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OLG Düsseldorf Urteil vom 19.01.2010 - I-1 U 89/09 - Anscheinsbeweis und Auffahrunfall nach Spurwechsel

OLG Düsseldorf v. 19.01.2010: Zur Entkräftung des Anscheinsbeweises bei einem Auffahrunfall nach Fahrstreifenwechsel


Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 19.01.2010 - I-1 U 89/09) hat entschieden:
Gegen denjenigen, der auf den Vorausfahrenden auffährt, spricht in der Regel der Beweis des ersten Anscheins. Ein für ein Auffahrverschulden sprechender typischer Geschehensablauf lässt sich jedoch nicht feststellen, wenn der Kollision ein Fahrstreifenwechsel vorausgegangen ist. In diesem Fall muss der Fahrstreifenwechsler beweisen, dass es dem Auffahrenden möglich war, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen bzw. einzuhalten.


Siehe auch Auffahrunfälle und Anscheinsbeweis und Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden und Auffahrunfall


Gründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

I.

Der Kläger hat keine Schadensersatzansprüche gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 3 PflVG aus dem Unfallereignis vom 15.02.2007 auf der BAB 57 in ... gegen die Beklagten. Die Abwägung der Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 und 2 StVG ergibt, dass der Kläger den ihm entstandenen Schaden in voller Höhe zu tragen hat. Das Berufungsvorbringen des Klägers führt zu keiner abändernden Entscheidung.

Im Einzelnen ist noch Folgendes auszuführen:

II.

Aufgrund der beiderseitigen Haftung der Unfallbeteiligten nach § 7 Abs. 1 StVG muss eine Abwägung der Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Abs.1 StVG erfolgen. Dabei ist zu fragen, welche für die Gewichtung der Haftungsanteile maßgeblichen tatsächlichen Umstände festgestellt werden können. Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein (BGH NJW 07, 506; NJW 05, 1940; NJW 05, 2081). Im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung hat jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen (BGH, NZV 2006, Seite 231).

1. Verursachungsbeitrag des Klägers

Der Kläger hat den Unfall schuldhaft verursacht. Er hat bei dem Fahrspurwechsel auf der Autobahn entgegen § 7 Abs. 5 StVO die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht ausgeschlossen. Das Landgericht hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme festgestellt, dass der Kläger zeitgleich mit der Kollision des Sattelzuges mit dem Pkw die Fahrspur gewechselt und dabei die Beklagte zu 2.) geschnitten hat.

Gemäß § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen. Zweifel im Sinne dieser Vorschrift bestehen schon dann, wenn aus Sicht des Berufungsgerichts eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Falle einer Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt (vergl. BGH NJW 2003, 3480, OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.05.2005, Az. I-​1 U 158/03, zitiert aus juris).

Solche Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des Landgerichts bestehen jedoch nicht. Das Landgericht stützt seine Feststellungen im Wesentlichen auf die Aussage der Zeugin .... Die Zeugin befand sich als Beifahrerin im Fahrzeug der Beklagten zu 1.). Sie hat bekundet, sie habe plötzlich einen Lkw gesehen, von dem Qualm aufgestiegen sei. Dann habe ein Fahrzeug sie von rechts geschnitten. Den Abstand hat sie auf ein paar Meter, ein bis zwei Fahrzeuglängen, geschätzt. Sie hat weiter bekundet, sie habe die Bremslichter von dem Fahrzeug leuchten sehen. Ihre Tochter habe daraufhin gebremst und das Fahrzeug nach links gegen die Leitplanke gelenkt. Dann sei ihr Fahrzeug auf das fahrende Fahrzeug aufgefahren. Diese Aussage ist glaubhaft. Umstände, die die Wiederholung der Beweisaufnahme rechtfertigen könnten, liegen aus folgenden Gründen nicht vor:

a) Für die Richtigkeit der Aussage der Zeugin spricht zunächst, dass ihre Angaben in wichtigen Details durch die Feststellungen des Sachverständigen ... in seinem schriftlichen Gutachten vom 02.05.2008 bestätigt worden sind.

aa) Der Sachverständige hat zwar die entscheidende Frage, ob der Kläger unmittelbar vor dem Unfall die Fahrspur gewechselt hatte, nicht klären können. Anhand der Anstoßhöhen an beiden Fahrzeugen hat er jedoch nachweisen können, dass sich das Fahrzeug des Klägers noch in Bewegung befunden hat, als die Beklagte zu 2.) auffuhr. Der Sachverständige hat nachvollziehbar ausgeführt, dass eine bremsdynamische Anhebung des klägerischen Fahrzeughecks und eine bremsdynamische Absenkung der Frontseite des Beklagtenfahrzeuges erforderlich ist, damit die Anstoßhöhen kompatibel sind. Damit bestätigt der Sachverständige die Aussage der Zeugin, die Beklagte zu 1.) sei auf das noch fahrende Fahrzeug aufgefahren.

bb) Der Sachverständige hat ferner ausgeführt, dass durch die querrutschenden Reifen des Fahrzeugs des Zeugen ... eine Rauchentwicklung entstanden sei. Auch dieses Detail hat die Zeugin ... bekundet.

cc) Aus dem Gutachten haben sich umgekehrt auch keine Hinweise ergeben, dass die Aussage der Zeugin in einem Punkt unrichtig sein könnte. Insbesondere hat der Sachverständige nicht feststellen können, dass ein Spurwechsel unmittelbar vor dem Fahrzeug des Beklagten zu 1.) nicht stattgefunden haben kann.

b) Es ist auch nachvollziehbar, dass die Zeugin ... als Beifahrerin das Unfallgeschehen aufmerksam verfolgt hat. Sie hat bekundet, sie habe zuerst gesehen, wie von einem Lkw Qualm aufgestiegen sei. Dies ist ein Ereignis, das die Aufmerksamkeit eines Beifahrers auf der Autobahn weckt. Das weitere von ihr beschriebene Unfallgeschehen spielte sich sodann vor ihren Augen ab.

c) Es spricht auch nicht gegen die Richtigkeit ihrer Aussage, dass sie auf einen Vorhalt des Prozessbevollmächtigten des Klägers eingeräumt hat, das Fahrzeug vor dem Fahrspurwechsel beim Vorbeifahren nicht gesehen zu haben. Die Zeugin hat bekundet, sie habe das Fahrzeug erst wahrgenommen, als es bereits auf der linken Fahrspur gewesen sei. Einen Blinker habe sie nicht gesehen. Sie habe von Anfang an rote Bremslichter bei dem Fahrzeug gesehen. Es ist möglich, dass die weitere Schilderung der Zeugin, sie habe das Fahrzeug zuerst auf der mittleren Spur gesehen und auch gesehen, dass es auf die linke Fahrspur gewechselt hat, tatsächlich nur eine Schlussfolgerung der Zeugin ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass ihre Kernaussage, plötzlich sei das andere Fahrzeug vor ihnen gewesen, richtig ist. Schon eingangs ihrer Vernehmung berichtete die Zeugin spontan, das andere Fahrzeug habe sie geschnitten. Sie habe die Bremslichter leuchten sehen.

d) Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass die Unfalldarstellung des Klägers in wesentlichen Punkten nicht glaubhaft oder sogar widerlegt worden ist:

aa) Die Darstellung im Schriftsatz vom 02.08.2007, er habe sich bereits Kilometer auf der linken Fahrspur befunden, hat der Kläger in seiner Anhörung selbst nicht bestätigt. Er hat vielmehr eingeräumt, dass sich der Unfall kurz nach dem Fahrspurwechsel ereignet habe.

bb) Seine weiteren Angaben, er habe sein Fahrzeug zunächst per Vollbremsung zum Stehen gebracht, er habe einen richtigen Schlag verspürt, als die Vollbremsung beendet gewesen sei, kurze Zeit später habe er einen weiteren Schlag verspürt, nämlich den Aufprall von dem Fahrzeug des Zeugen ..., nach dem Aufprall seien mehrere Sekunden, etwa 4 bis 5, vergangen bis es zu dem Anstoß durch die Beklagte zu 1.) gekommen sei, bevor es zu dem Heckaufprall gekommen sei, seien ihm noch diverse Gedanken durch den Kopf gegangen, sind durch die Feststellungen des Sachverständigen ... widerlegt worden. Denn der Kläger hatte nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen (s.o.) sein Fahrzeug noch nicht zum Stillstand gebracht, als es zu dem Auffahrunfall durch die Beklagte kam. Die detaillierten und die Beklagte zu 2.) belastenden Angaben des Klägers können also nicht richtig sein.

cc) Nicht nachvollziehbar ist auch die Darstellung des Klägers, er sei auf das Geschehen erst aufmerksam geworden, als das Fahrzeug des Zeugen ... auf ihn zugekommen sei. Der Zeuge ... hat bekundet, der belgische Sattelschlepper habe bei einem Fahrspurwechsel sein Fahrzeug erfasst. Sein Fahrzeug habe sich vor dem Kühler des Lkw befunden und sei von dem Lkw über die Autobahn geschoben worden. Dann sei er irgendwann weggeflogen. Dieser Hergang ist zwischen den Parteien nicht streitig. Von den Reifen seines Fahrzeuges stieg Qualm auf, den auch die Zeugin ... bemerkt hat. Dass der Kläger dies alles erst bemerkte, als das Fahrzeug des Zeugen Heuer auf ihn zukam, ist nicht plausibel. Das Geschehen spielte sich unmittelbar vor ihm ab, auch wenn die Sicht für ihn durch den vorausfahrenden Sattelschlepper teilweise verdeckt gewesen sein mag. Anzunehmen ist vielmehr, dass der Kläger sein Fahrzeug spontan auf die linke Fahrspur gelenkt hat, als er das Geschehen, insbesondere die Rauchentwicklung, bemerkt hat. Angesichts der Gefahrenlage vor ihm ist es eine natürliche Abwehrreaktion, das Fahrzeug auf die linke Fahrspur zu lenken.

dd) Einen anderen plausiblen Grund für den Fahrspurwechsel hat er nicht genannt. Die Darstellung, er sei von der mittleren Spur auf die linke Spur gewechselt, weil er auf der Autobahn nach ... links abbiegen wollte, ist nicht plausibel. Um nach ... zu fahren, musste er an dieser Stelle die Fahrspur nicht wechseln. Dies hat das Landgericht bereits nachvollziehbar ausgeführt. Dass er die Fahrspur gewechselt haben will, weil einige Kilometer später der Abzweig Richtung ... folgt, wirkt ebenfalls konstruiert. Normalerweise wechselt man eine Fahrspur auf der Autobahn nicht schon deshalb, weil in einigen Kilometern Entfernung wegen eines Zu- oder Abflusses von der Autobahn ein Gefahrenmoment wegen häufiger Spurwechsel auftreten könnte. Dazu hätte es ausgereicht, die Fahrspur kurz vor dem Abzweig zu wechseln. Dass er die Fahrspur hat wechseln wollen, weil das Befahren der mittleren Fahrspur für ihn eingeschränkt gewesen sei, soweit sich dort der Sattelzug befunden habe, trägt er erstmals in der Berufungsbegründung vor. In seiner persönlichen Anhörung hat er einen anderen Grund genannt.

e) Der Senat übersieht nicht, dass die Zeugin ... als Mutter der Beklagten zu 2.) in einer Nähebeziehung zu der Beklagten steht und am Ausgang des Rechtsstreits sicher nicht uninteressiert ist. Es ist auch zu berücksichtigen, dass die Zeugin sicher mit ihrer Tochter gesprochen hat und daher die Gefahr besteht, dass sich ihre eigenen Erinnerungen mit den Darstellungen der Tochter vermengen können und sie sich mit ihrer Tochter als Unfallbeteiligte solidarisiert. Angesichts der vorstehenden Umstände, die alle für die Richtigkeit ihrer Aussage und gegen die Richtigkeit der Darstellung des Klägers sprechen, hat jedoch auch der Senat keine Zweifel an der Richtigkeit ihrer Aussage.

f) Es besteht auch keine Veranlassung, den Zeugen ... zu vernehmen. Der Kläger hatte auf die Vernehmung dieses Zeugen in erster Instanz gemäß § 399 ZPO verzichtet. Er hat sich zwar auch eine Vernehmung des Zeugen zu einem späteren Zeitpunkt vorbehalten. Von diesem Vorbehalt hat er jedoch in erster Instanz keinen Gebrauch gemacht. Die Vernehmung eines Zeugen erfolgt nicht von Amts wegen, sondern gemäß § 373 ZPO nur auf Antrag einer Partei. Dieser Beweisantritt ist im Berufungsverfahren daher ein neues Angriffsmittel gemäß § 531 Abs. 2 ZPO. Gründe, den Beweisantritt ausnahmsweise gemäß § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zuzulassen, liegen nicht vor. Dass das Landgericht den Kläger nicht aufgefordert hat, sich zu dem Vorbehalt, was die Vernehmung des Zeugen angeht, zu erklären, beruht nicht auf einem Verfahrensfehler. Es hat damit keinen Verstoß gegen die richterliche Hinweispflicht gemäß § 139 ZPO begangen. Die Beschaffung von Beweismitteln ist grundsätzlich Sache der Parteien (Beibringungsgrundsatz; vgl. : Zöller-​Greger, Kommentar zur ZPO, 27. Auflage, vor § 128 Rn. 11). Von einer Bedingung hatte der Kläger seinen Verzicht nicht abhängig gemacht, insbesondere nicht davon, dass das Gericht eine bestimmte Beweiswürdigung zugunsten des Klägers vornimmt. Aus diesem Grund bestand auch keine Veranlassung für das Landgericht, den Kläger auf einen bestimmten Ausgang der Beweisaufnahme vorab hinzuweisen. Solange der Kläger keine andere Erklärung abgab, durfte das Landgericht davon ausgehen, dass es bei dem Verzicht bleibt.

Der demnach festgestellte fehlerhafte Fahrspurwechsel des Klägers hat sich auch auf den Verkehrsunfall ausgewirkt. Der Sachverständige ... hat ausgeführt, durch das Schneiden beim Fahrspurwechsel sei der Beklagten zu 2.) ein Bremsweg von etwa 4 Metern verloren gegangen. Dies ist bei einer festgestellten Länge des Fahrzeugs des Klägers von 4,1 Metern nachvollziehbar. Der Sachverständige hat anhand der Beschädigungen die Anstoßgeschwindigkeit mit 17 bis 20 km/h ermittelt. Die Beklagte zu 2.) hätte das Fahrzeug noch bis zum Stillstand abbremsen können, wenn der Bremsweg um die Fahrzeuglänge verlängert gewesen wäre. Die fehlende Bremslänge betrug nach den Ausführungen des Sachverständigen maximal ca. 1,95 Meter. Da die Beweisaufnahme ergeben hat, dass der Kläger durch seinen fehlerhaften Fahrspurwechsel den Unfall schuldhaft verursacht hat, kommt es auf die Frage, ob in diesem Fall ein Anscheinsbeweis zu Lasten des Klägers eingreift, nicht an (zum Anscheinsbeweis vgl. : Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Auflage, § 7 StVO, Rn. 17 a.E.).

2. Verursachungsbeitrag Beklagte

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht dagegen nicht fest, dass auch die Beklagte den Unfall schuldhaft herbeigeführt hat. Ein Verschulden der Beklagten zu 2.) als Auffahrende kann auch nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises angenommen werden. Die Voraussetzungen eines solchen Anscheinsbeweises liegen nicht vor.

Zwar spricht gegen denjenigen, der auf den Vorausfahrenden auffährt, in der Regel der Beweis des ersten Anscheins, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war und die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet hat (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 2 StVO; dazu der Senat Urteil vom 10.03.2003, AZ. 1 U 111/02; Urteil vom 10.11.2003, AZ. 1 U 28/02). Grundvoraussetzung für den Beweis eines Verschuldens nach Anscheinsregeln ist indes die Darlegung und der Beweis eines typischen, nach der Lebenserfahrung den Rückschluss auf ein Verschulden zulassenden Geschehensablaufs durch denjenigen, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft (der Senat, Urteil vom 04.08.2003, AZ. 1 U 206/02).

Ein für ein Auffahrverschulden der Beklagten zu 2.) sprechender typischer Geschehensablauf lässt sich jedoch nicht feststellen. Die für die Annahme eines Auffahrverschuldens nach Anscheinsgrundsätzen erforderliche Typizität setzt zwar grundsätzlich eine - wie hier auch vorliegende - Kollision im gleichgerichteten Verkehr voraus. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der gleichgerichtete Verkehr gerade erst hergestellt worden ist, denn für die Bejahung einer typischen Auffahrsituation ist es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats unverzichtbar, dass der Auffahrende auch die ausreichende Möglichkeit hatte, zum Vordermann einen hinreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen und einzuhalten (Senat, Urteil vom 04.08.2003, AZ. 1 U 206/02; Urteil vom 21.07.2003, 1 U 217/02; Urteil vom 30.06.2003, AZ. 1 U 226/02; Urteil vom 04.11.2005, AZ. I-​1 U 93/03, OLG Hamm VersR 2001, 206, 207; OLG Bremen VersR 1997, 253 sowie KG VRS 65, 189, KG; DAR 2006, 322; OLG Naumburg, NJW-​RR 2003, 809). Die gegenteilige Auffassung des Oberlandesgerichts Zweibrücken (Schadenspraxis 2009, Seite 175), nach der der Auffahrvorgang bereits für die Annahme des Anscheinsbeweises genügt, überzeugt nicht.

Ein Anscheinsbeweis liegt allgemein dann vor, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder Folge hinweist und derart gewöhnlich und üblich erscheint, dass die besonderen individuellen Umstände an Bedeutung verlieren (ständige Rechtsprechung, z.B. BGH, NJW 1987, Seite 1944). Zu Lasten des Auffahrenden greift der Anscheinsbeweis ein, weil anzunehmen ist, dass dieser entweder (1. Alternative) den Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat oder (2. Alternative) unaufmerksam war oder (3. Alternative) mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren ist (s.o.). Es kommt nicht darauf an, welche dieser Alternativen tatsächlich vorliegt, da in allen Fällen ein Verschulden zu bejahen ist. Eine solche "Wahlfeststellung" ist jedoch nur dann zulässig, wenn nach der Lebenserfahrung nur diese Alternativen die Ursachen des Auffahrunfalls sein können. Ist der gleichgerichtete Verkehr gerade erst hergestellt worden, ist jedoch eine weitere Ursache für den Unfall mindestens so wahrscheinlich wie die anderen vorgenannten Möglichkeiten, nämlich dass der Vorausfahrende durch sein Einscheren den Sicherheitsabstand verkürzt hatte. In diesem Fall hätte der Auffahrende das Unfallereignis jedoch unter Umständen nicht zu vertreten, weil ihm von Anfang an kein ausreichender Sicherheitsabstand zur Verfügung stand. Berücksichtigt man diese Grundlagen des Anscheinsbeweises bei einem Auffahrunfall, kann der Auffahrvorgang allein den Anscheinsbeweis nicht begründen. Nach einem Fahrspurwechsel muss darüber hinaus auch eine gewisse Zeit vergangen sein, bis der nachfolgende Verkehrsteilnehmer einen gebotenen Abstand sicherstellen konnte.

Lässt man den Fahrspurwechsel außer Acht, gerät man in Wertungswidersprüche zu § 7 Abs. 5 StVO, wonach ein Fahrstreifen nur gewechselt werden darf, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Diese besonderen Sorgfaltsanforderungen bestehen, weil dieses Fahrmanöver erfahrungsgemäß unfallträchtig und damit besonders gefährlich ist. Es ist nicht gerechtfertigt, einen Verkehrsteilnehmer, der diesen erhöhten Sorgfaltsanforderungen unterliegt, mit einem Anscheinsbeweis zu begünstigen.

Unstreitig ist der streitgegenständlichen Kollision ein Fahrstreifenwechsel des Klägers auf die linke, von der Beklagten zu 2.) befahrene Fahrspur vorausgegangen. Ein typischer für ein Auffahrverschulden der Beklagten zu 2.) streitender Geschehensablauf wäre deshalb nur dann anzunehmen, wenn diese aufgefahren wäre, obgleich es ihr möglich gewesen wäre, zum vorausfahrenden Kläger einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen bzw. einzuhalten.

Der Kläger hat den ihm insoweit obliegenden Beweis jedoch nicht geführt. Die Beweisaufnahme hat vielmehr im Gegenteil ergeben, dass es der Beklagten zu 2.) nicht mehr möglich war, den Sicherheitsabstand aufzubauen. Der Kläger ist wenige Meter vor dem Fahrzeug des Beklagten zu 1.) eingeschert und hat gebremst (s.o.).

3. Abwägung der Verursachungsanteile

Die gebotene Abwägung der festgestellten Verursachungsbeiträge ergibt, dass der Kläger seinen Schaden in voller Höhe zu tragen hat. Während der Beklagte zu 1.) sich lediglich die einfache Betriebsgefahr seines Fahrzeuges anrechnen lassen muss, war die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Klägers aufgrund seines schuldhaften Verursachungsbeitrages erhöht. Da sich der Unfall im Zusammenhang mit dem Fahrspurwechsel ereignet hat, bei dem er gemäß § 7 Abs. 5 StVG die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer hätte ausschließen müssen, ihn also besondere Sorgfaltsanforderungen trafen, ist es gerechtfertigt, die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Beklagten zu 1.) zurücktreten zu lassen.

Aus den vorstehenden Gründen scheidet auch eine Haftung der Beklagten zu 2.) gemäß § 18 Abs. 1 StVG aus. Mangels Haftung der versicherten Personen besteht auch kein Direktanspruch gegen den Versicherer gemäß § 3 PflVG.

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs als Revisionsgericht (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Rechtsprechung des Senats zum Anscheinsbeweis weicht zwar von der vorzitierten Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Zweibrücken ab. In diesem Fall kommen jedoch beide Auffassungen zu dem gleichen Ergebnis. Nimmt man einen Anscheinsbeweis an, hat der Beklagte zu 1.) diesen jedenfalls erschüttert. Er hat nachgewiesen, dass der Kläger einen fehlerhaften Fahrspurwechsel vorgenommen hatte. Hätte er die Fahrspur nicht geschnitten, hätte die Beklagte zu 2.) den Zusammenstoß vermeiden können (s. o.). Damit liegt eine ernsthafte Möglichkeit eines anderweitigen untypischen Geschehensablaufs vor.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gem. § 3 ZPO i.V.m. § 47 Abs. 1 S. 1 GKG auf 5.070,76 EUR festgesetzt.