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OLG Hamm Urteil vom 18.01.2013 - I-9 U 23/12 - Kausalität von erstmals nach 24 Jahren auftretenden Folgeschäden und fortdauernde Hemmung der Verjährung

OLG Hamm v. 18.01.2013: Zur Kausalität von erstmals nach 24 Jahren auftretenden Folgeschäden und zur fortdauernden Hemmung der Verjährung


Das OLG Hamm (Urteil vom 18.01.2013 - I-9 U 23/12) hat entschieden:
  1. Zum Kausalitätsnachweis für Folgeschäden, die erstmals rund 24 Jahre nach dem unfallbedingten Primärschaden eintreten.

  2. Einem Unfallgeschädigten ist es gemäß § 242 BGB verwehrt, sich auf die mangels schriftlichen Bescheids der Versicherung fortdauernde Hemmung der Verjährung nach § 3 Nr. 3 S. 3 PflVG a.F. zu berufen, wenn er durch die unterbliebene Verfolgung seiner Ansprüche über einen Zeitraum von 28 Jahren den Anschein erweckt, er betrachte die Schadensregulierung als erledigt.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden wegen eines Verkehrsunfalls, der sich am 31.08.1980 in F ereignete und bei dem der Kläger als Fahrer eines Mokicks u.a. eine commotio cerebri erlitt.

Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Tatbestand wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes bis zum Abschluss der ersten Instanz gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, hat das Landgericht die Klage nach Anhörung des Klägers mit der Begründung abgewiesen, etwaige Ansprüche des Klägers seien nach § 3 Nr. 3 S. 2 2. Hs. PflVG a.F. verjährt.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seine Ansprüche in vollem Umfang weiter. Er hält die Ansprüche für nicht verjährt. Die Verjährungsfrist des § 3 Nr. 3 S. 2 2. Hs. PflVG a.F. habe nach Treu und Glauben erst mit seiner Kenntnis von sämtlichen Schadensfolgen begonnen, da ihm anderenfalls die Verfolgung unvorhersehbarer, erst nach Ablauf der Verjährungsfrist aufgetretener Schadensfolgen verwehrt sei. Der Kläger behauptet, erstmalig sei eine Kausalität zwischen den unfallbedingten Verletzungen und den epileptischen Anfällen anlässlich seiner stationären Behandlung im Jahre 2008 diagnostiziert worden. Bei der am 24.07.2008 durchgeführten MRT-​Untersuchung sei ein Kontusionsherd festgestellt worden, der bei dem Unfall entstanden und Auslöser der epileptischen Anfälle sei. Er habe nur bei dem streitgegenständlichen, nicht aber bei zahlreichen weiteren Verkehrsunfällen, an denen er unstreitig ebenfalls als Führer eines Mokicks beteiligt war, eine Kopfverletzung erlitten.

Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils

  1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens 30.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.08.2009 zu zahlen,

  2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche zukünftigen materiellen und zukünftigen nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 31.08.1980 zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht kraft Gesetzes auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil mit näheren Ausführungen. Sie hält etwaige Ansprüche für verjährt. Da der Kläger entgegen seiner mitgeteilten Klagebereitschaft keine Klage erhoben, sondern über einen Zeitraum von über 28 Jahren untätig geblieben sei, habe sie die Regulierung des Unfalls als abgeschlossen betrachten dürfen.


II.

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden aus dem Unfallereignis vom 31.08.1980 gemäß §§ 7, 17, 18, 10 S. 2 StVG, 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG a.F nicht zu.

1. Dabei bedarf es zunächst keiner Entscheidung des Senats, in welchem Umfang die Beklagte dem Grunde nach für Schäden des Klägers aus dem Verkehrsunfall vom 31.08.1980 einzustehen hat. Da der Kläger unstreitig entgegen der aus § 21a Abs. 2 StVO i.d.F. vom 24.05.1978, gültig bis zum 31.07.1984, resultierenden Helmpflicht für Führer von Krafträdern mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von mehr als 25 km/h bei dem Verkehrsunfall vom 31.08.1980 keinen Motorradhelm trug und dies zumindest mitursächlich für die hierbei erlittenen Kopfverletzungen war, kommt eine Haftung der Beklagten in vollem Umfang jedenfalls nicht in Betracht.

2. Ansprüche gegen die Beklagte stehen dem Kläger schon deshalb nicht zu, weil der Kläger nicht schlüssig dargelegt hat, dass die epileptischen Anfälle durch den Verkehrsunfall vom 31.08.1980 verursacht wurden. Da der Kläger unstreitig eine unfallbedingte Primärverletzung, nämlich eine commotio cerebri, erlitt, gilt für den Nachweis der Ursächlichkeit des Unfalls für das Auftreten epileptischer Anfälle als Folgeschaden zwar der Beweismaßstab des § 287 ZPO. Dass die Epilepsieerkrankung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die unfallbedingte Hirnverletzung zurückzuführen ist, weil der Kläger bei dem Unfall eine Hirnkontusion erlitt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Ursache der epileptischen Anfälle ist, ist aber weder hinreichend schlüssig dargetan noch sonst ersichtlich:

Insoweit reicht es nicht aus, dass sich der Kläger beim Unfall vom 31.08.1980 eine commotio cerebri zugezogen hat; denn ausweislich des Entlassungsberichts der Dres. L und T vom St. M-​Hospitals vom 14.10.1980 (Anlage A 1 der Klageschrift, Bl. 7 GA) wurde bei dem Kläger unfallbedingt zwar eine Gehirnerschütterung (commotio cerebri), zugleich nach Durchführung einer CT aber ein Kontusionsherd bzw. eine Hirnkontusion gerade nicht festgestellt. Soweit nach dem Entlassungsbrief der Katholischen Kliniken S vom 30.07.2008 (Bl. 17 GA) ein älterer Kontusionsherd links frontobasal diagnostiziert und als Ursache der epileptischen Anfälle bezeichnet wurde, erlaubt dies nicht den Schluss darauf, dass diese Hirnkontusion tatsächlich bei dem Verkehrsunfall vom 31.08.1980 entstanden ist. Denn diese Diagnose belegt lediglich, dass bei dem Kläger überhaupt eine - auch ältere - Hirnschädigung aufgetreten sein muss. Dass bzw. warum deren Entstehung auf das Jahr 1980 zurückgeht, ergibt sich hieraus nicht. Daher ist völlig offen, wenn nicht naheliegend, dass die nach dem Verkehrsunfall ausweislich des Entlassungsberichts der Dres. L und T vom St. M Hospital diagnostizierte und daher den behandelnden Ärzten in den Katholischen Kliniken S sicher bekannte Commotio cerebri aus dem Jahre 1980 ohne weitere Ursachenforschung als Ursache des festgestellten Kontusionsherds angenommen wurde. Jedenfalls ist weder vom Kläger dargetan noch sonst ersichtlich, dass bzw. inwieweit im Juli 2008 die Ursächlichkeit des streitgegenständlichen Unfalls für die Hirnkontusion Gegenstand ärztlicher Untersuchungen war. Dies wäre aber deshalb erforderlich gewesen, weil sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausschließen lässt, dass die Epilepsie auf anderen, nicht nur theoretisch denkbaren Ursachen als der unfallbedingten Hirnverletzung beruht. Denn der Kläger war - wie er selbst gemäß § 141 ZPO erstinstanzlich bekundet hat - ab dem 09.01.1981 bis in das Jahr 2007 an mindestens 7 weiteren Verkehrsunfällen beteiligt und wurde hierbei z.T. schwerwiegend verletzt. Vor diesem Hintergrund oblag es ihm, im Einzelnen darzulegen, dass und warum die in den Folgejahren erlittenen Verletzungen nicht zu der in 2008 diagnostizierten Hirnkontusion geführt haben können. Dies gilt umso mehr angesichts dessen, dass zwischen dem erstmaligen Auftreten der epileptischen Anfälle in 2004 und dem streitgegenständlichen Unfall im August 1980 24 Jahre liegen. Da der Kläger dieser Darlegungslast trotz Hinweises des Senats nicht nachgekommen ist, stellte sich die beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens als reine unzulässige Ausforschung dar, in deren Rahmen der Sachverständige zunächst die gesamte Unfall- und Krankengeschichte des Klägers recherchieren müsste. Dass dies nicht Aufgabe eines Sachverständigen ist, bedarf keiner Vertiefung. Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht mit der nach § 287 ZPO erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die Epilepsie auf einer Hirnverletzung beruht, die aus dem Unfall vom 31.08.1980 resultierte.

3. Darüber hinaus ist ein etwaiger Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruch des Klägers nach §§ 852 Abs. 1 BGB a.F., 3 Nr. 3 S. 2 2. Hs. PflVG a.F. auch verjährt.

Die Verjährung richtet sich vorliegend nach § 3 Nr. 3 PflVG a.F., da der gegen die Beklagte geltend gemachte Direktanspruch gemäß § 3 Nr. 1 PflVG a.F. am 01.01.2008 noch nicht verjährt war, Art. 3 Abs. 1 EGVVG (vgl. Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, Art 3 EGVVG Rn. 1). Im Streitfall wurde die Verjährung, die nach § 3 Nr. 3 S. 2 2. Hs. PflVG a.F. spätestens in 10 Jahren von dem Schadensereignis an, vorliegend mithin am 31.08.1990 rechnerisch endete, gemäß § 3 Nr. 3 S. 3 PflVG a.F. durch die im September 1980 erfolgte Anspruchsanmeldung bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten bis zu einer schriftlichen Entscheidung der Rechtsvorgängerin der Beklagten bzw. der Beklagten selbst gehemmt. Da die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerin vorliegend nicht schriftlich abschließend über die Ansprüche entschieden, sondern als letzte Handlung mit Schreiben vom 29.07.1981 die Zahlung weiterer 1.000,00 DM gegen Unterzeichnung einer Abfindungserklärung angeboten haben (Bl. 256 GA), war die Verjährung nach § 3 Nr. 3 S. 3 PflVG a.F. daher grundsätzlich bis zur Klageerhebung gehemmt.

Dem Kläger ist es aber verwehrt, sich auf eine Hemmung der Verjährung gemäß § 3 Nr. 3 S. 3 PflVG a.F. zu berufen. Nach Ansicht des BGH muss sich der Geschädigte, der sich auf eine Hemmung der Verjährung nach § 3 Nr. 3 S. 3 PflVG a.F. beruft, an Treu und Glauben, § 242 BGB, messen lassen. Danach verliert die Schutzwirkung des § 3 Nr. 3 S. 3 PflVG a.F., die auf die wirksame Gestaltung des Schutzes der Verkehrsopfer zielt (vgl. BGH, NJW 1977, 87), ihre Berechtigung, wenn für den Geschädigten keinerlei Schutzbedürfnis mehr besteht. Das ist dann der Fall, wenn die Erteilung eines schriftlichen Bescheids durch den Versicherer keinen vernünftigen Sinn mehr hätte und nur eine reine Förmelei wäre, weil der Geschädigte die von ihm zunächst angemeldeten Ansprüche inzwischen offensichtlich nicht mehr weiterverfolgt und daher auf einen endgültig ablehnenden Bescheid des Versicherers gar nicht mehr wartet (BGH, NJW 1977, 674 [675]).

Vorliegend hat der Kläger seinen Schmerzensgeldanspruch mit Schreiben vom 27.03.1981 vorläufig und mit Schreiben vom 10.07.1981 angesichts der bei einem weiteren Verkehrsunfall vom 09.01.1981 erlittenen Verletzungen, die ihrerseits zur Arbeitsunfähigkeit geführt hatten, endgültig auf 3.500,00 DM beziffert. Auf das von ihm erbetene abschließende Regulierungsangebot der Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Schreiben vom 29.07.1981 hat der Kläger bis zur erneuten Inanspruchnahme der Beklagten mit Schreiben vom 09.07.2009 nicht reagiert, obgleich er bereits zuvor mehrfach, nämlich mit Schreiben vom 08.09.1980 und 02.02.1981, eine Klageerhebung angedroht hatte. Zwar genügt nach gefestigter Rechtsprechung die bloße Untätigkeit des Geschädigten über einen längeren Zeitraum nicht für die Annahme, dieser verfolge seine Ansprüche offensichtlich nicht mehr weiter (BGH, a.a.O., für eine Untätigkeit über 2,5 Jahre; ebenso OLG Düsseldorf, NJW-​RR 1990, 472 [473]; VersR 1999, 873 f.; OLG Naumburg, VersR 2008, 775-​776). Vorliegend ist der Kläger über einen Zeitraum von rund 28 Jahren untätig geblieben. Die Untätigkeit über einen derart langen Zeitraum legt aber die Annahme nahe, dass er die Regulierung angesichts der bereits erbrachten Vorschusszahlung über 2.000,00 DM für erledigt betrachtete. Auch wenn grundsätzlich die Beklagte die Darlegungslast hinsichtlich der Voraussetzungen der Hemmungsverwirkung trifft, so obliegt es dem Kläger aber im Rahmen der sog. sekundären Darlegungslast darzutun, warum er trotz der verstrichenen Jahrzehnte die Regulierung nicht als abgeschlossen betrachtete. Dies gilt umso mehr, als er unstreitig zumindest in zwei Fällen Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen nach 1980 gerichtlich durchgesetzt hat. Gerade dies ist nämlich ein gewichtiges Indiz dafür, dass der Kläger bis zur Epilepsie-​Diagnose in 2008 die Regulierung des streitgegenständlichen Unfalls als erledigt betrachtete. Wenn dies aber aus seiner Sicht so war, durfte auch die Beklagte nach mehr als zwei Jahrzehnten einen schriftlichen Bescheid als verzichtbar und bloße Förmelei betrachten.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision wird vom Senat nicht zugelassen. Die Voraussetzungen einer solchen Zulassung gemäß § 543 ZPO liegen nicht vor. Der Rechtsstreit besitzt keine grundsätzliche Bedeutung. Es war lediglich über die Besonderheiten eines Einzelfalls zu entscheiden. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist auch nicht zum Zwecke der Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten. Der Senat weicht nicht von Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte oder von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung ab. Dies gilt auch in Ansehung der zitierten höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung zu der Frage, ob die bloße Untätigkeit des Geschädigten über einen längeren Zeitraum die Annahme rechtfertigt, er verfolge seine Ansprüche offensichtlich nicht weiter. Denn vorliegend hat der Kläger, wie ausgeführt, neben der bloßen Untätigkeit bei der Beklagten den Anschein erweckt, er betrachte seine Ansprüche als erledigt. Der vorliegende Einzelfall gibt auch keine Veranlassung, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzuzeigen oder eine entsprechende Leitentscheidung zu erlassen (vgl. dazu Zöller-​Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 543 RN 11 ff.).