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Kammergericht Berlin Beschluss vom 03.06.2010 - 12 U 40/10 - Zur Haftungsverteilung bei Kollision eines Linksabbiegers mit einem Geradeausfahrer auf einer ampelgeregelten Kreuzung mit Grünpfeil bei ungeklärter Ampelschaltung

KG Berlin v. 03.06.2010: Zur Haftungsverteilung bei Kollision eines Linksabbiegers mit einem Geradeausfahrer auf einer ampelgeregelten Kreuzung mit Grünpfeil bei ungeklärter Ampelschaltung


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 03.06.2010 - 12 U 40/10) hat entschieden:
  1. Der Kläger kann die Berufung nicht erfolgreich damit begründen, das Erstgericht habe Ergebnisse einer Beweisaufnahme verwertet, die nach dem Sach- und Streitstand nicht erforderlich gewesen wäre.


    Bleibt bei einer Kollision zwischen einem Linksabbieger und einem Geradeausfahrer auf einer mit einer Lichtzeichenanlage mit grünem Räumpfeil versehenen Kreuzung ungeklärt, ob der Abbiegepfeil das Linksabbiegen freigab und lässt sich nicht feststellen, bei welcher Ampelschaltung der Geradeausfahrer die Haltelinie überquert hat, haften die Unfallbeteiligten bei gleicher Betriebsgefahr ihrer Fahrzeuge jeweils zur Hälfte.

Gründe:

I.

Der Kläger macht gegenüber den Beklagten Schadensersatzansprüche geltend aus einem Verkehrsunfall vom 20. September 2008, gegen 08.45 Uhr auf der ampelgeregelten, mit Räumpfeilen für Linksabbieger versehenen Kreuzung Turmstraße/ Stromstraße in Berlin; die Kollision zwischen dem in seinem Eigentum stehenden, von ihm gehaltenen und geführten Pkw Renault Espace und dem vom Erstbeklagten geführten, vom Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten versicherten VW Golf ereignete sich, als der Kläger - die Turmstraße in westlicher Richtung befahrend - die Kreuzung geradeaus überqueren wollte, während der Erstbeklagte aus der Gegenrichtung nach links abbog.

Der Kläger behauptet, bei grünem Ampellicht in die Kreuzung eingefahren zu sein, während die Beklagten behaupten, der Kläger habe bereits rotes Licht gehabt, während der Erstbeklagte die Gegenfahrspur erst überquert habe, als er den grünen Räumpfeil habe leuchten sehen.

Das Landgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme (persönliche Anhörung der Fahrzeugführer sowie Vernehmung der von den Parteien benannten Zeugen) und unter Berücksichtigung der gegen beide Fahrzeugführer geführten Bußgeldverfahren auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50% stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen.

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht aufklärbar, wie sich der Unfall ereignet habe und wer ihn verschuldet habe; es sei zwar möglich, dass entweder die Angaben des Klägers oder auch die Behauptungen der Beklagten zuträfen; jedoch hätten weder der Kläger noch der Erstbeklagte einen überzeugenden und glaubwürdigen Eindruck gemacht, wobei gleiches für die von ihnen benannten Zeugen gelte.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der zweiten Hälfte seines Unfallschadens begehrt.

Er macht geltend: Das Landgericht sei rechtsirrig davon ausgegangen, dass der Unfall nicht aufzuklären sei; hierbei habe sich das Landgericht insbesondere auf die teils widersprüchlichen Angaben der von den Beklagten benannten Zeugen gestützt.

Das Landgericht hätte - und darin liege die erhebliche Rechtsverletzung des Landgerichts - diese Zeugen jedoch gar nicht vernehmen dürfen, weil der Erstbeklagte in seiner Anhörung vor dem Landgericht widersprüchliche Angaben zum Unfallhergang gemacht habe.

Das Landgericht hätte jedoch erst bei einer widerspruchsfreien Unfalldarstellung des Erstbeklagten eine Zeugenvernehmung anordnen dürfen; die Verwertung der sodann widersprüchlichen Angaben der Zeugen unterstreiche dies; hierauf beruhe das Urteil (S. 2, 5 der Berufungsbegründung).


II.

Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg; die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Beides ist nicht der Fall.

1. Verfahrensfehler durch Vernehmung der von den Beklagten benannten Zeugen und Verwertung der Aussagen

a) Entgegen der Auffassung des Klägers liegt kein Verfahrensfehler vor.

Denn das Landgericht war gehalten, die von den Beklagten benannten Zeugen zu vernehmen zum Zwecke der Überprüfung der Behauptung der Beklagten, der Kläger sei bei für ihn rotem Ampellicht in die Kreuzung eingefahren, was der Fall gewesen wäre, wenn der Erstbeklagte bei Aufleuchten des grünen Räumpfeils den Fahrstreifen des Kläger überquert hätte (vgl. Ampelschaltplan, Bl. 63 der Akten des Amtsgerichts Tiergarten betreffend das Verfahren gegen den Kläger).

Entgegen der Meinung des Klägers bot der dem Landgericht im Zeitpunkt des Beweisbeschlusses vom 3. Dezember 2009 (S. 3 des Protokolls des Landgerichts) bekannte Sach- und Streitstand eine hinreichende Grundlage zum Erlass dieses Beweisbeschlusses.

Denn die Beklagten hatten in der Klageerwiderung vorgetragen, der Kläger sei bei für ihn rotem Ampellicht in die Kreuzung eingefahren und der Erstbeklagte sei erst in die Gegenfahrbahn eingefahren, als der grüne Räumpfeil geleuchtet hat. Letzteres hat auch der Erstbeklagte in seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht am 3. Dezember 2009 vor dem Landgericht erklärt.

Die in der polizeilichen Unfallaufnahme als Äußerung des Erstbeklagten niedergelegte Zusammenfassung (“ich habe gerade noch gelb gehabt u. der Abbiegepfeil strahlte ab”) steht dem nicht entgegen.

Auch wenn es zutrifft, dass der Grünpfeil erst ca. 2 Sekunden nach Umschalten der für den Erstbeklagten beim Einfahren maßgeblichen LZA auf Rot aufleuchtet, so ist bei verständiger Auslegung der von der Polizei dokumentierten Kurzfassung der Äußerung des Beklagten diese dahin zu verstehen, dass er erst bei Aufleuchten des Grünpfeils abgebogen sein will; hierbei ist auch zu beachten, dass zwischen dem Überqueren der Haltelinie bei spätem Gelb und dem Queren der Gegenfahrbahn naturgemäß Zeit vergeht, deren Länge von der Geschwindigkeit des Fahrzeugs und der zurückgelegten Strecke abhängt.

Auf die vom Kläger auf S. 3-4 der Berufungsbegründung vorgetragenen Einzelheiten der Zeugenaussage des Erstbeklagten in der Hauptverhandlung gegen den Kläger vor dem AG Tiergarten am 26. Mai 2009 kommt es nicht an. Denn das Landgericht konnte sie bei seinem Beweisbeschluss vom 3. Dezember 2009 nicht berücksichtigen, weil der Kläger sie nicht zuvor vorgetragen hatte. Im Protokoll des AG Tiergarten heißt es zur Aussage des Erstbeklagten lediglich “Der Zeuge äußerte sich zur Sache”.

Die Frage, ob der Erstbeklagte hat nach links abbiegen oder wenden wollen, ist für die Behauptung der maßgeblichen Ampelschaltung nicht relevant; insoweit haben die Beklagten durchweg behauptet, bei Überqueren der Gegenfahrbahn habe der grüne Räumpfeil geleuchtet.

Die vom Kläger aufgezeigten Widersprüche in der übrigen Sachdarstellung der Beklagten durfte das Landgericht nicht dazu benutzen, die beantragte Zeugenvernehmung abzulehnen, wollte es sich nicht dem Vorwurf einer - unzulässigen - vorweggenommenen Beweiswürdigung aussetzten.

Bei der nach Beweisaufnahme durchgeführten Beweiswürdigung hat das Landgericht dann zutreffend die Widersprüchlichkeiten im Bereich des Randgeschehens zu Lasten der Beklagten gewertet und die Angaben des Erstbeklagten und der Zeugen der Beklagten im Ergebnis nicht für überzeugend gehalten. Dies sieht auch der Kläger auf S. 4-5 der Berufungsbegründung.

b) Letztlich kann jedoch dahinstehen, ob das Landgericht auf der Grundlage des Sachvortrags der Beklagten die von ihnen benannten Zeugen hat vernehmen dürfen.

aa) Denn jedenfalls durfte es deren Aussagen verwerten. Denn insoweit gilt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 1. März 2006 - XII ZR 210/04 - BGHZ 166, 283 = NJW 2006, 1657:
“Ein Beweisergebnis ist im Zivilprozess nicht schon deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil es unter Verstoß gegen Vorschriften des Verfahrensrechts gewonnen wurde (vgl. Senatsurteil vom 2. November 1988 - IVb ZR 109/89 - FamRZ 1989, 373 zu § 294 Abs. 2 ZPO a.F.). Denn nicht aus jedem Beweisgewinnungsverbot folgt auch ein Beweisverwertungsverbot (vgl. Fahl JuS 1996, 1013, 1014). Dem entspricht, dass das Rechtsmittelgericht den Tatsachenvortrag einer Partei auch dann zu berücksichtigen hat, wenn die Vorinstanz ihn nach § 296 Abs. 1 ZPO als verspätet hätte zurückweisen müssen (vgl. BVerfG NJW 1985, 1150). Soweit es sich hierbei um Vorschriften handelt, die der Verfahrensbeschleunigung dienen, leuchtet dies unmittelbar ein, weil der einmal verfehlte Regelungszweck auch durch Nichtberücksichtigung eines solchen Vortrags nicht mehr erreicht werden könnte (vgl. Roth JZ 2005, 174, 176).

Es kommt auch sonst immer wieder vor, dass ein Instanzgericht rechtsirrig von der Schlüssigkeit eines Parteivortrages ausgeht und deshalb Beweise erhebt, deren Ergebnis sich die darlegungspflichtige Partei zu eigen und damit ihren Vortrag erst schlüssig macht. Ein typischer Unterfall ist der Ausforschungsbeweis. Auch in diesem Fall handelt es sich um ein prozessordnungswidrig gewonnenes Beweisergebnis. Soweit ersichtlich, bestehen in der eher spärlichen Rechtsprechung und Literatur hierzu aber allein deswegen keine Bedenken gegen die Verwertung dieses Ergebnisses (vgl. Peters aaO S. 157 m.N.; OLG Brandenburg NJW-RR 2001, 1727 f.).

bb) Etwas anderes mag gelten, wenn der Verstoß gegen verfahrensrechtliche Vorschriften (etwa gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit und Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme) geeignet ist, die Güte des Beweisergebnisses zu beeinträchtigen (vgl. Peters aaO S. 158 m.N.). Ein derartiger Verstoß liegt hier aber nicht vor. Der gerügte Verfahrensfehler betrifft allein die Anordnung der Beweisaufnahme, nicht aber die Art und Weise ihrer Durchführung.

cc) Aus dem Gebot der Berücksichtigung des gesamten Inhalts einer durchgeführten Beweisaufnahme (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO) folgt, dass mangels anderweitiger gesetzlicher Regelung ein Verbot der Verwertung eines vom Gericht erhobenen Beweises nur in Betracht kommt, wenn die Beweiserhebung ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht einer Partei verletzt, ohne dass dies zur Gewährleistung eines im Rahmen der Güterabwägung als höherwertig einzuschätzenden Interesses der anderen Partei oder eines anderen Rechtsträgers nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt erscheint (vgl. OLG Celle aaO).”
Diesen Ausführungen des BGH schließt sich der Senat an mit der Folge, dass das Landgericht jedenfalls das Ergebnis der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme verwerten durfte.

bb) Es kommt hinzu, dass der Kläger den von ihm gerügten Verfahrensfehler (Fortsetzung der Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugen der Beklagten) nach § 295 ZPO nicht mehr rügen kann, weil eine rechtzeitige Rüge in der mündlichen Verhandlung am 3. Dezember 2009 vor dem Landgericht unterblieben ist.

2. Im Übrigen beruht das angefochtene Urteil - soweit es zu Lasten des Klägers die Klage zu 50% abgewiesen hat - auch nicht auf dem angeblichen Verfahrensfehler, also der nunmehr im Berufungsverfahren beanstandeten Zeugenvernehmung und deren Verwertung.

Denn das Landgericht hat die Angaben der von den Beklagten benannten Zeugen nicht für überzeugend und glaubwürdig gehalten und sie daher auch nicht zu Lasten des Klägers verwertet, sondern lediglich zu Lasten der Beklagten. Anderenfalls wäre die Klage vollständig abzuweisen gewesen.

So aber hat das Landgericht auf S. 4 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt:
“vielmehr ist es möglich, dass die Angaben des Klägers zutreffen, aber auch die der Beklagten. Weder der Kläger noch der Beklagte zu 1) haben auf das Gericht einen überzeugenden und glaubwürdigen Eindruck gemacht, gleiches gilt für die von ihnen benannten Zeugen.”
Bei einem solchen - nach § 286 ZPO zutreffenden - Beweisergebnis, wenn also ungeklärt bleibt, ob der grüne Pfeil das Linksabbiegen freigab, kann der Geradeausfahrer - hier also der Kläger - vom Unfallgegner bei gleicher Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge nur die Hälfte seines Schadens ersetzt verlangen; denn bei einem Zusammenstoß zwischen einem Linksabbieger und einem entgegenkommenden Kfz auf einer ampelgeregelten und mit grünem Pfeil versehenen Kreuzung muss der Geradeausfahrer, der daraus für ihn günstige Rechtsfolgen herleiten will, beweisen, dass der grüne Pfeil für den Linksabbieger nicht aufgeleuchtet hat (BGH, Urteil vom 13. Februar 1996 - VI ZR 126/95 - NJW 1996, 1405 = VersR 1996, 513 = NZV 1996, 231 = DAR 1996, 240; Senat, Urteil vom 10. Mai 1999 - 12 U 9612/97 - NZV 1999, 512 = DAR 1999, 504 L = KGR 2002, 161; Urteil vom 11. Februar 2002 - 12 U 117/01 - NZV 2003, 291 = VRS 103, 412 = KGR 2003, 7 = VersR 2003, 1274 L).

Diesen Beweis hat der Kläger nicht geführt, da er nach der nicht zu beanstandenden Überzeugung des Landgerichts, der der Senat folgt, nicht beweisen konnte (§ 286 ZPO), dass er bei grünem Ampellicht in die Kreuzung eingefahren ist. Für dieses Beweisergebnis kam es nach den zutreffenden Ausführungen des Landgerichts auf S. 4 des angefochtenen Urteils nicht auf die Aussagen der Zeugen der Beklagten an; diese führten lediglich dazu, dass die Klage nicht vollständig abgewiesen werden konnte, weil sie nicht überzeugend waren.


III.

Es wird angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.