Das Verkehrslexikon

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OLG Saarbrücken Urteil vom 27.03.2012 - 4 U 151/11 - Zum Umfang von Winterdienst und Streupflicht

OLG Saarbrücken v. 27.03.2012: Zum Umfang von Winterdienst und Streupflicht einer Gemeinde


Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 27.03.2012 - 4 U 151/11) hat entschieden:

   Der Winterdienst ist innerhalb der geschlossenen Ortslage nur an verkehrswichtigen und gefährlichen Stellen zu leisten. Die demnach erforderliche Gefahrenlage ist nicht schon dann nachgewiesen, wenn eine Straße entlang eines Flussufers verläuft.

Vielmehr liegen die Voraussetzungen der Streupflicht erst dann vor, wenn der durchschnittliche Verkehrsteilnehmer die aus der besonderen Lage resultierenden winterlichen Risiken trotz Beachtung der im Winter zu fordernden gesteigerten Sorgfalt nicht beherrschen kann.

Siehe auch
Verkehrssicherung - Winterdienst - Räum- und Streupflicht
und
Verkehrssicherungspflicht


Gründe:


I.

Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der Kläger die beklagte Stadt unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht auf Schadensersatz aus einem Unfall in Anspruch, der sich am 16.2.2010 in der Innenstadt von N. im Bereich des Verkehrskreisels K.-S.-Str./ M.str./ R.str. ereignete.

Der Kläger befuhr gegen 10:00 Uhr mit seinem Motorroller die S.str. aus W. kommend in Richtung Innenstadt. Hierbei geriet der Kläger auf der winterglatten Fahrbahn etwa in dem vor dem Kreisverkehr liegenden Kurvenbereich in Höhe des Parkhauses des Arbeitsamtsgebäudes zu Fall. Bei dem fraglichen Straßenbereich handelt es sich um eine Straße von besonderer Verkehrsbedeutung.

Der Kläger hat behauptet, Ursache des Unfalls sei allein die Winterglätte gewesen. Er habe zum Unfallzeitpunkt eine Geschwindigkeit von circa 30 km/h eingehalten und auch keine besonderen Fahrmanöver vorgenommen. Er hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagte ihre Räum- und Streupflicht verletzt habe. Die von der Beklagten vorgelegten Kontroll- und Streuberichte belegten nicht, dass der fragliche Bereich am Unfalltag auf Glätte kontrolliert und abgestreut worden sei, obwohl – dies ist unstreitig – das vorgelegte Wetterbuchblatt Temperaturen um den Gefrierpunkt ausgewiesen habe.




Hinsichtlich der Unfallfolgen hat der Kläger vorgetragen, dass er eine Tibiaimpressionsfraktur erlitten habe, die im S. Krankenhaus N. im Rahmen eines stationären Aufenthaltes vom 16. bis 26.2.2010 versorgt worden sei. Danach sei er bis zum 6.4.2010 ambulant ärztlich und physiotherapeutisch behandelt worden, bevor er sich vom 6.4. bis 11.5.2010 einer Reha-Maßnahme in W.2. unterzogen habe. Aus dieser Maßnahme sei er weiterhin arbeitsunfähig entlassen worden und danach erneut ambulant ärztlich und physiotherapeutisch behandelt worden. Infolge der Verletzungen habe er seine Tätigkeit als Industriemechaniker/Betriebstechnik nicht mehr ausüben können und mittlerweile auch den Arbeitsplatz verloren. Er könne nur noch leichtere Tätigkeiten erledigen und müsse mit dem vorzeitigen Eintritt einer Arthrose rechnen.

Zum Ausgleich der erlittenen Gesundheitsbeeinträchtigungen hat der Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 17.000 EUR für angemessen erachtet und darauf verwiesen, dass er wegen der Möglichkeit einer vorzeitigen Arthrose und der verbleibenden unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit mit dem Eintritt weiterer Schäden rechnen müsse.

Mit dem Klageantrag zu 2) hat der Kläger zunächst einen Verdienstausfall in einer Gesamthöhe von 2.016,44 EUR sowie weitere materielle Schäden geltend gemacht (S. 10 der Klageschrift), die die Beklagte in Höhe von 774,34 EUR, 121,73 EUR und 280 EUR unstreitig gestellt hat.

Der Kläger hat beantragt,

  1.  die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9.12.2010 zu zahlen;

  2.  die Beklagte weiterhin zu verurteilen, an den Kläger 3.192,51 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9.12.2010 zu zahlen;

  3.  festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfall vom 16.2.2010 in der Innenstadt von N., Verkehrsinsel K.-S.-Str./ M.str./ R.str. zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen;

  4.  die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger als Nebenforderung einen Betrag in Höhe von 1.023,16 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9.12.2010 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

   die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat den Unfallhergang mit Nichtwissen bestritten. Auch die geltend gemachte Schadenshöhe hat die Beklagte mit Nichtwissen bestritten, soweit sich der Schaden nicht aus den vorgelegten ärztlichen Attesten ergebe (Bl. 20 d.A.). Sie hat behauptet, dass es sich bei dem fraglichen Straßenbereich zwar um eine verkehrswichtige, nicht aber um eine gefährliche Strecke handele. Die Glätte sei am Unfalltag allenfalls punktuell aufgetreten. Die S.str. sei zuletzt am 16.2.2010 geräumt und gestreut worden. Danach seien die Straßen im Kontrollgebiet trocken gewesen. Die polizeiliche Unfallaufnahme belege, dass der Unfallbereich in einem Übergang von einem sonnenbeschienenen in einen schattigen Bereich gelegen habe und dass die Straße in den sonnenbeschienenen Bereichen trocken gewesen sei. Der Kläger müsse auf Grund nicht angepasster Geschwindigkeit zu Fall gekommen sein.


Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung wird auch hinsichtlich der darin enthaltenen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Klagebegehren in vollem Umfang weiter.

Der Kläger erneuert seine Rechtauffassung, wonach die Beklagte ihrer Streupflicht nicht in der gebotenen Weise nachgekommen sei. So sei insbesondere nicht nachgewiesen, ob der fragliche Straßenbereich bereits vor 10:00 Uhr abgestreut worden sei. Der Zeuge E. habe keine genauen Angaben darüber machen können, wann die Streumaßnahmen durchgeführt worden seien. Er habe in seiner Zeugenaussage angegeben, dass in einem Zeitraum von 7:15 Uhr bis 13:30 Uhr Streumaßnahmen an Hand von Anweisungen auf einer Liste durchgeführt worden seien. Auch aus dem Streudienstbericht vom 16.2.2010 ergebe sich nicht, zu welcher Uhrzeit die Streumaßnahmen mit Granulat im Kreisel im Bereich des Arbeitsamtes durchgeführt worden seien. Weiterhin sei es nicht ausreichend gewesen, in der parallel verlaufenden W.str. Kontrollmaßnahmen durchzuführen. Mit Blick auf die Verkehrsbedeutung des Straßenbereichs in der Innenstadt habe eine gesteigerte Kontroll- und Streupflicht bestanden. Unter Zugrundelegung der Zeugenaussagen hätten Streumaßnahmen zum früheren Zeitpunkt durchgeführt werden müssen. Es bestehe die Vermutung, dass der Unfall bei der Durchführung früherer Streumaßnahmen hätte vermieden werden können.

Das Landgericht habe der Aussage der Zeugin S. ein zu geringes Gewicht beigemessen: Diese Zeugin habe angegeben, dass sie mit ihrem Fahrzeug beim Verlassen des Verkehrskreisels in Richtung S.str. Eisglätte festgestellt habe. Der Aussage der Zeugin S.2. sei nicht zu entnehmen, dass der Straßenbereich nicht winter- und eisglatt gewesen sei.




Der Kläger beantragt,

   unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Saarbrücken vom 17.3.2011 – 4 O 436/10 – nach Maßgabe der zuletzt gestellten erstinstanzlichen Anträge zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,

   die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Nach Auffassung der Beklagten ist es bereits zweifelhaft, ob die S.str. lediglich wegen der bloßen Möglichkeit einer erhöhten Feuchtigkeitsbildung tatsächlich als eine gefährliche Straße einzustufen ist, bezüglich derer innerorts eine Räum- und Streupflicht besteht. In jedem Fall sei die Beklagte ihrer Kontroll- und Streupflicht nachgekommen:

Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass die Straßen am Morgen des 16.2.2010 sowohl gegen 3:30 Uhr als auch gegen 6:00 Uhr kontrolliert worden seien. Obwohl die Straßen selbst trocken gewesen seien und die Beklagte demzufolge nicht zum Streuen verpflichtet gewesen sei, seien dennoch Streumaßnahmen durchgeführt worden. Der Zeuge Sch. habe überzeugend ausgeführt, dass die vorgenommenen Messungen in der zur S.str. parallel verlaufenden W.str. denen in der S.str. vergleichbar gewesen seien. Ebenso habe die Beweisaufnahme ergeben, dass die Beklagte mit allen ihr zur Verfügung stehenden sieben Streufahrzeugen im Einsatz gewesen sei. Mithin habe die Beklagte im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles unternommen, um eventuell auftretende Glätte zu verhindern.

Das Landgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der Glätte im Unfallbereich um plötzlich aufgetretene Glätte gehandelt habe. Dafür sprächen nicht nur die durch den Zeugen Sch. vorgenommenen Messungen, sondern auch die Aussagen des Klägers selbst und der Zeugin S.2., die bei ihrer Hinfahrt keine Nässe oder Glätte an der späteren Unfallstelle ausgemacht hätten. Bei plötzlich auftretender Glätte könne ein Verkehrsteilnehmer jedoch nicht erwarten, dass diese sofort durch Streumaßnahmen behoben werde. Auch an gefährlichen Stellen sei ein vorbeugendes Streuen nur bei konkreter Glatteisgefahr notwendig.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Berufungsbegründung vom 24.5.2011 (Bl. 116 ff. d.A.), auf den Inhalt der Berufungserwiderung vom 20.6.2011 (Bl. 125 ff. d.A.) sowie auf den Schriftsatz der Klägervertreterin vom 12.3.2012 (Bl. 134 f.) verwiesen. Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll vom 13.3.2012 (Bl. 136 ff. d.A.) Bezug genommen.




II.

A. Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg, da die angefochtene Entscheidung weder auf einem Rechtsfehler beruht, noch die gemäß § 529 ZPO zu Grunde zu legenden Tatsachen eine für den Kläger günstigere Entscheidung rechtfertigen (§ 513 Abs. 1 ZPO). Die Klage unterliegt bereits deshalb der Abweisung, weil die örtlichen und zeitlichen Voraussetzungen der Räum- und Streupflicht zum Unfallzeitpunkt nicht nachgewiesen sind. Mithin ist eine schadenskausale Verletzung der der Klägerin gem. § 9 Abs. 3a SaarlStrG als Amtspflicht obliegenden Verkehrssicherungspflicht i.S. des § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG nicht bewiesen.

1. Die Verkehrssicherungspflicht beinhaltet gem. § 53 Abs. 1 Satz 3 SaarlStrG auch den Winterdienst. Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht richten sich nach den Umständen des Einzelfalles. Innerhalb geschlossener Ortschaften ist seit langem allgemein anerkannt, dass die Fahrbahn der Straßen an verkehrswichtigen und gefährlichen Stellen bei Glätte zu bestreuen ist (BGHZ 112, 72, 76; vgl. BGHZ 31, 73, 75; 40, 379, 380 f.; Geigel/Wellner, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 14 Rdnr. 148; Ketterer/Giehl/Leonhardt, Streupflicht, 3. Aufl., S. 21 ff.; Palandt/Sprau, BGB, 71. Aufl., § 823 Rdnr. 226; Schmid NJW 1988, 3177, 3179). Die Kriterien der Verkehrsbedeutung und der Gefährlichkeit beschreiben die räumlichen Grenzen der Verkehrssicherungspflicht.

a) Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass die Unfallstelle eine vielbefahrene, verkehrswichtige Straßenstelle im vorgenannten Sinne war. Soweit das Landgericht die Straßenstelle als gefährlich eingestuft hat, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen:

aa) Als gefährlich sind die Straßenstellen einzustufen, an denen Kraftfahrer erfahrungsgemäß bremsen, ausweichen oder sonst ihre Fahrtrichtung oder Geschwindigkeit ändern, weil gerade diese Fahrmanöver bei Schnee- und Eisglätte zum Schleudern oder Rutschen und damit zu Unfällen führen können (BGHZ 112, 84; vgl. BGHZ 31, 75; 40, 379, 380 f.; Urt. v. 3.5.1984 – III ZR 34/83, VersR 1984, 890, 891). Idealtypisch gelten innerhalb geschlossener Ortschaften scharfe oder unübersichtliche Kurven, auffallende Verengungen, Gefällstrecken, Straßenkreuzungen und Straßeneinmündungen als gefährlich (BGHZ 31, 75 f.; MünchKomm(BGB)/Wagner, 5. Aufl., § 823 Rdnr. 450; Hager, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2009, § 823 E 134). Die Einzelfallbetrachtung erlaubt die generalisierende Aussage, dass nur solche Stellen im vorgenannten Sinne als gefährlich einzustufen sind, die die Möglichkeit eines Unfalls selbst dann befürchten lassen, wenn der Verkehrsteilnehmer die den spezifischen winterlichen Straßenverhältnissen angepasste gesteigerte Sorgfalt beachtet (vgl. BGHZ 31, 75 f.; Wellner, aaO, Rdnr. 151; OLG Stuttgart VersR 1972, 55; OLG Koblenz VersR 1983, 568).


bb) Nach diesen rechtlichen Vorgaben war der fragliche Straßenbereich nicht als gefährlich einzustufen: Die Straße verläuft eben. Wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, ist sie auch gut einsehbar und ausgebaut. Der Straßenbereich befindet sich in einem respektablen Abstand zum anschließenden Kreisverkehr, so dass sich der Verkehr an der Unfallörtlichkeit nicht vor die Notwendigkeit gestellt sieht, die Fahrtrichtung plötzlich zu verändern oder stark abzubremsen.

cc) Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist der fragliche Straßenbereich nicht deshalb als gefährlich einzustufen, weil die S.str. unmittelbar entlang der Blies verläuft und überdies von einem sonnenbeschienenen in einen schattigen Bereich übergeht, was das Entstehen von Glätte begünstigt.

aaa) Zwar können Straßen an Wasserläufen und Abhängen grundsätzlich Gefahrenstellen darstellen (so etwa BGHZ 31, 76; Hager, aaO, Rdnr. 134). Jedoch ist diese Rechtsaussage nicht so zu verstehen, dass allein wegen der abstrakt in Betracht kommenden Gefahr einer winterlichen Glatteisbildung auf Straßen im Bereich von Wasserläufen – Ähnliches gilt für die Neigung zur Glatteisbildung auf Brücken – ausnahmslos alle Straßen in der Nähe von Wasserläufen allein wegen ihrer exponierten Lage einer generellen Streupflicht unterliegen. Ein solches Rechtsverständnis würde die Grenze der zumutbaren Verkehrssicherung überschreiten: Da an den bezeichneten Örtlichkeiten die Gefahr einer Glättebildung bei Temperaturen im Bereich des Gefrierpunktes selbst bei klarem Wetter kaum je ausgeschlossen werden kann, wäre der Verkehrssicherungspflichtige zur Vermeidung haftungsrechtlicher Risiken gehalten, die fraglichen Straßenbereiche in den Wintermonaten nahezu lückenlos abzustreuen. Der Verkehrssicherungspflichtige müsste insbesondere auch zu Zeiten tätig werden, zu denen der allgemeine Straßenzustand noch keine Streumaßnahmen erfordert. Diese ausufernde Verkehrssicherungspflicht erscheint nicht sachgerecht. Vielmehr ist auch an solchen Straßen, die aufgrund ihrer Lage ein abstraktes Risiko bergen, eine Beurteilung der konkreten Gefahrenlage nicht entbehrlich. Nur dann, wenn der durchschnittliche Verkehrsteilnehmer diese aus der besonderen Lage resultierenden winterlichen Risiken trotz Beachtung der im Winter zu fordernden gesteigerten Sorgfalt nicht erkennen und nicht beherrschen kann, liegen die Voraussetzungen für eine Streupflicht vor (OLGR Zweibrücken 2001, 99):

bbb) Die spezifischen winterlichen Gefahren von Straßen, die im Bereich von Flüssen verlaufen, sind hinlänglich bekannt. Bereits in den Fragen zur Führerscheinprüfung wird der künftige Fahrzeugführer vor Glatteisbildung im Bereich von Brücken und Wasserläufen gewarnt. Mithin ist ein mit der gebotenen Sorgfalt fahrender Verkehrsteilnehmer gehalten, diese Straßenbereiche bei winterlichen Witterungsverhältnissen mit einer gesteigerten Achtsamkeit zu befahren. Dies gilt erst recht für einen Zweiradfahrer, der nicht nur den allgemeinen winterlichen Risiken, sondern auch der besonderen Instabilität seines einspurigen Fahrzeugs Rechnung tragen muss. Diesen Anforderungen wird ein Zweiradfahrer nur gerecht, wenn er dem Zustand der Straße besondere Aufmerksamkeit schenkt und er seine Geschwindigkeit insbesondere vor Richtungswechseln deutlich herabsetzt, um ein Ausbrechen des Kraftrades zu vermeiden. Bei Beachtung dieser gebotenen Sorgfalt waren die aus der Lage der Straße resultierenden Gefahren für einen sorgsamen Verkehrsteilnehmer in der Verkehrssituation des Klägers zum Unfallzeitpunkt beherrschbar:

ccc) Die Straße verläuft im Wesentlichen gerade und eben. Sie ist hinreichend breit und übersichtlich. Der Unfall ereignete sich nach der Darstellung des Klägers nicht in der auf Bl. 48 d. A. abgebildeten Kurve, sondern „im Übergang in den Kurvenbereich“ (Bl. 3, 60). Darüber hinaus wird ein Verkehrsteilnehmer nicht unvorhergesehen und plötzlich mit der besonderen Gefahrenlage des nahen Flusslaufs konfrontiert: Die Straße verläuft aus der Fahrtrichtung des Klägers, der unterwegs war, um seinen Roller bei der Firma A. abzuholen, kilometerweit mehr oder weniger parallel zur Blies. Mithin hatte ein Verkehrsteilnehmer in der Fahrsituation des Klägers hinreichende Veranlassung, sich auf die spezifischen winterlichen Gefahren auf Straßen, die an Flussläufen entlang verlaufen, einzustellen. Hinzu kommt, dass der glatte Straßenbereich durchaus erkennbar war: Der Zeuge K. hat ausgesagt, dass man auf der Fahrbahn einen weißen Schimmer habe erkennen können (Bl. 62 d.A.). Nach der Aussage des Zeugen M. B. waren die Straßenverhältnisse bei angepasster Fahrweise beherrschbar (Bl.64 d.A.). Dies erlaubt den zusammenfassenden Schluss, dass der Sturz bei sorgfältiger Beobachtung der Straße und vorsichtigem Heranfahren an die Kreuzung vermieden worden wäre.

ddd) Dieser Einschätzung steht die Faktizität des Unfallgeschehens nicht entgegen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger diesen gesteigerten Sorgfaltsanforderungen Rechnung getragen hätte: Der Kläger hat in seiner persönlichen Anhörung ausgesagt, er sei zum Unfallzeitpunkt etwa mit 35 km/h gefahren. Mithin hat er die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit seines Rollers (45 km/h) trotz der winterlichen Verhältnisse nahezu ausgeschöpft. Dies deckt sich mit der Aussage des Zeugen M.2. B., wonach dieser mit ca. 50 km/h hinter dem Roller hergefahren sei, ohne dass sich der Abstand zum Kläger wesentlich verringert habe (Bl. 63). Sodann hat der Kläger ausgesagt, er habe sein Fahrzeug kurz vor dem Kreisverkehr abbremsen wollen und sei hierbei gestürzt. Auch dieser Aussage ist nicht zu entnehmen, dass der Kläger bei seiner Fahrweise den winterlichen Witterungsverhältnissen und der besonderen Lage der Straße in der gebotenen Weise Rechnung getragen hätte. Vielmehr will dem Kläger – anders als den Zeugen B. – am fraglichen Tag weder die Nässe noch die Glätte aufgefallen sein (Bl. 60).




2. Weiterhin unterliegt die Räum- und Streupflicht selbst auf nachgewiesen verkehrswichtigen und gefährlichen Straßenbereichen zeitlichen Grenzen:

a) Die Streu- und Räumpflicht besteht erst dann, wenn eine allgemeine Glättebildung eingesetzt hat. Das Vorliegen vereinzelter Glättestellen reicht demgegenüber nicht aus, um die verkehrsicherungspflichtigen Körperschaften zu einem flächendeckenden Abstreuen des mitunter ausgedehnten Straßennetzes zu verpflichten (BGH, Beschl. v. 26.2.2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302; vgl. Beschl. v. 21.1.1982 – III ZR 80/81, VersR 1982,299; Brandenburgisches Oberlandesgericht, ZVR 2005, 40; OLGR Karlsruhe 2009, 57; OLGR Zweibrücken 2001, 99). Auch hier wird die Verkehrssicherungspflicht durch Zumutbarkeitserwägungen beschränkt: Da sich vereinzelte Glättebildung im Winter mehr oder weniger regelmäßig einstellt, müsste der Verkehrssicherungspflichtige in recht breitem Umfang vorbeugende Maßnahmen ergreifen, um einer Haftung zu entgehen. Dies überstiege einen zumutbaren Aufwand (OLGR Hamm 1995, 268).

b) Den Beweis für eine allgemeine Glättebildung zum Unfallzeitpunkt hat der hierfür darlegungs- und beweispflichtige Kläger nicht geführt.

aa) Die Witterungsverhältnisse waren am Unfalltag trocken. Reifglätte herrschte nur an solchen Stellen, die im Schatten lagen. Ob die Reifglätte an den beschatteten Flächen so stark ausgeprägt war, dass die eisglatten Flächen bei wertender Betrachtung eine Gefahrensituation darstellten, die einer allgemeinen Glätte entsprach, ist nicht bewiesen: Immerhin will der Kläger und auch die Zeugin S.2. auf der Hinfahrt zur Firma A. keine Glätte bemerkt haben. Zwar haben die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten ausgesagt, die „Winterglätte“ habe den gesamten Stadtbereich betroffen, soweit dieser nicht von der Sonne beschienen worden sei. Dieser Aussage lässt sich jedoch nicht entnehmen, ob gerade der verkehrswesentliche und gefährliche Innenstadtbereich – nur dieser unterlag der Streupflicht – in einem so starken Umfang von Glatteisbildung betroffen war, dass eine allgemeine Glätte anzunehmen war. Dagegen spricht zumindest, dass der eisglatte Straßenbereich nach den übereinstimmenden Aussagen der Zeugen K. und H. (Bl. 62 d.A.) auf eine Strecke von 20 – 30 m begrenzt war. Hierbei erlaubt der Umstand, dass die Beklagte tatsächlich ab 7.15 Uhr Streumaßnahmen durchführte, keinen sicheren Rückschluss: Die tatsächliche Übung muss sich mit dem Umfang der Verkehrssicherungspflicht nicht decken (vgl. Hager, aaO, Rdnr. 135): Der Verkehrssicherungspflichtige ist nicht daran gehindert, überobligationsmäßigen Winterdienst zu betreiben. Diese Motivation lag offensichtlich einem wesentlichen Teil der am Unfalltag durchgeführten Streumaßnahmen zugrunde: Nach Aussage des Zeugen Sch. (Bl. 65 f. d.A.) habe ein Hauptaugenmerk auf den Nebenstraßen gelegen, die bereits wegen der fehlenden Verkehrsbedeutung regelmäßig nicht obligatorisch abzustreuen waren.

bb) Erst recht ist nicht bewiesen, dass sich die allgemeine Glätte bereits um 3.30 Uhr eingestellt hätte, als der Zeuge Sch. auf Kontrollfahrt unterwegs war. Der Zeuge Sch. hat ausgesagt, er habe um 3.30 Uhr eine Kontrollfahrt durchgeführt und hierbei trockene Straßen vorgefunden. Diese Aussage ist nicht widerlegt. Es kann dahinstehen, ob der Zeuge auch gehalten gewesen wäre, durch die S.str. zu fahren. Selbst wenn der Zeuge bei einer solchen Fahrt in der S.str. vereinzelte Glättestellen vorgefunden hätte, hätte eine solche Situation nicht einer allgemeinen Straßenglätte entsprochen.

3. Unterliegt die Klage demnach bereits deshalb der Abweisung, weil die räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen der Streupflicht nicht bewiesen sind, kann unentschieden bleiben, ob die Beklagte ihre Räumpflicht erfüllte, wenn sie – unterstellt - ab 7.15 Uhr verpflichtet gewesen wäre, die verkehrswichtigen und gefährlichen Straßenbereiche abzustreuen. Indessen erschiene der Nachweis der Erfüllung auf dieser rechtlichen Prämisse nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme zweifelhaft:

a) Naturgemäß ist der Verkehrssicherungspflichtige nicht dazu imstande, alle betroffenen Straßen gleichzeitig abzustreuen. Er genügt seiner Streupflicht bereits dann, wenn er sich beim Winterdienst an einem Straßenschema orientiert, welches Art und Wichtigkeit der Verkehrswege ebenso berücksichtigt wie die Gefährlichkeit der Straßen und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs (vgl. BGH, Urt. v. 9.10.2003 – III ZR 8/03, NJW 2003, 3622, 3623).



b) Ob die Beklagte diesen Anforderungen gerecht wurde, erscheint ungewiss: Zwar hat sich der Winterdienst nach der Aussage des Zeugen Sch. an dem sog. Glätteplan orientiert; unter Einsatz von 7 Streufahrzeugen seien zunächst die Hauptstraßen, die in die Stadt hineinführten, abgestreut worden. Erst danach seien die Nebenstraßen befahren worden. Allerdings steht diese Aussage in Widerspruch zur Aussage des Zeugen E.. Dieser Zeuge hat ausgesagt, dass der Streuvorgang am fraglichen Tag nach Ansage erfolgt sei. Dies bedeute, dass die Fahrer der Einsatzfahrzeuge nicht nach der Liste vorgegangen seien, sondern die im Einzelnen vorgegebenen Straßen abgestreut hätten. Diese Aussage deckt sich mit dem auf Blatt 27 d.A. vorgelegten Streudienstbericht, der den fraglichen Straßenbereich nicht an prioritärer Stelle erwähnt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme spricht vieles dafür, dass die S.str. im Bereich der späteren Unfallstelle zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht abgestreut war. Dieses Unterlassen ist kaum verständlich, wenn bereits um 7:15 Uhr damit begonnen worden wäre, den Prioritätsbereich I abzufahren, zu dem die Unfallstelle unstreitig gehört.

B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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