Das Verkehrslexikon

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VGH Kassel Beschluss vom 17.12.2015 - 2 A 57/15.Z - Keine Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung aufgrund einer Petition

VGH Kassel v. 17.12.2015: Keine Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung aufgrund einer Petition


Der VGH Kassel (Beschluss vom 17.12.2015 - 2 A 57/15.Z) hat entschieden:
  1. Mit der alleinigen Begründung, der Petitionsausschuss des Hessischen Landtages habe die Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung für eine Ortsdurchfahrt befürwortet und der Hessische Landtag habe dieses Votum bestätigt, kann nicht eine an die Erfüllung der Voraussetzungen des § 45 Abs. 1, Abs. 9 Sätze 1 und 2 gebundene Geschwindigkeitsbeschränkung angeordnet werden.

  2. Die Grundsätze der Gewaltenteilung und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verbieten die Bindung der Exekutive an Empfehlungen des Petitionsausschusses, mit deren Umsetzung dem Begehren eines einzelnen Petenten wider geltendes Recht zur Durchsetzung verholfen würde.

Siehe auch Verkehrsrechtliche Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen und Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen


Gründe:

Dem Antrag auf Beiladung der Gemeinde Neuental (§ 65 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) kann nicht entsprochen werden. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, dass eine Beiladung im Verfahrensstadium des Berufungszulassungsantrags grundsätzlich nicht möglich ist (s. den Beschluss des Senats vom 17. März 2015 betreffend einen weiteren Beiladungsantrag zum vorliegenden Verfahren).

Der gemäß § 124a Abs. 4 VwGO fristgerecht gestellte und begründete Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor genannte Urteil hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht zuzulassen, da entgegen der Auffassung des Beklagten keiner der geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Es liegen keine ernstlichen Zweifel gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vor. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils i. S. von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind dann gegeben, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung, also eine entscheidungserhebliche rechtliche oder tatsächliche Begründung der Vorinstanz mit schlüssigen Gegenargumenten so in Frage gestellt wird, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung nach summarischer Prüfung nicht nur hinsichtlich einzelner Begründungen, sondern im Ergebnis als fehlerhaft und deshalb der Erfolg der angestrebten Berufung möglich erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163 und vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110,77; ständige Rechtsprechung des beschließenden Senats, vgl. Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 2 UZ 3375/09 -, Beschluss vom 29. Oktober 2007 - 2 UZ 1864/06 -).

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die verkehrsregelnde Anordnung des Beklagten vom 2. Juli 2012 zumindest materiell-​rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht die verkehrsrechtliche Anordnung anhand der gesetzlichen Maßgaben aus §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 Sätze 1 und 2 StVO rechtlich überprüft. Diese Überprüfung musste zu dem Ergebnis kommen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 Km/h in der Ortslage von Neuental-​Gilsa nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht.

Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Diese Ermächtigung wird jedoch durch § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO im Sinne einer Konkretisierung des Ermessensgebrauchs modifiziert. Nach letztgenannter Vorschrift dürfen Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort angeordnet werden, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Noch weiter konkretisierend heißt es in § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO, dass abgesehen von der Anordnung von Schutzstreifen für den Radverkehr oder von Fahrradstraßen oder von Tempo 30-​Zonen insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden dürfen, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.

Systematisch gefasst setzt somit § 45 Abs. 1 StVO i.V.m. Abs. 9 Satz 2 StVO für Verbote und Beschränkungen des fließenden Verkehrs eine Gefahrenlage voraus, die - erstens - auf besondere örtliche Verhältnisnisse zurückzuführen ist und - zweitens - das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der relevanten Rechtsgüter (hier insbesondere: Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern sowie öffentliches und privates Sacheigentum) erheblich übersteigt (siehe BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 32.09 -, juris Rn. 19). Derartige örtliche Verhältnisse und ein derartiges erhöhtes Risiko einer Beeinträchtigung von Rechtsgütern müssen von konkreten straßenverkehrsbehördlichen Feststellungen getragen sein.

Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

Eine fachliche Stellungnahme, die zur Bejahung der Voraussetzungen für eine Geschwindigkeitsbeschränkung führt, fehlt im vorliegenden Fall vollständig. Darauf hat das Verwaltungsgericht zu Recht abgestellt. Auch im Berufungszulassungsverfahren wird vom Beklagten keinerlei Sachvortrag geboten, der geeignet sein könnte, die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 9 Satz 2 StVO als gegeben anzusehen.

Die allein gegebene Begründung einer vermeintlichen Bindung an das Votum des Petitionsausschusses des Hessischen Landtags ist rechtlich nicht tragfähig.

Die Begründung für die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung, der Petitionsausschuss habe die Anordnung einer derartigen Beschränkung befürwortet und der Hessische Landtag habe diesen Beschluss bestätigt, vermag schon vom Wortlaut her eindeutig die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 9 Sätze 1 und 2 StVO nicht zu erfüllen. Das gleiche gilt für die Auffassung, dass bereits seit Jahren unterschiedliche Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in der Ortslage von Gilsa durchgeführt worden seien, so dass die Anordnung einer durchgängigen Geschwindigkeitsbeschränkung ein weiteres geeignetes Mittel zur Erhöhung der Verkehrssicherheit darstelle (Berufungszulassungsantrag S. 3, Mitte). Deshalb verbietet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in einer solchen Situation die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung.

Es entspricht einhelliger Auffassung in der staatsrechtlichen Literatur (siehe etwa Klein in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Loseblatt, Stand: Oktober 2011, Art. 17 Rn. 55 m.w.N.; Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 13. Aufl., Art. 17 Rn. 5), dass eine Petition, die ein rechtlich nicht erlaubtes Ziel verfolgt, zwar nicht unzulässig sein muss, das rechtlich unzulässige Petitum jedoch nicht befürwortet werden darf in dem Sinne, dass eine Umsetzung gegen geltendes Recht empfohlen wird. Vielmehr ist der Petent in solchen Fällen über die Rechtslage aufzuklären (Klein in: Maunz/Dürig, a.a.O.). Es kann somit durchaus empfohlen werden, aus Anlass einer Petition die Rechtslage mit allgemeiner Gültigkeit für die Zukunft zu verändern (hier etwa: die normativen Voraussetzungen für Geschwindigkeitsbeschränkungen des fließenden Verkehrs herabzusetzen), jedoch darf nicht dem Begehren eines einzelnen Petenten wider geltendes Recht zur Durchsetzung verholfen werden. Das bedeutet, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 9 StVO eindeutig nicht feststellbar sind, darf nicht dem Petitum entsprochen werden, an der betroffenen Stelle dennoch eine Geschwindigkeitsbeschränkung anzuordnen. Wenn die Umsetzung des Begehrens des Petenten nicht dem geltenden Recht entspricht, kann die Exekutive deshalb auch gegenüber dem Petitionsausschuss und dem Hessischen Landtag nicht verpflichtet sein, eine dem geltenden Recht widersprechende Anordnung zu erlassen. Das haben sowohl das Regierungspräsidium Kassel als auch das Fachreferat des Beklagten zutreffend erkannt. Da die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht vorlagen, durfte auch das Hessische Ministerium für Verkehr, Wirtschaft und Landesentwicklung nicht im Wege des Selbsteintritts nach § 88 Abs. 1 HSOG die Anordnung erlassen.

Das Ministerium durfte sich auch deshalb nicht an das Votum des Petitionsausschusses gebunden fühlen, weil es der eindeutigen verfassungsrechtlichen Lage entspricht, dass der Landtag im Hinblick auf eine Petition nur Empfehlungen, aber keine bindenden Anweisungen geben darf (Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Art. 94 Erl. 2.3.). Etwas anderes würde dem Grundsatz der Gewaltenteilung widersprechen (Zinn/Stein, a.a.O. sowie in Vorbem. II 4 zu Art. 75). Der Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung verpflichtet den Landtag auch ohne ausdrückliche Einzelregelung, bei der Ausübung seiner Befugnisse die Funktionsbereiche der anderen Verfassungsorgane, insbesondere der Regierung zu beachten (Zinn/Stein, Vorbem. II 4 zu Art. 75). Der Landtag darf deshalb nicht Behörden oder Beamten verbindliche Einzelweisungen für die Behandlung eines Einzelfalles erteilen (Zinn/Stein, a.a.O.).

Die rechtswidrige Anordnung vom 2. Juli 2012 verletzt den Kläger auch in seinen subjektiven Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (zuletzt: Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 32.09 -, juris Rn. 12) Verkehrszeichen Verwaltungsakte in Form einer Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Abs. 2 VwVfG darstellen und von mit dem Verkehrszeichen konfrontierten Verkehrsteilnehmern als Betroffenen angefochten werden können.

Die Feststellung dieser derzeit eindeutigen Rechtslage hindert indes nicht, ein Verfahren zur Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung nach § 45 Abs. 1, Abs. 9 StVO wieder aufzugreifen. Die durch den vorliegenden Beschluss des Senat eintretende Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO) ist beschränkt auf die tragende Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass überhaupt keine bejahende Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung festgestellt werden konnte und die entsprechende Tatsachen, die gegen das Vorliegen der Voraussetzungen sprechen, von keinem Beteiligten bestritten worden sind (UA S. 9, 3. Abs.). Nicht ausgeschlossen ist hiernach der Eintritt in eine erneute Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die aufgeworfene Frage, ob der Beschluss des Petitionsausschusses, der durch den Landtag bestätigt wurde, für die Verwaltung eine bindende Wirkung entfaltet, ist nicht klärungsbedürftig. Sie ist, wie den obigen Ausführungen entnommen werden kann, eindeutig in verneinendem Sinne zu beantworten. Der Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung verbietet eine derartige Bindung (für Bayern so auch: VG München, Urteil vom 17. Oktober 2011 - M8K 10.5297 -, juris; Meder, Die Verfassung des Freistaats Bayern, 4. Aufl. 1992, Art. 115 Rn. 3). Andere Sichtweisen sind nicht zu finden und werden vom Beklagten auch nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Danach sind die Kosten demjenigen aufzuerlegen, der ein Rechtsmittel ohne Erfolg eingelegt hat.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf §§ 52 Abs. 1, Abs. 2, 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3 und 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).