Haftpflichtprozess überhaupt zu einer Verurteilung, insbesondere durch ein Versäumnisurteil, komme. Das werde durch eine streitgenössische Nebenintervention des Haftpflichtversicherers auf Seiten des Versicherten in jedem Falle ausreichend gewährleistet, während es auf weitergehende - insbesondere strafrechtliche - Rechtsschutzziele, den Wunsch des Versicherten nach einer anderen Begründung der Haftpflichtentscheidung und sonstige Motive des Versicherten nicht ankomme.

Diese Ansicht, der bereits der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in seinem (die zitierte Entscheidung des Kammergerichts aufhebenden) Beschluss vom 6. Juli 2010 (aaO) entgegengetreten ist, überzeugt auch deshalb nicht, weil der durchschnittliche Versicherungsnehmer eine solche Beschränkung der Rechtsschutzverpflichtung dem Leistungsversprechen des Versicherers nicht entnehmen kann, das nach der ständigen Rechtsprechung des Senats darauf gerichtet ist, den Versicherten im Haftpflichtprozess wie ein von ihm beauftragter Anwalt zu vertreten. Von einem selbst beauftragten Rechtsanwalt kann der Versicherte aber zu Recht erwarten, dass seine Interessen in einer Weise vertreten werden, die ihn nicht der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder der Rückforderung der Versicherungsleistung und der im Haftpflichtprozess entstandenen Prozesskosten aussetzen.



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