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OLG München Urteil vom 27.01.2012 - 10 U 3065/11 - Zur Notwendigkeit der Beweiserhebung durch Zeugen und Sachverständige

OLG München v. 27.01.2012: Zur Notwendigkeit der Beweiserhebung durch Zeugen und Sachverständige


Das OLG München (Urteil vom 27.01.2012 - 10 U 3065/11) hat entschieden:
  1. Ein unberechtigtes Übergehen eines Beweisantrags stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne § 538 II 1 Nr.1 ZPO dar.

  2. Es ist verfahrensfehlerhaft, wenn das Gericht bei bestrittenem Unfallhergang einen durch Beweisantrag angebotenen Zeugenbeweis nicht erhebt, weil es die Zeugenaussage für "eher ungeeignet" hält.

  3. Falls einem Gericht hinsichtlich entscheidungserheblicher Tatsachen die eigene Sachkenntnis fehlt, ist von Amts wegen ein Sachverständigengutachten einzuholen.


Siehe auch Rechtliches Gehör und Siehe auch Der Beweisantrag im Zivilprozess


Gründe:

A.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.

I.

Das Landgericht hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht Ansprüche der Klägerin aus einem behaupteten Verkehrsunfall vom 19.05.2010 abgelehnt.

Das Erstgericht hat gegen seine Verpflichtung verstoßen, den ihm zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt auszuschöpfen und sämtlichen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen (vgl. BGH VersR 2004, 790; 2008, 1265; NJW-RR 2011, 428 jeweils m. w. N.).

Da die Beklagte bereits mit der Klageerwiderung (Seite 3) den Unfallhergang bestritten und die Klagepartei zum Hergang einen Zeugen angeboten hat (unabhängig von der Frage einer Anhörung des Direktors der Klagepartei), fehlt jede rechtlich tragfähige Begründung, weshalb von der Einvernahme der Zeugen abgesehen wurde. Die Rechtsauffassung des Erstrichters in der Verfügung vom 21.01.2011 (Bl. 32 d.A.), der Zeugenbeweis sei für den Nachweis des Unfallhergangs "eher ungeeignet", ist nicht nachvollziehbar.

Daneben durfte das Landgericht jedoch auch nicht von der Erholung eines Sachverständigengutachtens, wie selbst für erforderlich gehalten, absehen. Falls wie vorliegend einem Gericht hinsichtlich entscheidungserheblicher Tatsachen die eigene Sachkenntnis fehlt, ist von Amts wegen (vgl. hierzu Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 32. Aufl. 2011, Vorbem § 402 Rd. 3 m.w.N.) ein Sachverständigengutachten zu erholen (vgl. auch BGH NJW-RR 2011, 428). Auf die Frage einer Verspätung des im frühen ersten Termin gestellten Beweisantrags kommt es daher nicht an.

Der Senat hat im vorliegenden Falle nicht von der Möglichkeit einer eigenen Sachentscheidung nach § 538 I ZPO Gebrauch gemacht, weil dies hier nicht sachdienlich erscheint.

Ein unberechtigtes Übergehen eines Beweisantrags stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne § 538 II 1 Nr.1 ZPO dar (BGH NJW 1951, 481 [482]; OLG München [10. ZS] NJW 1972, 2048; v. 17.12.2010 - 10 U 1753/10 [Juris]; Urt. v. 5.2.2008 - 30 U 563/07 [Juris, dort Rz. 26]; OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 28.4.2010 - 9 U 133/09 [Juris, dort Rz. 29]; v. 20.7.2010 - 22 U 1410 = NZV 2010, 623; KG, Urt. v. 14.2.2010 -12 U 67/10 [Juris = NJW-Spezial 2011, 202 f. ]). Eine Beweisaufnahme in dem hier vorzunehmenden Umfang (Zeugeneinvernahme, Anhörung einer Partei und unfallanalytisches Sachverständigengutachten) wäre umfangreich i. S. d. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO und würde den Senat zu einer mit der Neukonzeption der Berufung durch das ZPO-RG unvereinbaren erstmaligen Beweisaufnahme an Stelle der 1. Instanz zwingen (Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urt. v. 05.11.2010 - 10 U 2401/10 [VersR 2011, 549 ff. m. zust. Anm. Hoffmann] und v. 22.07.2011 - 10 U 1481/11). Eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist angesichts seiner Geschäftsbelastung keinesfalls zu erwarten.

Die Frage der Zurückverweisung wurde auch in der mündlichen Verhandlung mit den Parteivertretern ausführlich erörtert. Beide Parteivertreter sind einer Zurückverweisung nicht nur nicht entgegengetreten, sondern haben sie beide beantragt.

II.

Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., zuletzt u. a. Urt. v. 05.11.2010 - 10 U 2401/10 [VersR 2011, 549 ff. m. zust. Anm. Hoffmann] und v. 13.05.2011 - 10 U 3951/10 [Juris, dort Rz. 32 = BeckRS 2011, 12188 m. zust. Anm. Kääb FD-StrVR 2011, 318319]).

Die Gerichtskosten waren gem. § 21 I 1 GKG niederzuschlagen, weil ein wesentlicher Verfahrensmangel, welcher allein gem. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann, denknotwendig eine unrichtige Sachbehandlung i. S. des § 21 I 1 GKG darstellt; dies gilt jedenfalls bei einem - hier gegebenen - offensichtlichen Versehen (BGH NJW 1962, 2107 = MDR 1962, 45; BGHZ 98, 318 [320]; BGH, Beschl. v. 27.01.1994 - V ZR 7/92 [Juris]; NJW-RR 2003, 1294; Senat in st. Rspr., zuletzt u. a. Urt. v. 19.03.2010 - 10 U 3870/09 [Juris, dort Rz. 34 = VA 2010, 92 - red. Leitsatz, Kurzwiedergabe]; v. 05.11.2010 - 10 U 2401/10 [VersR 2011, 549 ff. m. zust. Anm. Hoffmann] und v. 13.05.2011 - 10 U 3951/10 [Juris, dort Rz. 32 = BeckRS 2011, 12188 m. zust. Anm. Kääb FD-StrVR 2011, 318319]).

§ 21 I 1 GKG erlaubt auch die Niederschlagung von Gebühren des erstinstanzlichen Verfahrens (vgl. OLG Brandenburg OLGR 2004, 277 = FamRZ 2004, 1662 und OLG Düsseldorf NJW-RR 2007, 1151 jeweils für ein unzulässige Rechtsgutachten über inländisches Recht; OLG Celle OLGR 2005, 723 = BauR 2006, 388 für eine umfangreiche Beweisaufnahme zur Höhe vor Klärung des Anspruchsgrundes; Senat, Beschl. v. 17.09.2008 - 10 U 2272/08 für Gutachten von wegen Befangenheit ausgeschlossenen Sachverständigen, st. Rspr., zuletzt Urt. v. 19.03.2010 - 10 U 3870/09 [Juris, dort Rz. 93 = VA 2010, 93 - red. Leitsatz, Kurzwiedergabe]).

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat in st. Rspr., zuletzt u. a. Urt. v. 19.03.2010 - 10 U 3870/09 [Juris, dort Rz. 34 = VA 2010, 93 - red. Leitsatz, Kurzwiedergabe]; v. 05.11.2010 - 10 U 2401/10 [VersR 2011, 549 ff. m. zust. Anm. Hoffmann] und v. 13.05.2011 - 10 U 3951/10 [Juris, dort Rz. 32 = BeckRS 2011, 12188 m. zust. Anm. Kääb FD-StrVR 2011, 318319]), allerdings ohne Abwendungsbefugnis (Senat a.a.O. ).

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.