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BGH Urteil vom 18.01.1994 - VI ZR 190/93 - Zur maßgebliche Kenntnis der Bediensteten einer juristischen Person für die Verjährung von Deliktsansprüchen

BGH v. 18.01.1994: Zur maßgebliche Kenntnis der Bediensteten einer juristischen Person für die Verjährung von Deliktsansprüchen


Der BGH (Urteil vom 18.01.1994 - VI ZR 190/93) hat entschieden:
Ist der Bedienstete einer juristischen Person innerhalb seines Aufgabenbereichs mit der Vorbereitung von Schadensersatzansprüchen befasst und insoweit ihr Wissensvertreter, so kann seine Kenntnis die Verjährung solcher Ansprüche nach BGB § 852 Abs 1 ohne Rücksicht darauf in Lauf setzen, dass für die Geltendmachung der Ansprüche eine andere Abteilung zuständig ist (Abgrenzung BGH, 1992-02-11, VI ZR 133/91, VersR 1992, 627f = NJW 1992, 1755f).


Tatbestand:

Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch mit der Behauptung, dass er als Geschäftsführer der Komplementärin der inzwischen in Konkurs geratenen W.-GmbH & Co. KG zahlreiche Arbeitnehmer als nicht sozialversicherungspflichtige sog. "Geringverdiener" geführt habe, obwohl sie über die Geringverdiener-Grenze hinaus beschäftigt und bezahlt worden seien. Infolgedessen habe er die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge nicht an die Klägerin abgeführt und dies durch Täuschungshandlungen zu verschleiern versucht, bis eine Betriebsprüfung durch die Klägerin die Hinterziehungen aufgedeckt habe.

Die Klägerin hat den undatierten Prüfbericht ihres Betriebsprüfers M. am 11. Februar 1987 der Staatsanwaltschaft zugeleitet. Ihr Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids ist im vorliegenden Rechtsstreit am 23. Februar 1990 bei Gericht eingegangen.

Der Beklagte hat bestritten, für die Beitragsverkürzungen verantwortlich zu sein. Im übrigen hat er die Einrede der Verjährung nach § 852 Abs. 1 BGB erhoben und die Auffassung vertreten, die Klägerin habe in der Person ihres Betriebsprüfers M. spätestens seit Februar 1987 Kenntnis von dem wesentlichen Umfang des angeblichen Schadens und der Person des vermeintlich Ersatzpflichtigen gehabt.

Das Landgericht hat den Beklagten unter Abweisung von Säumniszuschlägen in Höhe von 2.115,80 DM verurteilt, an die Klägerin 100.291,12 DM zu zahlen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage unter Zurückweisung der Anschlussberufung der Klägerin in vollem Umfang abgewiesen.

Mit der Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.


Entscheidungsgründe:

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann dahinstehen, ob der Beklagte der Klägerin in der von ihr behaupteten Weise Beiträge zur Sozialversicherung vorenthalten hat. Das Berufungsgericht meint, die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 Abs. 1 BGB habe spätestens am 11. Februar 1987 zu laufen begonnen und sei infolgedessen bei Einreichung des Mahnbescheids am 23. Februar 1990 bereits verstrichen gewesen. Spätestens bei Weiterleitung des Prüfberichts an die Staatsanwaltschaft habe die Klägerin nämlich eine für den Verjährungsbeginn ausreichende Kenntnis von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen gehabt. Dieser Bericht belege nämlich die Kenntnis ihres Betriebsprüfers M. davon, dass Manipulationen in der vom Beklagten geführten Gesellschaft zur Vorenthaltung von Beiträgen und damit zu einem Schaden von mindestens 83.714,52 DM geführt hätten und dass der Beklagte als Täter in Frage komme.

Die Kenntnis des M. hinsichtlich des Schadens sei der Klägerin zuzurechnen, da er ihr Wissensvertreter für den vorliegenden Schadensfall gewesen sei. Zu Unrecht berufe sich die Klägerin für ihre entgegengesetzte Auffassung auf das in NJW 1992, 1755 f. abgedruckte Urteil des erkennenden Senats vom 11. Februar 1992 - VI ZR 133/91. Während in jenem Fall die Vorbereitung und Verfolgung von Regressansprüchen allein der Rechtsabteilung obgelegen habe, sei vorliegend M. der - gleichsam institutionelle - Wissensvertreter der Klägerin gewesen. Die Abteilung "gemeinsame Beitragsüberwachung", der er angehöre, sei, wie schon ihr Name besage, eigens dafür bestimmt, der Klägerin Kenntnis von Beitragsverkürzungen und daraus folgenden Nachforderungs- und Regressansprüchen zu verschaffen. dass die juristische Wertung möglicherweise erst später durch die Abteilung für Rückstandssachbearbeitung zu erfolgen gehabt habe, stehe nicht entgegen.

Die Klägerin habe auch nicht erst Kenntnis vom Schaden erlangt, als sie vom Konkurs der W.-KG erfahren habe, da hierdurch lediglich die Möglichkeit entfallen sei, neben dem Beklagten auch noch diese zusätzliche Schuldnerin in Anspruch zu nehmen.


II.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.

1. Erfolglos wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht der Klägerin die Kenntnis des Betriebsprüfers M. mit der Folge zugerechnet hat, dass gemäß § 852 Abs. 1 BGB der geltend gemachte Anspruch bei Einreichung des Antrags auf Erlass eines Mahnbescheids bereits verjährt war.

a) Sie macht geltend, dass M. nicht der zuständige Bedienstete gewesen sei, und sieht einen Verfahrensfehler des Berufungsgerichts darin, dass zu diesem Punkt der Sachvortrag der Klägerin nicht hinreichend gewürdigt worden sei. Indessen lassen die Ausführungen des Berufungsgerichts insoweit einen Rechts- oder Verfahrensfehler nicht erkennen.

aa) Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 Abs. 1 BGB zu laufen beginnt, sobald der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt. Das Berufungsgericht hat auch nicht verkannt, dass der Klägerin nach den für die Anwendung des § 852 Abs. 1 BGB auf juristische Personen des öffentlichen Rechts entwickelten Grundsätzen nicht die Kenntnis eines jeden Bediensteten zugerechnet werden kann, sondern zu prüfen ist, ob es sich bei dem Bediensteten um einen Wissensvertreter handelt (Senatsurteile vom 19. März 1985 - VI ZR 190/83 - VersR 1985, 735 f.; vom 22. April 1986 - VI ZR 133/85 - VersR 1986, 917 ff. sowie das bereits erwähnte Senatsurteil vom 11. Februar 1992 - VI ZR 133/91 - aaO). Das ist nach dem insoweit anzuwendenden Rechtsgedanken des § 166 BGB dann der Fall, wenn der Bedienstete vom Anspruchsträger mit der Erledigung der betreffenden Angelegenheit, hier also mit der Betreuung und Verfolgung der in Frage stehenden Ersatzforderung, in eigener Verantwortung betraut worden ist (Senatsurteile vom 19. März 1985, 22. April 1986 und 11. Februar 1992 - jeweils aaO -; vgl. auch BGHZ 55, 307, 311; 83, 293, 296; BGH, Urteil vom 29. Januar 1968 - III ZR 118/67 - VersR 1968, 453, 455).

bb) Gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass M. als Wissensvertreter der Klägerin anzusehen sei, wendet sich die Revision ohne Erfolg. Sie will aus dem Senatsurteil vom 11. Februar 1992, nach welchem es - wenn innerhalb der regressbefugten Behörde mehrere Stellen für die Bearbeitung des Schadensfalls zuständig sind - auf den Kenntnisstand der Bediensteten der für Regresse zuständigen Stelle ankommt, herleiten, dass vorliegend allein die Kenntnis ihrer Abteilung für Rückstandssachbearbeitung maßgeblich sei. Hierzu macht sie geltend, dass bei der Klägerin mehrere Stellen für den Fall zuständig gewesen seien. Die Nachberechnungen, die ihrer Forderung zugrundelägen, seien durch die "gemeinsame Beitragsüberwachung" vorgenommen worden, die sie zusammen mit einer anderen Behörde durchführe. Im Rahmen dieser gemeinsamen Beitragsüberwachung sei vorliegend M. tätig geworden, der gleichzeitig Mitglied ihrer Abteilung "Betriebsprüfung" sei. Zwar hätten er und sein Abteilungsleiter E. Kenntnis von den Nachberechnungen gehabt und seien auch der Auffassung gewesen, dass der Verdacht eines strafbaren Verhaltens des Beklagten bestehe. Zuständig für Regresse und deren Bearbeitung sei indes allein die Abteilung Rückstandssachbearbeitung gewesen, deren zuständiger Sachbearbeiter und Gruppenleiter P. von dem Vorgang erst am 5. Oktober 1988 erfahren habe.

Auch bei Zugrundelegung dieses Sachvortrags vermag jedoch der Senat der Auffassung der Revision nicht beizupflichten, dass es für den Beginn der Verjährung nach § 852 Abs. 1 BGB allein auf die Kenntnis der Abteilung für Rückstandssachbearbeitung ankomme. Das ergibt sich auch nicht aus dem von der Revision herangezogenen Senatsurteil vom 9. Februar 1992 - aaO. Zwar bestehen vom rechtlichen Ansatz her keine Bedenken dagegen, die in diesem Urteil für Regresse entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden Fall zu übertragen, in welchem nicht eigentlich ein Regress, sondern ein originärer Schadensersatzanspruch der Klägerin aus unerlaubter Handlung zu beurteilen ist. Jenes Urteil betraf indessen, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, einen ganz anders gelagerten Sachverhalt. Dort hatte nämlich ein Bediensteter der Leistungsabteilung der regressbefugten Landesversicherungsanstalt Kenntnis von dem Regressanspruch erlangt, für dessen Vorbereitung und Verfolgung eine andere Abteilung, nämlich die Rechtsabteilung, ausschließlich zuständig war. Mithin konnte in dem damals entschiedenen Fall eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten innerhalb des Anspruchträgers dahin erfolgen, dass der Bedienstete, auf dessen Kenntnisstand es für den Beginn der Verjährungsfrist nach § 852 Abs. 1 BGB ankommen konnte, mit der Betreuung und Verfolgung des Regressanspruchs gar nicht befasst war. Eine Zurechnung seiner Kenntnis als derjenigen eines Wissensvertreters kam nach den oben dargelegten Grundsätzen deshalb nicht in Betracht.

Demgegenüber hat vorliegend das Berufungsgericht mit Recht verneint, dass eine derartige ausschließliche Zuständigkeit der Abteilung für Rückstandssachbearbeitung vorgelegen hat. Insoweit kann den Ausführungen des erkennenden Senats im Urteil vom 11. Februar 1992 auch nicht entnommen werden, dass etwa die Zuständigkeit für die gerichtliche und außergerichtliche Geltendmachung der Regress- bzw. Schadensersatzansprüche (im Sinn einer Verfahrenszuständigkeit) allein maßgeblich sein solle. Vielmehr hat der Senat darauf abgehoben, ob die Abteilung, welcher der betreffende Bedienstete angehört, mit der Vorbereitung und Verfolgung von Regressansprüchen betraut ist. Vorliegend ist nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die insoweit mit dem Sachvortrag der Klägerin übereinstimmen, davon auszugehen, dass M. sowohl bei seiner Tätigkeit im Rahmen der "gemeinsamen Beitragsüberwachung", also einer besonderen Einrichtung, welche die Klägerin gemeinsam mit der LVA zur Beitragsüberwachung im Sinn der Verordnung über die Überwachung der Entrichtung der Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen (Beitragsüberwachungsverordnung) vom 28. Juni 1963 - BGBl. I 455 ff. - unterhält, als auch als Angehöriger der Abteilung Betriebsprüfung innerhalb der Klägerin damit betraut war, Beitragsverkürzungen zu ermitteln und der Klägerin hierüber Bericht zu erstatten. Unter diesen Umständen kann von einer ausschließlichen Zuständigkeit der Abteilung Rückstandssachbearbeitung für Nachforderungs- und Schadensersatzansprüche im Sinn des Senatsurteils vom 11. Februar 1992 - aaO nicht die Rede sein. Vielmehr war daneben die Abteilung Betriebsprüfung ebenfalls mit dem Anspruch befasst, indem sie seine tatsächlichen Voraussetzungen zu klären hatte, eine Entschließung über die Einschaltung der Abteilung Rückstandssachbearbeitung ebenso wie der Strafverfolgungsbehörden treffen musste und sich dabei - wie die Revision einräumt - auch eine Meinung über die persönliche Verantwortlichkeit des Beklagten für die Beitragsverkürzungen gebildet hat. Bei dieser Sachlage ist es nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht den Betriebsprüfer M. als Wissensvertreter der Klägerin in Bezug auf die für § 852 BGB maßgebenden Umstände angesehen hat.

b) Erfolglos zieht die Revision auch in Zweifel, dass die der Klägerin zuzurechnende Kenntnis des M. ausgereicht habe, um die Verjährungsfrist nach § 852 Abs. 1 BGB in Lauf zu setzen. Sie meint, nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts habe die Klägerin am 11. Februar 1987 lediglich gewusst, dass ihr durch Manipulationen in der vom Beklagten geführten Gesellschaft durch Vorenthaltung von Versicherungsbeiträgen ein Schaden in Höhe von mindestens 83.714,52 DM entstanden sei; die persönliche Verantwortlichkeit des Beklagten sei jedoch dem Betriebsprüfer M. in diesem Zeitpunkt noch keineswegs bekannt gewesen. Aus den vom Berufungsgericht gewürdigten Unterlagen (Vermerke der Kriminalpolizei vom 13. März und 12. September 1986 sowie Schreiben der Klägerin vom 24. September 1986 an die Staatsanwaltschaft) folge noch nicht eine hinreichend verlässliche Kenntnis von der Täterschaft des Beklagten im Sinn des § 852 Abs. 1 BGB, da auch aus der Sicht der Klägerin lediglich der Verdacht einer Straftat des Beklagten vorgelegen habe und weder ihre eigene Prüfung noch die Ermittlungen der Kriminalpolizei abgeschlossen gewesen seien.

Indessen ist es entgegen der Auffassung der Revision nicht Voraussetzung für die nach § 852 Abs. 1 BGB erforderliche Kenntnis des Geschädigten von der Person des Ersatzpflichtigen, dass ein gegen diesen geführtes polizeiliches Ermittlungsverfahren bereits abgeschlossen ist. Insbesondere ist es für den Beginn der Verjährungsfrist nicht erforderlich, dass der Geschädigte alle Einzelumstände kennt, die für die Beurteilung der Schuldfrage möglicherweise in Betracht kommen oder dass sich ihm die Situation so darstellt, dass er einen Rechtsstreit im wesentlichen risikolos und ohne jeglichen Zweifel an der Beweisbarkeit führen kann (Senatsurteile vom 6. Februar 1990 - VI ZR 75/89 - VersR 1990, 539 und vom 16. Oktober 1990 - VI ZR 275/89 - VersR 1991, 179, 180). Vielmehr ist die erforderliche Kenntnis vorhanden, wenn die dem Geschädigten bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden als naheliegend erscheinen zu lassen (Senatsurteil vom 3. Juni 1986 - VI ZR 210/85 - VersR 1986, 1080, 1081). Entscheidend ist, ob dem Geschädigten bei seinem Kenntnisstand die Erhebung einer Schadensersatzklage gegen eine bestimmte Person - sei es auch nur in Form der Feststellungsklage - zumutbar ist (Senatsurteil vom 31. Oktober 1989 - VI ZR 84/89 - VersR 1990, 167 sowie vom 6. Februar 1990 und 16. Oktober 1990, jeweils aaO). Nach diesen Grundsätzen konnte das Berufungsgericht den oben genannten Unterlagen rechtsfehlerfrei eine für § 852 Abs. 1 BGB ausreichende Kenntnis der Klägerin von der Person des Ersatzpflichtigen entnehmen.

2. Ohne Erfolg beanstandet die Revision ferner, dass das Berufungsgericht keine Hemmung der Verjährung gegenüber dem Beklagten aufgrund der Zahlungsvereinbarung mit der W.-KG angenommen hat. Die Revision will aus §§ 852 Abs. 2, 205, 422 ff. BGB sowie §§ 129, 161 HGB herleiten, dass die Klägerin während des Bestehens dieser Vereinbarung gehindert gewesen sei, wegen der Beitragsrückstände gegen den Beklagten persönlich vorzugehen. Dabei verkennt sie jedoch, dass eine Hemmung der Verjährung grundsätzlich nur zugunsten desjenigen Gesamtschuldners wirkt, in dessen Person sie eintritt (BGH, Urteil vom 6. April 1977 - IV ZR 174/76 - WM 1977, 759, 760; MünchKomm-Selb, BGB, 2. Aufl., § 425 Rn. 9). Die mit der W.-GmbH & Co. KG getroffene Rückzahlungsvereinbarung hat weder die Fälligkeit des Schadensersatzanspruchs der Klägerin gegen den Beklagten beeinflusst noch war mit ihr eine Stillhalteverpflichtung zugunsten des Beklagten verbunden. Die gegenteilige Auffassung der Revision findet im Gesetz keine Stütze.