Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Beschluss vom 16.08.1976 - AR (B) 34/76 - 3 Ws (B) 93/76 - Zur Abgrenzung von Halten und Parken beim Be- oder Entladen in zweiter Reihe

KG Berlin v. 16.08.1976: Zur Abgrenzung von Halten und Parken beim Be- oder Entladen in zweiter Reihe


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 16.08.1976 - AR (B) 34/76 - 3 Ws (B) 93/76) hat entschieden:
§ 12 Abs 4 Satz 1 und 2 StVO gebietet jedem Verkehrsteilnehmer, der parken oder auch nur halten will, den rechten Seitenstreifen zu benutzen, wenn dieser dazu ausreichend befestigt ist, sonst an den rechten Fahrbahnrand heranzufahren. Die Vorschrift läßt jedoch Ausnahmen für denjenigen, der nur halten will, ausdrücklich zu; denn sie gilt für den Haltenden nur "in der Regel". Das bedeutet, daß entgegen dem unmißverständlich scheinenden, durch § 41 Abs 2 Nr 8 Zeichen 286 StVO jedoch widerlegten Wortlaut des § 12 Abs 2 StVO nicht jedes länger als drei Minuten dauernde Halten als Parken gilt, sondern nur ein Halten, das nicht zum Zweck des Einsteigens und Aussteigens oder des Beladens oder Entladens stattfindet.


Gründe:

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer - wie die Urteilsgründe ergeben, vorsätzlichen - Zuwiderhandlung gegen § 12 Abs 4 StVO nach den §§ 49 Abs 1 Nr 12 StVO, 24 StVG zu einer Geldbuße von 10,00 DM verurteilt. Mit der fristgerecht und formgerecht eingelegten und begründeten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene Verletzung sachlichen Rechts. Auf seinen Antrag läßt der Senat das Rechtsmittel nach § 80 Abs 1 OWiG zur Fortbildung des Rechts zu. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

1. Das Amtsgericht stellt fest: Der Betroffene stellte am 22. Juli 1975 gegen 5.35 Uhr vor dem Grundstück B. in B. seinen Personenkraftwagen in zweiter Reihe neben am rechten Fahrbahnrand geparkten Fahrzeugen ab und brachte mehrere Kästen mit leeren Bierflaschen in ein Ladengeschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite. In dem Geschäft rechnete er über das Leergut ab und kaufte eine Zeitung. Der Vorgang dauerte etwa fünf bis zehn Minuten.

2. Diese Feststellungen tragen die Verurteilung wegen einer Zuwiderhandlung gegen § 12 Abs 4 StVO nicht.

Die Rechtsprechung zu § 15 StVO 1937 ließ das Halten in zweiter Reihe, etwa zum Beladen und Entladen, ausnahmsweise zu, wenn die Ausnutzung des nächstgelegenen freien Platzes am Fahrbahnrand bei Berücksichtigung einerseits der Entfernung bis zu dieser Stelle sowie der Interessen des Haltenden (hier können die Menge und Beschaffenheit des Ladegutes eine Rolle spielen) und andererseits des Grades der Beeinträchtigung der anderen Verkehrsteilnehmer nicht zumutbar ist (vgl BGHSt 23, 195, 198; BayObLG VRS 37, 218; Senat in VRS 29, 137; jeweils mit Nachweisen). An dieser Rechtslage hat die jetzt geltende StVO nichts geändert. Zwar gebietet deren § 12 Abs 4 Satz 1 und 2 - wie bereits die Rechtsprechung zu § 15 Abs 1 StVO 1937 (vgl BGHSt 17, 240) - jedem Verkehrsteilnehmer, der parken oder auch nur halten will, den rechten Seitenstreifen zu benutzen, wenn dieser dazu ausreichend befestigt ist, sonst an den rechten Fahrbahnrand heranzufahren. Die Vorschrift läßt jedoch Ausnahmen für denjenigen, der nur halten will, ausdrücklich zu; denn sie gilt für den Haltenden nur "in der Regel". Nach § 12 Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 StVO ist unabdingbare Voraussetzung für das Halten lediglich, daß der Haltende dabei auf der rechten Seite rechts bleibt, also sein Fahrzeug so aufstellt, daß es nicht über die Fahrbahnmitte hinausragt. Demgemäß haben die Obergerichte in ihren Entscheidungen zu § 12 Abs 4 StVO 1971 an der zu § 15 StVO 1937 entwickelten Rechtsprechung über das Halten in zweiter Reihe festgehalten (vgl BayObLGSt, 1972, 94 = VRS 43, 389; OLG Karlsruhe VRS 45, 316; OLG Saarbrücken VRS 46, 69; KG DAR 1975, 212 und VerkMitt 1974, 13).

3. Das Amtsgericht hält in dem vorliegenden Fall den § 12 Abs 4 Satz 2 StVO nicht für anwendbar. Es meint, das Verkehrsverhalten könne nicht unter dem Gesichtspunkt des Haltens beurteilt werden, weil das Ladegeschäft länger als drei Minuten gedauert und der Betroffene seinen Kraftwagen verlassen hat. Der Betroffene habe daher seinen Wagen geparkt (§ 12 Abs 2 StVO), und das sei nach § 12 Abs 4 Satz 1 StVO in zweiter Reihe ausnahmslos unzulässig. Diese Auffassung wird auch von Möhl-Rüth (§ 12 StVO RdNr 2 und 39) und Booß (§ 12 StVO S 135) vertreten. Auch Jagusch (Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl, § 12 RdNr 42) ist der Ansicht, daß sich § 12 Abs 2 StVO auch auf das Halten zum Zweck des Einsteigens und Aussteigens und zum Beladen oder Entladen bezieht. Eine obergerichtliche Entscheidung ist, soweit ersichtlich, zu dieser Frage noch nicht ergangen. Die oben angeführten Entscheidungen zu § 12 Abs 4 StVO betreffen überwiegend Fälle, in denen das Halten in zweiter Reihe nicht länger als drei Minuten gedauert und der Fahrer das Fahrzeug nicht verlassen hat. Lediglich in dem von dem OLG Karlsruhe (VRS 45, 316) entschiedenen Fall hatte der Betroffene - zum Entladen schwerer Kisten - knapp 15 Minuten in zweiter Reihe gehalten; sein Verhalten war aber schon deshalb unzulässig, weil er die Straße völlig blockiert und dadurch einen erheblichen Fahrzeugstau verursacht hatte. Der Senat hält die Ansicht des Amtsgerichts für unzutreffend.

4. Während sich nach § 16 Abs 1 StVO 1937 das Halten vom Parken nur durch seine besondere Zweckbestimmung (zum Einsteigen oder Aussteigen oder zum Beladen oder Entladen) unterschied, kennt die StVO 1971 neben demselben zweckbestimmten Halten (vgl § 12 Abs 1 Nr 6 Buchst b iVm § 41 Abs 2 Nr 8 Zeichen 286 StVO) nunmehr in § 12 Abs 2 StVO auch ein vom Zweck unabhängiges Halten, das sich vom Parken allein durch die zeitliche Begrenzung auf drei Minuten bei Anwesenheit des Fahrzeugführers unterscheidet (vgl Cramer, Straßenverkehrsrecht, § 12 StVO RdNr 7ff; Jagusch § 12 StVO RdNr 19). Daß § 12 Abs 2 StVO nicht auch das zweckbestimmte Halten meint, ergibt sich eindeutig aus § 41 Abs 2 Nr 8 Zeichen 286 StVO. Denn dieser Vorschrift ist zu entnehmen, daß das Aufstellen eines Fahrzeugs zu einem der genannten Zwecke unabhängig von der zeitlichen Dauer und der Anwesenheit des Fahrzeugführers als Halten anzusehen ist. Wäre § 12 Abs 2 StVO auch auf dieses zweckbestimmte Halten anwendbar, so dürfte im eingeschränkten Halteverbot nicht länger als drei Minuten beladen oder entladen werden. Denn wo das Halten verboten ist, ist erst recht das Parken unzulässig (vgl Jagusch aaO, § 12 StVO RdNr 21). Das bedeutet, daß entgegen dem unmißverständlich scheinenden, durch § 41 Abs 2 Nr 8 Zeichen 286 StVO jedoch widerlegten Wortlaut des § 12 Abs 2 StVO nicht jedes länger als drei Minuten dauernde Halten als Parken gilt, sondern nur ein Halten, das nicht zum Zweck des Einsteigens und Aussteigens oder des Beladens oder Entladens stattfindet.

Das Halten in zweiter Spur zu diesem Zweck ist daher nicht nach § 12 Abs 4 Satz 1 StVO ohne weiteres verboten. Die gegenteilige Auffassung würde auch, besonders was die innerstädtische Versorgung anlangt, zu beträchtlichen Unzuträglichkeiten führen. Die Belieferung der in den Stadtkernen gelegenen Geschäfte und Betriebe und damit die Versorgung der Bevölkerung würden erheblich erschwert. Denn die hierfür erforderlichen Ladegeschäfte, die zumeist nicht in drei Minuten und bei ständiger Anwesenheit des Fahrers am Fahrzeug abgewickelt werden können, würden angesichts der Knappheit an Parkplätzen häufig - rechtlich - unmöglich gemacht, wenn dazu nicht in zweiter Reihe oder aber in Parkverbotszonen, etwa unmittelbar vor oder hinter Kreuzungen oder Einmündungen oder vor Grundstückseinfahrten und Grundstücksausfahrten (§ 12 Abs 3 Nr 1 und 3 StVO), gehalten werden dürfte. Dem mißbräuchlichen Halten in zweiter Reihe kann angesichts der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten besonderen Voraussetzungen rechtlich durchaus begegnet werden.

Das angefochtene Urteil ist somit aufzuheben. Da weitere Feststellungen möglich erscheinen, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Tatrichter zurückzuverweisen. Das Amtsgericht wird aufzuklären haben, ob der Betroffene sein Fahrzeug so abgestellt hat, daß es über die Fahrbahnmitte hinausragte, welcher Verkehr zur Tatzeit in der B.-Straße herrschte, inwieweit dieser Verkehr behindert worden ist und wie weit der Ort des Haltens von dem nächsten freien Platz am Fahrbahnrand entfernt war. Auf Grund dieser Umstände wird das Amtsgericht eine Abwägung der Interessen des Betroffenen mit denen möglicher anderer Verkehrsteilnehmer vorzunehmen haben. Von deren Ergebnis wird es abhängen, ob der Betroffene in unzulässiger Weise in zweiter Reihe gehalten hat.