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OLG Hamm Beschluss vom 29.05.2012 - III-3 RBs 100/12 - Zum Absehen vom Fahrverbot bei einem Rotlichtverstoß

OLG Hamm v. 29.05.2012: Zum Absehen vom Fahrverbot bei einem Rotlichtverstoß


Das OLG Hamm (Beschluss vom 29.05.2012 - III-3 RBs 100/12) hat entschieden:
Berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge eines angeordneten Fahrverbotes rechtfertigen nicht das Absehen von der Verhängung eines Regelfahrverbotes, sondern nur Härten ganz außergewöhnlicher Art wie z. B. der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder einer sonstigen wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Die Entscheidung über das Absehen vom Regelfahrverbot ist dabei eingehend zu begründen und mit ausreichenden Tatsachen zu belegen; eine unkritische Übernahme der Einlassung des Betroffenen ist insoweit nicht ausreichend.


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen „Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage gemäß § 37 Abs. 2 StVO und § 24 StVG“ zu einer Geldbuße von 500 € verurteilt. Nach den Ausführungen in den Urteilsgründen befuhr der Betroffene am 8. Mai 2011 gegen 08.32 Uhr in C die E-Straße in Fahrtrichtung Innenstadt. Im Bereich der Kreuzung der E-Straße und der C1-Straße passierte er die dort aufgestellte Lichtzeichenanlage, als das für seine Fahrtrichtung geltende Wechsellichtzeichen bereits seit zumindest 1,36 Sekunden rotes Licht anzeigte. Der Betroffene sei zu diesem Zeitpunkt abgelenkt gewesen, da er Probleme mit dem hinter ihm fahrenden Fahrzeug vermutet habe, das zu einer von ihm angeführten Fahrzeuggruppe gehört habe. Dennoch hätte er nach den Darlegungen des Amtsgerichts bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erkennen können und müssen, dass die Lichtzeichenanlage für seine Fahrtrichtung bereits rotes Licht anzeigte, und noch vor der Lichtzeichenanlage anhalten können und müssen.

Mit ihrer formell und materiell wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründeten Rechtsbeschwerde, der die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist, wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, dass das Amtsgericht von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen hat.


II.

Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.

1. Die wirksame Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch hindert den Senat nicht daran, das angefochtene Urteil im Schuldspruch zu Klarstellungszwecken zu berichtigen. Der Schuldspruch war zum einen um die Angabe der Schuldform (hier: Fahrlässigkeit) zu ergänzen, denn zur rechtlichen Bezeichnung der Tat im Sinne des § 46 Abs. 1 OWiG iVm § 260 Abs. 4 Satz 1 StPO gehört bei Ordnungswidrigkeiten, die - wie hier - sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden können, auch die Angabe der Schuldform (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. [2011], § 260 Rdnr. 24 m.w.N.). Zum anderen sollen die angewendeten Vorschriften nicht in die Urteilsformel aufgenommen werden, sondern sind im schriftlichen Urteil nach der Urteilsformel aufzuführen, § 46 Abs. 1 OWiG, § 260 Abs. 5 Satz 1 StPO (vgl. hierzu auch Meyer-Goßner, a.a.O., § 260 Rdnrn. 23 f, 49 ff).

2. Die Rechtsfolgenentscheidung des Amtsgerichts hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 BKatV iVm Nr. 132.3 des Bußgeldkatalogs kommt die Anordnung eines Fahrverbotes von einem Monat wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG in der Regel in Betracht, wenn der Fahrzeugführer ein rotes Wechsellichtzeichen bei schon länger als eine Sekunde andauernder Rotphase nicht befolgt. Die vorgenannten Regelungen der Bußgeldkatalog-Verordnung begründen auf der tatbestandlichen Ebene eine Vermutung dafür, dass der Verstoß eine grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG darstellt (Deutscher in: Burhoff [Hrsg.], Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl. [2009], Rdnr. 1139), und indizieren auf der Rechtsfolgenseite des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG die Anordnung eines Fahrverbotes als erforderliche und angemessene Sanktion für den Verstoß (Deutscher, a. a. O., Rdnr. 1140).

b) Die Darlegungen des Amtsgerichts vermögen ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes nicht zu rechtfertigen.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist der heute 50 Jahre alte Betroffene geschieden und hat einen 25 Jahre alten Sohn, der sich noch in der Ausbildung befindet und vom Betroffenen finanziell unterstützt wird. Der Betroffene betreibt mit einem Geschäftspartner ein kleines Möbelunternehmen, wobei er selbst Auslieferungen vornimmt und auch der einzige Inhaber einer Fahrerlaubnis für einen 7,5-Tonnen-Lkw ist. Er erzielt aus seiner Tätigkeit ein monatliches Einkommen in Höhe von ca. 1.500 € und leistet einen monatlichen Unterhalt von 500 € an seine frühere Ehefrau. Ausweislich des Verkehrszentralregisters wurden in den Jahren 2008 bis 2010 gegen ihn in vier Fällen rechtskräftig Geldbußen jeweils wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verhängt.

Zur Begründung seiner Entscheidung, von der Verhängung eines Fahrverbotes abzusehen, hat das Amtsgericht ausgeführt, der Betroffene sei zwar zuvor bereits viermal straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung getreten, es habe sich indes nicht um einschlägige Verstöße gehandelt. Zudem hätten drei der vier Verstöße zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits mehr als drei Jahre zurückgelegen. Auch der vierte Verstoß sei mehr als ein Jahr vor der Hauptverhandlung in der vorliegenden Sache begangen worden. Auch sei für keinen der Geschwindigkeitsverstöße ein Fahrverbot verhängt worden.

Überdies sei der Betroffene zum Zeitpunkt der hier zu beurteilenden Tat abgelenkt gewesen, was ihn zwar nicht vom Fahrlässigkeitsvorwurf entlaste, die Tat dennoch in einem anderen Licht erscheinen lasse. Der Betroffene habe keine rücksichtslosen Motive gehabt. Er habe nicht beabsichtigt, die Ampel besonders schnell zu passieren, wofür die von ihm gefahrene Geschwindigkeit von 48 km/h spreche, die noch unter der an der Tatörtlichkeit zulässigen Höchstgeschwindigkeit liege.

Darüber hinaus sei der Betroffene aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in besonderem Maße auf seine Fahrerlaubnis angewiesen. Er nehme als Mitinhaber eines Möbelunternehmens selbst Auslieferungen vor und sei der einzige Angehörige des Unternehmens, der über eine Fahrerlaubnis für 7,5-Tonnen-Lkws verfüge. Die Einstellung eines Fahrers für einen Monat erscheine angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen nicht zumutbar.

In Anbetracht der Tatumstände sowie der persönlichen Verhältnisse des Betroffenen und seines „überaus einsichtigen“ Verhaltens in der Hauptverhandlung sei die Verhängung eines Fahrverbotes zur Einwirkung auf den Betroffenen nicht geboten.

c) Die Vermutungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV für das Vorliegen einer groben Pflichtverletzung im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG ist durch die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil nicht widerlegt. Ein Augenblicksversagen des Betroffenen lässt sich den Darlegungen in den Urteilsgründen nicht entnehmen. Dass der Betroffene keine „rücksichtslosen Motive“ gehabt haben mag, steht der Annahme einer groben Pflichtverletzung ebensowenig entgegen wie der Umstand, dass er nicht zugleich - tateinheitlich mit der Nichtbefolgung des roten Wechsellichtzeichens - auch noch die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat.

d) Auch auf der Rechtsfolgenseite des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG rechtfertigen die Ausführungen des Amtsgerichts ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes nicht.

Zwar unterliegt die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und demgemäß von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden kann, in erster Linie der Beurteilung durch den Tatrichter (vgl. BGH, NZV 1992, 286). Dem Tatrichter ist jedoch insoweit kein rechtlich ungebundenes, freies Ermessen eingeräumt, das nur auf Vorliegen von Ermessensfehlern hin vom Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar ist, sondern der dem Tatrichter verbleibende Entscheidungsspielraum ist durch in Rechtsnormen niedergelegte oder von der Rechtsprechung herausgearbeitete Zumessungskriterien eingeengt und unterliegt insoweit hinsichtlich der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge in gewissen Grenzen der Kontrolle durch das Rechtsbeschwerdegericht, und zwar insbesondere hinsichtlich der Annahme der Voraussetzungen eines Durchschnittsfalls oder Regelfalls, zu der auch die Frage der Verhängung bzw. des Absehens von der Verhängung des Regelfahrverbots nach der Bußgeldkatalog-Verordnung zu zählen ist
(Senat, Beschlüsse vom 28. März 2012 - III-3 RBs 19/12 - [NRWE], vom 28. Dezember 2011 - III-3 RBs 337/11 - [BeckRS 2012, 03569], vom 21. Dezember 2011 - III-3 RBs 326/11 - [BeckRS 2012, 02847] und vom 12. Oktober 2007 - 3 Ss OWi 560/07 - [BeckRS 2007, 65091] m. w. N.).
Nach diesen Maßstäben stellen die vom Amtsgericht angeführten Umstände weder für sich allein noch in der Gesamtschau Gründe dar, die das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in der Weise abweichend erscheinen lassen, dass ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes angemessen wäre. Berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge eines angeordneten Fahrverbotes rechtfertigen nicht das Absehen von der Verhängung eines Regelfahrverbotes, sondern nur Härten ganz außergewöhnlicher Art wie z. B. der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder einer sonstigen wirtschaftlichen Existenzgrundlage (Senat, a. a. O. m. w. N.). Die Entscheidung über das Absehen vom Regelfahrverbot ist dabei eingehend zu begründen und mit ausreichenden Tatsachen zu belegen; eine unkritische Übernahme der Einlassung des Betroffenen ist insoweit nicht ausreichend (Senat, a. a. O. m. w. N.). Ob gravierende berufliche Nachteile ausnahmsweise ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen können, bedarf dabei der positiven Feststellung und Darlegung der entsprechenden Tatsachen in den Urteilsgründen. Grundsätzlich hat jeder Betroffene berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge des Fahrverbots durch Maßnahmen wie z. B. die teilweise Inanspruchnahme von Urlaub, die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxen, die Heranziehung eines Angestellten als Fahrer, die Beschäftigung eines Aushilfsfahrers oder durch eine Kombination dieser Maßnahmen auszugleichen. Für hierdurch auftretende finanzielle Belastungen muss notfalls ein Kredit aufgenommen werden (Senat, a. a. O. m. w. N.). Belastungen durch einen solchen Kredit, der in kleineren und für den Betroffenen tragbaren Raten abgetragen werden kann und der sich - jedenfalls bei einem einmonatigen Fahrverbot im Hinblick auf dessen verhältnismäßig kurze Dauer - in überschaubaren Grenzen bewegt, sind grundsätzlich hinzunehmen (Senat, a. a. O. m. w. N.). Insbesondere eine Kombination von Maßnahmen der vorgenannten Art ist, wenn der Betroffene über ein geregeltes Einkommen verfügt, als zumutbar anzusehen (Senat, a. a. O.).

Dass dem Betroffenen ein Ausgleich der mit einem Fahrverbot für ihn verbundenen Härten unter Zugrundelegung der vorstehenden Maßstäbe nicht möglich oder zumutbar wäre, geht aus dem Urteil in keiner Weise hervor.

Es fehlt bereits an konkreten und nachvollziehbaren Feststellungen, in welchem Umfang der Betroffene Fahrten für das von ihm (mit-)betriebene Möbelunternehmen durchführt. Das Amtsgericht hat sich auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Betroffene Urlaub zu machen pflegt und ob er diesen gegebenenfalls zum Ausgleich der Härten heranziehen kann. Ebensowenig geht aus dem angefochtenen Urteil hervor, dass es dem Betroffenen nicht zumutbar ist, erforderlichenfalls einen Kredit aufzunehmen, um die vorübergehende Beschäftigung eines Lkw-Fahrers zu finanzieren.

Worin das „überaus einsichtige“ Verhalten des Betroffenen in der Hauptverhandlung bestanden haben soll, lässt sich dem Urteil schließlich auch nicht entnehmen. Aus den Urteilsgründen geht zwar hervor, dass der Betroffene die Tat eingeräumt hat. Ein Geständnis als solches lässt sich indes noch nicht als „überaus einsichtiges Verhalten“ bezeichnen.

e) Wegen der aufgezeigten Mängel hebt der Senat das angefochtene Urteil nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen auf und verweist die Sache insoweit nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurück.