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OLG München Urteil vom 09.04.2010 - 10 U 5143/09 - Zur Haftungsverteilung bei Kollision des Vorfahrtberechtigten mit dem Wartepflichtigen beim Abbiegen in eine untergeordnete Straße

OLG München v. 09.04.2010: Zur Haftungsverteilung bei Kollision des Vorfahrtberechtigten mit dem Wartepflichtigen beim Abbiegen in eine untergeordnete Straße


Das OLG München (Urteil vom 09.04.2010 - 10 U 5143/09) hat entschieden:
Der Wartepflichtige darf gem. § 8 II 4 StVO den Vorfahrtberechtigten, wenn dieser aus der bevorrechtigten Straße in eine untergeordnete Straße abbiegt, „nicht wesentlich behindern“. Dieses Vorrecht des Vorfahrtberechtigten besteht solange, bis er mit der ganzen Länge seines Fahrzeugs die Vorfahrtstraße verlassen hat. Hat der Wartepflichtige sich durch das Schneiden des Kurvenbereichs seiner Sichtmöglichkeiten in die bevorrechtigte Straße beraubt, geht das zu seinen Lasten und nicht zu Lasten des Vorfahrtberechtigten. Allerdings hat der Vorfahrtberechtigte die Grundregel des § 1 StVO besonders zu beachten und ggf. auf sein Vorrecht zu verzichten. Bei einem Zusammentreffen einer Vorfahrtsverletzung und einem unterlassenen Vorrangverzicht ist von einem überwiegenden Haften des Wartepflichtigen auszugehen.


Siehe auch Schneiden von Kurven und Vorfahrtthemen


Gründe:

A.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache im Ergebnis nur geringen Erfolg.

I. Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz verneint.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 7 I StVG, § 839 I BGB in Höhe von 425,54 € nebst beantragter Zinsen (§ 286 I BGB).

Der vorliegende Verkehrsunfall wurde überwiegend vom Fahrer des Fahrzeugs der Beklagten verschuldet, so dass von einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Beklagten auszugehen ist (§ 17 I StVG).

Bei Heranziehung der Aussage des Fahrers des Beklagtenfahrzeugs D. war er mit seinem Fahrzeug „auf der Höhe des Scheitels der Ringstraße“ ungefähr parallel, als er das Fahrzeug des Klägers wahrgenommen hat (vgl. Protokoll vom 23.09.2009, S. 4/5 = Bl. 91/92 d.A.). Dementsprechend ist aufgrund der weiteren insoweit zutreffend festgestellten Tatsachen, wie etwa des feststehenden Kollisionswinkels der beiden Fahrzeuge, in Übereinstimmung mit dem Gutachten H. von einem Fahrverlauf der Fahrzeuge entsprechend der als Anlage zu Protokoll genommenen Anlage 3 (Bl. 104 d.A.) auszugehen. Da der Zeuge nicht davon berichtet hat, dass er wieder zurück in Richtung Ringstraße wollte, kann der Senat als Spezialsenat für Verkehrsunfälle aller Art aus eigener Sachkenntnis feststellen, dass bei Berücksichtigung des durch den Sachverständigen H. festgestellten Kollisionswinkels nach dieser Aussage ein Kollisionsort in der Ringstraße, bei dem das Fahrzeug des Klägers bereits vollständig in die Ringstraße eingefahren wäre, ausgeschlossen ist. Eine erneute Anhörung der Zeugen bzw. des Klägers oder des Sachverständigen ist deshalb nicht veranlasst.

Entgegen der rechtlichen Würdigung des Landgerichts liegt ein Verstoß des Zeugen D. gegen § 8 II StVO und kein Spurwechselvorgang (vgl. S. 7 Endurteil) vor. Denn der Wartepflichtige darf gem. § 8 II 4 StVO den Vorfahrtberechtigten, wenn dieser aus der bevorrechtigten Straße in eine untergeordnete Straße abbiegt, „nicht wesentlich behindern“. Dieses Vorrecht des Vorfahrtberechtigten besteht solange, bis er mit der ganzen Länge seines Fahrzeugs die Vorfahrtstraße verlassen hat (BGH NJW 1959, 638; OLG Düsseldorf VersR 1966, 1056; Senat, Hinweis v. 04.06.2008 - 10 U 3012/08; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. 2009, § 8 Rz. 29; Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, Kap. 27 Rz. 249). Dies steht nach den Feststellungen des Landgerichts im Hinblick auf den Vortrag beider Parteien nach beiden Versionen bezüglich des Kollisionsorts fest, auf S. 10 des Gutachtens des Sachverständigen H. vom 20.05.2009 wird Bezug genommen (= Bl. 60 d.A.). Auf den exakten Kollisionsort und nur den konnte der Sachverständige nicht bestimmen, kommt es für die Entscheidung nicht an. Es ist auch irrelevant, ob nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Klägerfahrzeug bereits die Terminalstraße vollständig verlassen hat. Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine - ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 339; Senat NZV 2006, 261; Urt. v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [Juris], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 06.11.2009 - 10 U 3386/09) - absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] = NJW 1970, 946, st. Rspr., insbesondere NJW 1992, 39 [40] und zuletzt VersR 2007, 1429 [1431 unter II 2]; Senat a.a.O.). Das auf den Ausweis dieser Überzeugungsbildung gerichtete Verbalisierungs- und Rationalisierungsgebot des § 286 I 2 ZPO bedeutet nicht, dass die Wahrheitsfindung lückenlos an empirische Erwägungen gekettet sein muss (Senat, Beschl. v. 28.04.2005 - 10 U 1937/05, st. Rspr., zuletzt Beschl. v. 01.08.2007 - 10 U 3639/07; Foerste NJW 2001, 321 [325]).

Die Einwendungen der Beklagten in der Berufungserwiderung vom 19.03.2010 (Bl. 139/145 d.A.) gegen diese bereits in der Verfügung vom 26.01.2010 (Bl. 134 d.A.) mitgeteilte Rechtsauffassung des Senats überzeugen nicht. Wie das Erstgericht verdreht auch die Beklagte die Regeln der StVO in ihr Gegenteil. Nicht der Wartepflichtige darf weiterfahren, obwohl er bereits mehrere Sekunden das herannahende Klägerfahrzeug sehen hätte können. Die Aussagen der Zeugen im Fahrzeug der Beklagten, das Fahrzeug des Klägers sei nicht zu sehen gewesen, sind durch das überzeugende Sachverständigengutachten widerlegt. Wenn der klägerische Fahrer das Fahrzeug der Beklagten 3 Sekunden gesehen hat, gilt das auch umgekehrt. Jedenfalls hätte der Zeuge D. das herannahende Taxi des Klägers erkennen können, wenn er ordnungsgemäß im 90°-Winkel an die Kreuzung herangefahren wäre. Hat er sich durch das Schneiden des Kurvenbereichs seiner Sichtmöglichkeiten in die bevorrechtigte Terminalstraße beraubt, geht das zu Lasten der Beklagten und nicht zu Lasten des Klägers. Nicht der Bevorrechtigte hat anzuhalten, damit der Wartepflichtige ungehindert weiterfahren kann, wie offenbar die Beklagte in Übereinstimmung mit dem Landgericht meint, sondern der Wartepflichtige, wie es das Wort schon sagt, hat anzuhalten, um den Abbiegevorgang des Bevorrechtigten nicht zu behindern.

Allerdings hat der Vorfahrtberechtigte in einer Verkehrssituation wie der gegebenen die Grundregel des § 1 StVO besonders zu beachten und ggf. gem. § 11 III Hs. 1 StVO, der nach der amtlichen Begründung ausdrücklich für alle Fälle eines Straßenengpasses gilt, auf sein Vorrecht zu verzichten (Senat, Hinweis v. 04.06.2008 - 10 U 3012/08). Nach dem Gutachten des Sachverständigen H. einschließlich der Ausführungen in der Anhörung war der Unfall (auch) für den Kläger vermeidbar, da er das Fahrzeug der Beklagten ausreichend lange vor der Kollision hat sehen können und darauf reagieren hätte müssen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat selbst ausgeführt, dass das Fahrzeug der Beklagten stets in Bewegung gewesen sei. Der Kläger hatte daher keine Veranlassung, davon auszugehen, der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs werde sein Vorrecht achten. Deshalb haftet der Kläger mit.

Was die Haftungsquote angeht, ist bei einem Zusammentreffen einer Vorfahrtsverletzung und einem unterlassenen Vorrangverzicht von einem überwiegenden Haften des Wartepflichtigen auszugehen (vgl. Fuchs-Wissemann DAR 1995, 278 [281 unter IV 2 b]). Da das Polizeifahrzeug der Beklagten als solches nicht erkennbar war, liegen keine besonderen Umstände vor, von dieser Haftungsverteilung im vorliegenden Fall abzuweichen, weshalb der Senat eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Beklagten für sachgerecht hält. Zu Lasten der Beklagten war vor allem auch zu berücksichtigen, dass im Hinblick auf die dadurch verursachten deutlich verschlechterten Sichtverhältnisse das Schneiden der Kurve gerade für einen Polizisten ein besonders vorwerfbares Verhalten darstellt. Eine erhöhte Betriebsgefahr des klägerischen Taxis gegenüber dem Zivilpolizeifahrzeug der Beklagten ist nicht anzunehmen.

Soweit der Kläger obsiegt, reduziert die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung der Beklagten, die wie oben dargestellt, zu einem Drittel berechtigt ist. die berechtigte Klageforderung.

Hinsichtlich der Höhe des Anspruchs liegen durchgreifende Einwendungen sowohl hinsichtlich der Klageforderung als auch der Aufrechnungsforderung nicht vor (§ 287 I ZPO). Der Kläger hat demgemäß einen Anspruch auf seinen Sachschaden (Abrechnung auf Totalschadensbasis), die Gutachterkosten, den mit dem Gutachten nachgewiesenen Erwerbsschaden und die allgemeine Unkostenpauschale, gekürzt um die Quote, von 1.976,69 €. Die Beklagten haben einen berechtigten Gesamtschaden in Höhe von 4.653,44 € (vgl. hierzu im Einzelnen S. 5 der Berufungserwiderung = Bl. 143 d.A.). Die Einwendungen gegen die Dauer der Nutzungsentschädigung wurden von der Beklagten unter Hinweis auf die tatsächliche Reparaturdauer überzeugend entkräftet. Bei Beachtung der Haftungsquote ergibt sich eine berechtigte Aufrechnungsforderung von 1.551,15 €, wodurch sich für den Kläger ein Rest von 425,54 € errechnet.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 I 1 Fall 2, 269 III ZPO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.