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VGH München Beschluss vom 07.01.2013 - 11 ZB 12.2306 - Anforderung eines ärztlichen Gutachtens wegen Verdacht auf Alkoholabhängigkeit

VGH München v. 07.01.2013: Zur Anforderung eines ärztlichen Gutachtens wegen Verdacht auf Alkoholabhängigkeit


Der VGH München (Beschluss vom 07.01.2013 - 11 ZB 12.2306) hat entschieden:
Im Rahmen einer Gutachtensanordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV kann auch die Klärung der Frage angestrebt werden, ob Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen, weil dies auch ärztlich zu klären ist und letztlich der Vorbereitung einer etwaigen Anordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 1 FeV dient, wonach ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn nach dem ärztlichen Gutachten zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen. Das ist daher im Rahmen des ärztlichen Gutachtens nach § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV mit abzuklären.


Siehe auch Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch


Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens. Laut Bericht der Polizeiinspektion P... vom 4. März 2012 wurde die „FAZ P...“ am 4. März 2012 gegen 18.30 Uhr fernmündlich davon verständigt, dass sich der Kläger das Leben nehmen wolle. Hierzu habe er Autoabgase in das Fahrzeug, das in der Garage gestanden und in dem er sich selbst befunden habe, eingeleitet. Feuerwehr und Rettungsdienst seien vor Ort gewesen. Der Notarzt habe eine Unterbringung im Bezirkskrankenhaus befürwortet. Der Kläger sei nach Angaben von Angehörigen alkoholkrank und habe in der zurückliegenden Zeit wiederholt Suizidabsichten geäußert. Die Unterbringung des Klägers im Bezirkskrankenhaus M... wurde angeordnet. Dort wurde er am 5. März 2012 mit der Diagnose „F43.2 Anpassungsstörungen“ entlassen (Entlassungsanzeige des Bezirksklinikums vom 7.3.2012). Der Polizeibericht und die Entlassungsanzeige wurden mit Schreiben des Landratsamts D... vom 20. März 2012 an das Landratsamt P... gesandt mit dem amtsärztlichen Hinweis, der Kläger sei auf Alkoholabhängigkeit zu untersuchen.

Laut einem Aktenvermerk der Fahrerlaubnisbehörde vom 29. März 2012 sprach der Kläger nach Aufforderung an diesem Tag bei der Behörde vor und erklärte auf Nachfrage, dass ihm in M... eine stationäre oder ambulante Entwöhnungsbehandlung/Therapie hinsichtlich seines Alkoholkonsums empfohlen worden sei. Er befinde sich diesbezüglich auch zurzeit bei Herrn J... (Caritas). Er selbst räume zwar einen erhöhten Alkoholkonsum ein und bezeichne sich selbst als „Quartalsäufer“, das Bestehen einer Abhängigkeit verneine er. So gebe er an, überhaupt keine Probleme bei der Einhaltung der Abstinenz seit 5. März 2012 zu haben.

Mit Schreiben vom 29. März 2012 forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger gemäß § 46 Abs. 3, § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV, Abschnitt 8.3 der Anlage 4 zur FeV auf, bis 29. Juni 2012 ein Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zu folgender Frage beizubringen: „Lässt sich die aus den aktenkundigen Tatsachen begründete Annahme einer Alkoholabhängigkeit beim Kläger bestätigen? Finden sich, wenn keine Abhängigkeit vorliegt, Anzeichen für Alkoholmissbrauch? (Anzeichen, dass der/die Betroffene die Verkehrsteilnahme und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann)?“. Die Anforderung enthält den Hinweis nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV.

Am 12. April 2012 erklärte der Kläger sein Einverständnis zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch die T... GmbH. Daraufhin übersandte das Landratsamt die Unterlagen dorthin.

Laut einem Aktenvermerk vom 21. Juni 2012 erklärte der Kläger bei einer persönlichen Vorsprache bei der Behörde, er habe ein negatives Gutachten erhalten, gebe es allerdings nicht ab.

Im Rahmen der Anhörung zum beabsichtigten Entzug der Fahrerlaubnis trugen die Bevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 5. Juli 2012 vor, die Gutachtensanforderung sei rechtswidrig, da nach Aktenlage kein objektivierbarer Befund auf eine tatsächlich vorhandene Alkoholerkrankung des Klägers gegeben sei. Die vorübergehende Unterbringung im Bezirkskrankenhaus M..., die aufgrund einer Anpassungsstörung erfolgt und wohl übertrieben gewesen sei, lasse nicht auf eine mangelnde Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr schließen. Ausweislich der Fahrerlaubnisakte seien in den letzten Jahren keinerlei Straßenverkehrsdelikte oder sonstige Ordnungswidrigkeiten vorgefallen. Im Übrigen sei der Kläger beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen, da er als Mitarbeiter des Bauhofs der Gemeinde T... ständig Fahrzeuge fahren müsse und er ansonsten seine Arbeit verlieren werde. Ein Zusammenhang des hier relevanten Ereignisses vom 5. März 2012 mit dem Straßenverkehr sei nicht gegeben.

Mit Bescheid vom 12. Juli 2012 entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Kläger die Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheids), ordnete die Ablieferung des Führerscheins bei der Behörde (Nr. 2) und die sofortige Vollziehung von Nr. 1 und Nr. 2 an (Nr. 3) und drohte für den Fall der Nichterfüllung von Nr. 2 ein Zwangsgeld an (Nr. 4).

Die gegen den Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 3. September 2012 ab.

Der Kläger beantragt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil und macht zur Begründung ernstliche Zweifel an dessen Richtigkeit sowie Verfahrensmängel geltend. Der Beklagte beantragt, den Zulassungsantrag abzulehnen.


II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung war abzulehnen, da die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht vorliegen.

1. Entgegen der Zulassungsbegründung bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) deshalb, weil das Erstgericht davon ausging, dass Tatsachen im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV vorliegen, die die Annahme von Alkoholabhängigkeit beim Kläger begründen.

Der Kläger trägt hierzu vor, es gebe keine objektiven Anhaltspunkte und keine objektiven Befunde für eine Alkoholerkrankung bei ihm. Der Suizidversuch und die Aussagen der Angehörigen seien nicht bewiesen. Der Kläger habe sich lediglich nach einem Streit mit seiner Ehefrau in die Garage zurückgezogen, um dort im Kraftfahrzeug Musik zu hören. Er habe keine Autoabgase in das Fahrzeug geleitet. Die Alarmierung von Feuerwehr, Rettungsdienst und Notarzt habe auf einer Fehleinschätzung beruht. Als der Rettungsdienst eingetroffen sei, habe sich der Kläger auf dem Balkon befunden. Das Bezirkskrankenhaus M... habe ausweislich des kurzen Arztberichts lediglich eine Anpassungsstörung festgestellt, was keinen sicheren Rückschluss auf eine Alkoholkrankheit erlaube. Die Aussage des Gesundheitsamts P..., dass ein sicherer Verdacht einer Alkoholkrankheit vorliege, habe objektiv nicht belegt werden können.

Es ist dem Kläger zuzugeben, dass die Umstände des von den Behörden angenommenen Suizidversuchs unaufgeklärt geblieben sind, dass die Entlassungsanzeige des Bezirksklinikums M... vom 7. März 2012 keinerlei Rückschlüsse auf ein Alkoholproblem des Klägers enthält und dass der Einschätzung des Gesundheitsamts P... vom 15. März 2012 keine Begründung zugrunde liegt. Auch ist der Kläger keinem Alkoholtest unterzogen worden, jedenfalls befinden sich keine entsprechenden Feststellungen in der Behördenakte. Dieser Sachverhalt hätte daher auch unter Berücksichtigung der Aussagen von Angehörigen, wonach der Kläger alkoholkrank sei und wiederholt Suizidabsichten geäußert habe, wohl nicht für die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens nach § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV ausgereicht.

Wohl gerade deswegen hat ihn die Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 21. März 2012 zur Vorsprache aufgefordert. In dieser Vorsprache am 29. März 2012 äußerte der Kläger jedoch Tatsachen, die die Annahme von Alkoholabhängigkeit im Sinne der genannten Vorschrift begründen. Er offenbarte, dass ihm im Bezirksklinikum M... eine stationäre oder ambulante Entwöhnungsbehandlung/Therapie hinsichtlich seines Alkoholkonsums empfohlen worden sei und dass er sich diesbezüglich bei Herrn J... (Caritas) „befinde“. Er hat einen erhöhten Alkoholkonsum eingeräumt und sich selbst als „Quartalsäufer“ bezeichnet. Der Quartaltrinker (Epsilon-Trinker) gilt als alkoholkrank (Dipsomanie: wiederholt auftretender exzessiver Alkoholkonsum bei zwischenzeitlicher Abstinenz, vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 257. Auflage 1994). Auch wenn dieser Selbsteinschätzung des Klägers, selbst wenn sie auf entsprechenden Gesprächen mit Herrn J... beruhen sollte, kein hoher Beweiswert zukommt, so ist sie doch in Verbindung mit der vom Kläger geäußerten Empfehlung des Bezirksklinikums M... und in Verbindung mit der ebenfalls vom Kläger eingeräumten Tatsache, dass er sich wegen seines Alkoholkonsums durch die Caritas betreuen lässt, ein Sachverhalt, der ausreichend ist, um einen ernstzunehmenden Verdacht dahingehend anzunehmen, dass der Kläger alkoholabhängig ist. Bei der Anforderung eines ärztlichen Gutachtens nach § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV braucht (und darf) die Alkoholabhängigkeit gerade nicht festzustehen; ob eine solche besteht, soll gerade durch das Gutachten geklärt werden.

Zu Recht konnte im Rahmen der Gutachtensanordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV auch die Klärung der Frage angestrebt werden, ob Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen, weil dies auch ärztlich zu klären ist und letztlich der Vorbereitung einer etwaigen Anordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 1 FeV dient, wonach ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn nach dem ärztlichen Gutachten zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen. Das ist daher im Rahmen des ärztlichen Gutachtens nach § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV mit abzuklären. Dass der Kläger in den letzten Jahren im Straßenverkehr nicht negativ aufgefallen ist und insbesondere nicht unter Alkoholeinfluss ein Kraftfahrzeug geführt hat, ist bei der Frage der Alkoholabhängigkeit nicht relevant, weil diese nach Anlage 4 Nr. 8.3 zur FeV auch ohne einen Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen zur Fahrungeeignetheit führt.

Eine Gutachtensanforderung nach § 11 FeV liegt nicht vor, so dass auf das entsprechende Vorbringen in der Zulassungsbegründung nicht einzugehen ist.

2. Die behaupteten Verfahrensmängel (Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) liegen nicht vor.

Die Zulassungsbegründung trägt vor, der Kläger hätte in der Klageschrift eine Vielzahl von Ungereimtheiten aufgezeigt, vorgetragen und unter Beweis gestellt, denen das Verwaltungsgericht nicht nachgegangen sei. Es habe daher den Untersuchungsgrundsatz des § 86 VwGO verletzt.

Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ausweislich der Niederschrift keinen Beweisantrag gestellt hat (vgl. § 86 Abs. 2 VwGO). Ein Verfahrensverstoß wegen Verletzung des Untersuchungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1 VwGO wäre in solchen Fällen nur anzunehmen, wenn dargelegt worden wäre, dass sich eine Beweisaufnahme durch das Verwaltungsgericht aufgedrängt hätte, vgl. Eyermann/Geiger, VwGO, 13. Auflage 2010, § 86 Rn. 23.

Davon unabhängig hat das Verwaltungsgericht die Aufklärungspflicht nicht verletzt. Wie unter Nr. 1 dargestellt, hätten zwar die ursprünglich der Fahrerlaubnisbehörde vorliegenden Unterlagen wohl nicht ausgereicht, um einen ausreichenden Verdacht auf Alkoholabhängigkeit des Klägers zu begründen, jedoch ergab sich aufgrund der Vorsprache des Klägers ein anderes Bild, so dass mangels strittigen Sachverhalts vor der Gutachtensanforderung keine weiteren Nachfragen bei der Polizei, beim Gesundheitsamt P... oder beim Bezirksklinikum M... mehr erforderlich waren.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2 GKG in Verbindung mit den Empfehlungen in Nrn. 46.1, 46.3, 46.4 und 46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327). Maßgeblich sind die Fahrerlaubnisklassen A, B, C und E, in denen die übrigen Fahrerlaubnisklassen des Klägers enthalten sind.

Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).