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VGH München Beschluss vom 10.07.2017 - 11 CS 17.1057 - Keine MPU bei feststehender Alkoholabhängigkeit

VGH München v. 10.07.2017: Entzug der Fahrerlaubnis bei gesicherter Diagnose einer Alkoholabhängigkeit


Der VGH München (Beschluss vom 10.07.2017 - 11 CS 17.1057) hat entschieden:
Gemäß Nr. 8.3 der Anlage 4 zu §§ 11, 13, und 14 FeV besteht bei Alkoholabhängigkeit keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Betreffende im Straßenverkehr auffällig geworden ist. Steht die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, unterbleibt nach § 11 Abs. 7 FeV die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens. Dies ist bei einer gesicherten Diagnose eines Bezirkskrankenhauses gemäß den diagnostischen Leitlinien nach ICD-10 der Fall.


Siehe auch Alkoholabhängigkeit und Alkohol und Fahrerlaubnis


Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen 1b und 3 (alt, erteilt am 24.8.1984 und 24.2.1987).

Am 22. Januar 2017 brachte die Polizei den Antragsteller nach Art. 10 Abs. 3 UnterbrG im Bezirksklinikum Rehau unter. Der Antragsteller sei wegen einer Ehekrise völlig ausgerastet und habe in letzter Zeit vermehrt Suizidgedanken geäußert. Sein Verhalten deute auf einen massiven Alkoholkonsum hin. Es sei eine Atemalkoholkonzentration (AAK) von 0,46 mg/l festgestellt worden.

Gemäß einem vom Antragsteller vorgelegten Bericht des Bezirksklinikums vom 27. Januar 2017 wurde der Antragsteller auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat am 30. Januar 2017 entlassen. Als Diagnosen sind angegeben: Depressive Episode F32.2, Alkoholentzug F10.3 und Alkoholabhängigkeit F10.2. Es wurde absolute Abstinenz und Anbindung an eine ambulante Selbsthilfegruppe sowie eine Suchtberatungsstelle empfohlen.

Nach Anhörung des Antragstellers und Rücksprache mit der Stationsärztin des Bezirksklinikums, die die Diagnose Alkoholabhängigkeit als gesichert bezeichnete, entzog ihm das Landratsamt Hof mit Bescheid vom 3. März 2017 die Fahrerlaubnis und ordnete unter Androhung unmittelbaren Zwangs die Abgabe des Führerscheins sowie die sofortige Vollziehbarkeit an. Es stehe aufgrund des Arztberichts gemäß § 11 Abs. 7 FeV fest, dass der Antragsteller alkoholabhängig und damit nach Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen sei.

Über den gegen den Bescheid vom 3. März 2017 erhobenen Widerspruch hat die Regierung von Oberfranken nach Aktenlage noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Beschluss vom 28. April 2017 abgelehnt. Der Antrag sei schon unzulässig, da er gegen den Landkreis Hof und nicht gegen den Freistaat Bayern gerichtet sei. Der Widerspruch habe voraussichtlich aber auch keine Aussicht auf Erfolg. Der Bescheid sei rechtmäßig, denn bei dem Bezirksklinikum handele es sich um eine Fachklinik für Psychiatrie. Es sei daher davon auszugehen, dass die Diagnose korrekt sei. Dem Arztbrief sei zwar nicht zu entnehmen, welche Kriterien nach den ICD-​10 vorgelegen hätten. Die im Eilverfahren vorgelegten Unterlagen seien aber nicht geeignet, die gestellte Diagnose zu widerlegen. Den Einschätzungen der Betriebsärztin und der Hausärztin komme nur eine geringe Aussagekraft zu. Demgegenüber habe der Antragsteller sich acht Tage im Bezirksklinikum aufgehalten. Auch im Rahmen einer Interessenabwägung würden angesichts der Diagnose des Bezirksklinikums die öffentlichen Interessen das private Interesse des Antragstellers überwiegen.

Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Der Antragsteller macht geltend, der Antrag sei zulässig, da das Gericht das Antragsbegehren im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers zu würdigen habe und klar erkennbar gewesen sei, gegen wen sich der Antrag richten solle. Im Übrigen stehe nicht fest, dass der Antragsteller alkoholabhängig sei. Die gemessene AAK werde schon mit zwei bis drei Gläsern Bier erreicht. Das Verwaltungsgericht stelle selbst fest, dass die Begutachtungsleitlinien nicht beachtet worden seien. Das Landratsamt hätte ein fachärztliches Sachverständigengutachten anordnen müssen und nicht ohne weitere Aufklärung die Fahrerlaubnis entziehen dürfen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.


II.

Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig wäre.

1. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 3. März 2017 ist zulässig, obwohl in der Antragsschrift als Antragsgegner der Landkreis Hof und nicht der Freistaat Bayern genannt ist. Das Verwaltungsgericht hat bei der Verfügung der Erstzustellung den Antrag zutreffend ausgelegt und den Freistaat Bayern als richtigen Antragsgegner angesehen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 78 Rn. 16), die Verwaltungsstreitsache mit „J... gegen Freistaat Bayern“ bezeichnet und den Antragsteller nicht darauf hingewiesen, dass die Auslegung seines Antrags ergeben habe, dass er sich gegen den falschen Antragsgegner richtet (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 78 Rn. 26). Das Landratsamt hat sich auch rügelos darauf eingelassen.

2. Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. November 2016 (BGBl I S. 2722), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-​Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung vom 21. Dezember 2016 (BGBl I S.3083), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).

Gemäß Nr. 8.3 der Anlage 4 zu §§ 11, 13, und 14 FeV besteht bei Alkoholabhängigkeit keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Betreffende im Straßenverkehr auffällig geworden ist. Steht die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, unterbleibt nach § 11 Abs. 7 FeV die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens.

Hier hat der Antragsteller selbst den Arztbericht des Bezirksklinikums Rehau vorgelegt, mit dem Alkoholabhängigkeit diagnostiziert worden ist. Nach telefonischer Auskunft der Stationsärztin gegenüber dem Landratsamt ist die Diagnose als gesichert anzusehen und ist auch mit dem Antragsteller besprochen worden. Nach den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung (Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, gültig ab 1.5.2014, Stand 28.12.2016, Abschnitt 3.13.2) soll die sichere Diagnose „Abhängigkeit“ gemäß den diagnostischen Leitlinien nach ICD-​10 nur gestellt werden, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der dort genannten sechs Kriterien gleichzeitig vorhanden waren (starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren; verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums; körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums; Nachweis einer Toleranz; fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums; anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen, die dem Betroffenen bewusst sind). Auch wenn der Bericht des Bezirksklinikums nicht näher ausführt, welche dieser Kriterien hier erfüllt waren, bestehen an der Diagnose einer Alkoholabhängigkeit keine begründeten Zweifel. Bei den bayerischen Bezirkskliniken handelt es sich um Einrichtungen, die nach Art. 48 Abs. 3 Nr. 1 der Bezirksordnung für den Freistaat Bayern unter anderem der Betreuung von Suchtkranken dienen. Das Angebot des Bezirksklinikums Rehau gilt für Abhängigkeitserkrankungen von Alkohol, Medikamenten und Drogen - (http://www.bezirkskliniken-​oberfranken.de/pages/html/rehau/klinik_behandlungsbe-​bereiche/suchtmedizin.html). Dieses Fachkrankenhaus verfügt deshalb über einen hohen Grad an Spezialisierung auf Suchterkrankungen. Attestiert eine Bezirksklinik einer Person, die sich dort über eine Woche stationär aufgehalten hat, eine Abhängigkeitssymptomatik, kommt einer solchen Diagnose ein hoher Grad an Verlässlichkeit zu. Denn eine so lange Befassung mit einem Patienten verschafft den behandelnden Ärzten ein mehr als nur oberflächliches Bild von seinen Lebensgewohnheiten und Lebenseinstellungen, seiner psychischen Verfassung und seinen nutritiven Gewohnheiten und damit von Faktoren, die für die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit von Bedeutung sind (BayVGH, B.v. 27.7.2012 – 11 CS 12.1511 – juris Rn. 27 ff.; B.v. 17.12.2015 – 11 ZB 15.2200 – juris Rn. 20; B.v. 16.11.2016 – 11 CS 16.1957 Rn. 11). Deshalb ist nach den für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie [DGVP] und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin [DGVM], 3. Auflage 2013) die Tatsache, dass eine Alkoholabhängigkeit bereits extern diagnostiziert wurde, ein Kriterium für das Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit, insbesondere wenn die Diagnose von einer suchttherapeutischen Einrichtung gestellt oder eine Entgiftung durchgeführt wurde (Kriterium A 1.1 N, S. 97, 119).

Allerdings sprechen die am 22. Januar 2017 gemessene Atemalkoholkonzentration von 0,46 mg/l sowie das Attest der Hausärztin vom 14. März 2017 und die arbeitsmedizinische Stellungnahme vom 14. März 2017 nicht zwingend für eine Alkoholabhängigkeit. Es bleibt dem Antragsteller daher unbenommen, im Widerspruchsverfahren entweder ein neues ärztliches Gutachten des Bezirksklinikums beizubringen, aus dem sich ergibt, dass die ursprüngliche Diagnose nicht aufrechterhalten wird, oder ein ärztliches Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung zu der Frage einzuholen, ob Alkoholabhängigkeit besteht. Bis dahin ist allerdings weiterhin von der diagnostizierten Alkoholabhängigkeit auszugehen.

3. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.2, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Auflage 2016, Anh. § 164 Rn. 14).

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).