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Amtsgericht Neuss Urteil vom 19.10.2015 - 84 C 274/15 - Anscheinsbeweis für ein Auffahren des Hintermannes bei ansteigender Fahrbahn

AG Neuss v. 19.10.2015: Anscheinsbeweis für ein Auffahren des Hintermannes bei ansteigender Fahrbahn


Das Amtsgericht Neuss (Urteil vom 19.10.2015 - 84 C 274/15) hat entschieden:
Ist die Fahrbahn an der Unfallstelle in Fahrtrichtung ansteigend, so kommt ein Beweis des ersten Anscheins für ein schuldhaftes Auffahren des Hintermannes nicht in Betracht bzw. ist zumindest entkräftet.


Siehe auch Auffahrunfall oder Rückwärtsfahren bzw. -rollen? und Auffahrunfälle und Anscheinsbeweis


Tatbestand:

Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Schadensersatz aus einem Unfallereignis am 21.01.2014 in Anspruch.

Gegen 08:50 Uhr befand sich die Zeugin M. als Führerin des der Klägerin gehörenden Pkw VW Touran mit dem amtlichen Kennzeichen ...  und der Beklagte zu 1) als Führer des zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw VW Polo mit dem amtlichen Kennzeichen BN-​... auf der rechten Fahrspur der BAB 57, Fahrtrichtung Nimwegen, im Bereich der Ausfahrt Neuss-​Hafen im Stop-​and-​Go-​Verkehr. Die Zeugin M. fuhr unmittelbar vor dem Beklagten zu 1). Das Gelände weist in Fahrtrichtung eine leichte Steigung auf.

Die Zeugin stand, fuhr an, es kam zum Unfall.

Der Klägerin behauptet, es seien folgende Kosten entstanden:

Reparaturkosten 2.084,10 €
Auslagenpauschale 25,00 €
Summe: 2.109,10 €


Der unfallbedingte Schaden wurde bei der Beklagten zu 2) geltend gemacht. Diese erkannte ihre Einstandspflicht mit Schreiben vom 29.04.2014 in Höhe von 50 % an und erstattete der Klägerin einen Betrag von € 666,76 unter Ablehnung einer weitergehenden Schadensregulierung (Anlage K2, Bl. 14 GA).

Der Klägerin behauptet, der Beklagte zu 1) sei infolge Unachtsamkeit aufgefahren.

Der Klägerin beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie € 1.442,43 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozent punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 24.05.2014 zu zahlen;
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie behaupten, die Zeugin M. sei beim Versuch des Anfahrens mit dem Fahrzeug der Klägerin auf das Fahrzeug des Beklagten zu 1) infolge des leichten Gefälles aufgerollt.

Zudem verweisen sie darauf, dass die Kalkulation der Reparaturkosten durch die Klägerin teilweise unzutreffend sei. Insoweit wird auf die Ausführungen in der Klageerwiderung Bezug genommen (vgl. Bl. 32-​33 GA).

Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugin M.. Auch hat das Gericht den Beklagten zu 1) persönlich gehört. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom18.09.2015 (Bl. 67ff. GA) wird Bezug genommen. Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.Der Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 7, 18 StVG, 1 PflVG, 115 VVG, § 823 BGB.

Voraussetzung wäre, dass die Beklagtenseite ganz oder anteilig für die etwaig eingetretenen Unfallschäden haften würde. Dies ist nicht der Fall, weil der Unfall für den Beklagten zu 1) ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG war. Denn er hätte den Zusammenstoß mit dem Kfz der Klägerin auch bei äußerst möglicher Sorgfalt nicht abwenden können.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist nicht der Beklagte zu 1) vorwärts aufgefahren, sondern die Zeugin M. ist rückwärts auf sein Fahrzeug gerollt.

Infolge des an der Unfallstelle vorhandenen Gefälles in Richtung der Ausfahrt und damit Fahrtrichtung, streitet kein Anscheinsbeweis gegen die Beklagten, da eine entsprechende Typizität eines Geschehens hier fehlt. Ist unstreitig, dass die Fahrbahn ansteigend war, kommt nämlich ein Beweis des ersten Anscheins für ein schuldhaftes Auffahren des Hintermannes nicht in Betracht bzw. ist zumindest entkräftet (vgl. AG Wuppertal, Entscheidung vom 26.01.2015, Aktenzeichen 32 C 220/13; Landgericht Berlin, Entscheidung vom 10.01.2000, Aktenzeichen 58 S 188/99). So liegt der Fall hier.

An der Unfallstelle ist unstreitig eine Steigung vorhanden, was auch die Zeugin M. und der Beklagte zu 1) in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben. Das Vorhandensein dieser Steigung spricht gegen einen entsprechenden Anscheinsbeweis gegen die Beklagtenseite, wie er bei ebener Fahrbahn gegeben wäre. Den Beweis, dass der Beklagte zu 1) dennoch aufgefahren ist, hat die Klägerin nicht führen können. Denn die Aussage der Zeugin M. war dahingehend aus Sicht der Klägerin völlig unergiebig. Die Zeugin hat ausgesagt, das Fahrzeug des Beklagten zu 1) vor der Kollision nicht wahrgenommen zu haben. Lediglich beim Anfahren habe sie einen „Ruck“ gemerkt, der aber nicht „dolle" gewesen sei. Dieser Aussage lässt sich nicht entnehmen, wie der Ruck, den die Zeugin vernommen hat, verursacht wurde. Insbesondere lässt sich allein aus der Wahrnehmung eines „Rucks" ohne Mitteilung von Wahrnehmungen zum eigenen Bewegungszustand bzw. ggf. zu der eigenen Bewegungsrichtung der Zeugin nicht schließen, dass der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug auf das von der Zeugin geführte Fahrzeug aufgefahren ist. Ebenso gut vorstellbar ist, dass die Zeugin M. beim Vorgang des Anfahrens infolge der Lösung der Hand und/oder Fußbremse steigungsbedingt ein Stück rückwärts gefahren ist und es dabei zu einer Kollision mit dem Fahrzeug des Beklagten kam, bevor die Zeugin ein Rückwärtsrollen durch Einkuppeln beenden konnte. Dass sie rückwärts gerollt ist, hat die Zeugin auch auf mehrfaches Nachfragen nicht ausschließen können oder wollen, sondern insoweit lediglich ausgesagt, dass sie „denke, dass man das merke" bzw. dass sie „nicht gemerkt habe, dass sie zurückgerollt sei“ und das „Ganze beim Anfahren" passiert sei.

Das Gericht ist nach der Anhörung des Beklagten zu 1) davon überzeugt, dass ein Rückwärtsrollen der Zeugin nicht nur nicht ausgeschlossen ist, sondern dass dieses tatsächlich stattgefunden hat, ohne dass der Beklagte zu 1) hierauf noch jedenfalls insofern reagieren konnte, dass er die Zeugin M. durch Betätigung seiner Hupe warnte. Die Schilderung des Beklagten zu 1) war insofern lebhaft und inhaltlich kohärent, seine Erinnerung an das Geschehen detailliert. Der Beklagte zu 1) hat einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Von sich aus präzisierte er zu Beginn seiner Aussage seinen Vortrag im Hinblick auf den Abstand von 1 m bis 2,50 m, den das von der Zeugin M. geführte Fahrzeug zu seinem gehabt habe. Auch auf Nachfragen des Klägervertreters zeigte er keine Anzeichen von Nervosität oder Unsicherheit und ließ sich insbesondere auch nicht zu für ihn gegebenenfalls noch günstigeren Aussagen über Details bewegen, zu denen er ersichtlich keine Angaben machen konnte.

Mangels Begründetheit der Hauptforderung war die Klage auch hinsichtlich der entsprechenden Nebenforderungen (Zinsen) abzuweisen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1 S. 1 Hs. 1, 708 Nr. 11,711 ZPO.

Streitwert 48 Abs. 1 GKG, 3-​5 ZPO): € 1.442,43