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Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschluss vom 06.01.2021 - 1 S 115.20 - Kein einstweiliger Rechtsschutz gegen sog. Pop-UP-Radfahrstreifen in Berlin

OVG Berlin-Brandenburg v. 06.01.2021: Kein einstweiliger Rechtsschutz gegen sog. Pop-UP-Radfahrstreifen in Berlin




Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 06.01.2021 - 1 S 115.20) hat entschieden:

   Die für die straßenverkehrsrechtliche Gefahrenprognose iSd § 45 Abs 1 S 1 i.V.m. Abs 9 S 1 StVO erforderlichen Tatsachengrundlagen muss die Straßenverkehrsbehörde z.B. durch Verkehrszählungen, Unfallstatistiken oder Verkehrsstärken in Relation zu den gefahrenen Geschwindigkeiten belegen. Diese Anforderungen sind hinsichtlich der Einrichtung sog. Pop-Up-Radfahrstreifen in Berlin großenteils erfüllt.

Siehe auch
Schutzstreifen für Radfahrer - Angebotsstreifen
und
Stichwörter zum Thema Radfahrer


Gründe:


Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg.

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege einstweiligen Rechtsschutzes gegen die - teils temporäre - Einrichtung im Einzelnen benannter Radfahrstreifen. Auf seinen Antrag hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung seiner Klage (VG 11 K 206/20) angeordnet und den Antragsgegner verpflichtet, die Verkehrszeichen und Fahrbahnmarkierungen (Zeichen 237 und 295) auf den Straßenabschnitten

Gitschiner Straße/ Skalitzer Straße zwischen Halleschem Tor und Kottbusser Straße

Hallesches Ufer zwischen Halleschem Tor und Köthener Straße

Kottbusser Damm/Kottbusser Straße zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz

Petersburger Straße zwischen Bersarinplatz und Landsberger Allee

Lichtenberger Straße zwischen Holzmarktstraße und Straußberger Platz

Tempelhofer Ufer zwischen Schöneberger Straße und Halleschem Tor

Schöneberger Ufer zwischen Potsdamer Brücke und Köthener Straße

Kantstraße und Neue Kantstraße zwischen Messedamen und Budapester Straße

zu entfernen. Zur Begründung hat die Kammer unter Bezugnahme auf die - teilweise befristeten, mit E-​Mail vom 29. Mai 2020 verlängerten - straßenverkehrsbehördlichen Anordnungen des Antragsgegners

vom 9. November 2017, 17. August 2018 sowie 15. April 2020 (Gitschiner Straße und Skalitzer Straße zwischen Halleschem Tor und Kottbusser Straße),

vom 27. März 2020 (Hallesches Ufer und Gitschiner Straße zwischen Halleschem Tor und Köthener Straße),

vom 20. Februar 2020 und 20. April 2020 (Kottbusser Damm und Kottbusser Straße zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz),

vom 5. April 2020 (Lichtenberger Straße und Petersburger Straße),
vom 15. April 2020 (Tempelhofer Ufer und Schöneberger Ufer)

und

vom 13. April 2020 (Kantstraße und Neue Kantstraße zwischen Messedamm und Budapester Straße),

im Wesentlichen ausgeführt: Entgegen der Ansicht des Antragstellers sei zwar die temporäre Einrichtung von Radfahrstreifen auf zuvor durch den Autoverkehr genutzten Fahrbahnen ohne straßenrechtliche Anordnung grundsätzlich zulässig. Der Antragsgegner habe jedoch für die jeweiligen Straßenabschnitte weder eine konkrete Gefahrenlage noch besondere Umstände dargelegt, wonach die Anordnung der Radfahrstreifen zwingend erforderlich sei. Zum Beleg einer solchen Gefahr bedürfe es einer Tatsachengrundlage, aus der sich das Verkehrsaufkommen, die Zahl der jeweiligen Verkehrsteilnehmer, etwaige Verkehrsverstöße oder Unfallzahlen ergäben. Die entsprechenden Umstände und Beobachtungen könnten etwa durch Verkehrszählungen, Ordnungswidrigkeiten- oder Unfallstatistiken aufgezeigt werden. Ließen sich schon die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Radfahrstreifen nicht feststellen, könne die Entscheidung nicht auf Ermessensfehler überprüft werden. Die angeführten Auswirkungen der SARS-CoV-​2-Pandemie seien keine verkehrsbezogenen Erwägungen.




Auf die dagegen vom Antragsgegner fristgerecht erhobene Beschwerde vom 15. September 2020 hat der Senat das Verfahren mit Beschluss vom 6. Oktober 2020 (OVG 1 S 116/20) in Bezug auf den Straßenabschnitt Petersburger Straße zwischen Bersarinplatz und Landsberger Allee eingestellt und den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 4. September 2020 für wirkungslos erklärt, nachdem die Beteiligten das Verfahren insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt hatten. Im Übrigen hat der Senat die Vollziehung des erstinstanzlichen Beschlusses auf Antrag des Antragsgegners im Wege der Zwischenanordnung (Beschluss vom 6. Oktober 2020 - OVG 1 S 116/20) bis zur Entscheidung über die Beschwerde gemäß § 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 570 Abs. 3 ZPO vorläufig ausgesetzt, nachdem der Antragsgegner die für die straßenverkehrsrechtliche Gefahrenprognose erforderlichen Tatsachengrundlagen jeweils durch Nachreichung geeigneter Beweismittel (Verkehrszählungen, Unfallstatistiken), die dem Verwaltungsgericht nicht vorlagen, hinreichend plausibilisiert und seine Ermessenserwägungen überwiegend in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ergänzt hatte.

Noch vor Einlegung der Beschwerde hatte der Antragsgegner unter dem 14. September 2020 für die Gitschiner Straße mit Ausnahme des Abschnitts Hallesches Tor und der Einmündung Zossener Straße/Lindenstraße eine "Straßenverkehrsbehördliche Anordnung gem. § 45 StVO" erlassen, mit der die bisher "verfügten straßenverkehrsbehördlichen Maßnahmen … mit gleichlautendem Inhalt und unter Hinweis auf die nachfolgende Begründung wiederholt gemäß § 45 StVO angeordnet" wurden. Nach Einlegung der Beschwerde hat der Antragsgegner unter dem 7. Oktober 2020 in Bezug auf den Straßenabschnitt Gitschiner Straße/Skalitzer Straße alle auf diesen Bereich bezogenen streitgegenständlichen Anordnungen aufgehoben, eine neue Anordnung mit denselben Inhalten erlassen und diese mit Gründen versehen.





II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das für die Prüfung des Senats maßgebliche Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Änderung des angegriffenen Beschlusses (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO).

1. Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung begründet worden (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO). Auch der Schriftsatz des Antragsgegners vom 7. Oktober 2020 nebst Anlage ist am selben Tag fristgerecht eingegangen. Dem erstinstanzlich anwaltlich noch nicht vertretenen Antragsgegner ist der angegriffene und mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehene Beschluss gegen Empfangsbekenntnis am 14. September 2020 zugestellt worden (Gerichtsakten Bl. 88; dem Prozessbevollmächtigen des Antragstellers am 13. September 2020, Gerichtsakten Bl. 87). Die Frist zur Begründung der Beschwerde endete demnach für den Antragsgegner mit Ablauf des 14. Oktober 2020. Am 15. September 2020 hat er seine Beschwerde - nunmehr vertreten durch seinen Verfahrensbevollmächtigten - bei dem Verwaltungsgericht eingelegt und mit einer Begründung versehen, auf die der Antragsteller mit Schriftsatz vom 29. September 2020 erwidert und auf den der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 2. Oktober 2020 - seine Begründung teilweise vertiefend - repliziert hat.

Soweit der Antragsteller meint, die Begründungsfrist sei "spätestens am 06.10.2020 mit dem Zwischenbescheid des Oberverwaltungsgerichts vom 06.10.2020" abgelaufen, weil "nicht vorstellbar (sei), dass der Senat … vor Ablauf der Begründungsfrist den Zwischenbescheid erlassen hat", verkennt er das Verhältnis von Beschwerde- und Aussetzungsverfahren. Der Beschwerde kommt regelmäßig keine aufschiebende Wirkung zu (§ 149 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach der gemäß § 173 Abs. 1 VwGO im Verwaltungsprozess entsprechend anwendbaren Bestimmung des § 570 Abs. 3 ZPO kann das Beschwerdegericht indes vor der Entscheidung über die Beschwerde eine einstweilige Anordnung erlassen. Es kann insbesondere die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung aussetzen. Über einen solchen - hier mit Schriftsatz des Antragsgegners vom 15. September 2020 gestellten - Antrag, die Vollziehung des angegriffenen Beschlusses auszusetzen, ist regelmäßig kurzfristig nach Einlegung einer bereits im Wesentlichen begründeten Beschwerde und nach Gewährung rechtlichen Gehörs zu entscheiden, um im Einzelfall sicherzustellen, dass keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden (sog. Zwischenanordnung). Andernfalls wäre der Normzweck verfehlt. Der Ablauf der ordnungsgemäß in Gang gesetzten gesetzlichen Beschwerdebegründungsfrist bleibt davon naturgemäß unberührt. Im Übrigen war die Zwischenanordnung in zeitlicher Hinsicht schon deshalb geboten, weil der Antragsteller seinerseits bereits vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist bei dem Verwaltungsgericht die Vollstreckung der Verpflichtung zur Aufhebung der Vollziehungsmaßnahmen aus dem ihn begünstigenden erstinstanzlichen Beschluss beantragt hatte. Soweit der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners in seinem Schriftsatz vom 5. November 2020 davon ausgegangen ist, die Begründungsfrist für die Beschwerde ende am 7. Oktober 2020, weil dem Antragsgegner der Beschluss per Telefax am 7. September 2020 übermittelt worden sei (dem Prozessbevollmächtigen des Antragstellers am selben Tag vorab per E-​Mail, Gerichtsakten Bl. 85), änderte auch dies - Kenntniserlangung unterstellt - nichts an der Einhaltung der Frist.




2. Die straßenverkehrsbehördlichen Anordnungen sind - die (streitige) Frage der Antragsbefugnis des Antragstellers (§ 42 Abs. 2 VwGO analog) ebenfalls unterstellt - bei summarischer Prüfung rechtmäßig, denn ausweislich der erstmals im Beschwerdeverfahren eingereichten Unterlagen sind für alle streitgegenständlich gebliebenen Straßenabschnitte die tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 9 Satz 1 StVO erfüllt. Zugleich hat der Antragsgegner seine Ermessenserwägungen für die Straßenabschnitte Hallesches Ufer zwischen Hallesches Tor und Köthener Straße, Kottbusser Damm/Kottbusser Straße zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz, Lichtenberger Straße zwischen Holzmarktstraße und Strausberger Platz, Tempelhofer Ufer zwischen Schöneberger Straße und Halleschem Tor, Schöneberger Ufer zwischen Potsdamer Brücke und Köthener Straße sowie Kantstraße und Neue Kantstraße zwischen Messedamm und Budapester Straße in zulässiger Weise mit Schriftsatz vom 15. September 2020 (S. 29 ff.) ergänzt . Die für den Straßenabschnitt Gitschiner Straße/Skalitzer Straße getroffene und mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2020 übermittelte neue Sachentscheidung des Antragsgegners ist im Beschwerdeverfahren ebenfalls zu berücksichtigen und das Ermessen auch insoweit in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt worden.

a) Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 9 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken; entsprechende Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Die für die straßenverkehrsrechtliche Gefahrenprognose erforderlichen Tatsachengrundlagen, die erstinstanzlich nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden waren, hat der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren jeweils durch Nachreichung geeigneter Beweismittel (Verkehrszählungen, Unfallstatistiken) belegt (Schriftsätze vom 15. September und 7. Oktober 2020 nebst Anlagen).

Zur Beurteilung der Gefahrenlage aufgrund von Verkehrsstärken in Relation zu den gefahrenen Geschwindigkeiten hat die Beschwerde auf die Kriterien der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Ausgabe 2010) zurückgegriffen, denen als fachlich anerkanntes Regelwerk ein entsprechender Sachverstand und Erfahrungswissen entnommen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 2010 - 3 C 42.09 - juris Rn. 27; Senatsurteile vom 14. Februar 2018 - OVG 1 B 25.15 - juris Rn. 22, und vom 20. März 2019 - OVG 1 B 3.18 - n.V., Urteilsabdruck S. 9). Danach spricht bei summarischer Prüfung Überwiegendes dafür, dass jedenfalls auf den Straßenzügen, die im Rahmen der "Vorauswahl von geeigneten (Radverkehr)Führungsformen" den Belastungsbereichen III oder IV zuzuordnen sind (ERA 2010, Ziff. 2.3), das Trennen des Radverkehrs vom Kraftfahrzeugverkehr aus Sicherheitsgründen gefordert ist (ERA 2010, Ziff. 2.3.3). Das betrifft mit Ausnahme der dem Belastungsbereich II zugeordneten Teilabschnitte der Kottbusser Straße sowie der Kantstraße zwischen der Suarezstraße und der Ostseite des Savignyplatzes alle streitig gebliebenen Straßenabschnitte. Dazu gehört auch der Straßenabschnitt Gitschiner Straße/Skalitzer Straße zwischen Halleschem Tor und Kottbusser Straße, der ebenfalls dem Belastungsbereich III zugeordnet ist. Die insoweit innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist eingereichte neue und erstmals mit zutreffenden verkehrsbezogenen Ermessenserwägungen versehene Anordnung vom 7. Oktober 2020 ist entgegen der Ansicht des Antragstellers in der Sache verwertbar. Denn die Gründe, auf welche die Beschwerde gestützt wird, müssen nicht notwendigerweise bereits im Zeitpunkt des angegriffenen Beschlusses vorgelegen haben. Sie können sich auch auf eine Sach- und Rechtslage stützen, die sich erst nach Ergehen des Beschlusses ergeben hat. Gleiches gilt, wenn entscheidungserhebliche Umstände erst nach Ergehen des Beschlusses erkennbar geworden sind. Nachträglich eingetretene entscheidungserhebliche Tatsachen sind selbst dann vom Beschwerdegericht zu berücksichtigen, wenn sie vom Beschwerdeführer erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst geschaffen wurden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 25. A., 2019, § 146 Rn. 42).

Mit Blick auf die wegen der Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h lediglich dem Belastungsbereich II zugeordneten Teilabschnitte der Kottbusser Straße sowie der Kantstraße zwischen der Suarezstraße und der Ostseite des Savignyplatzes, erweist sich der angegriffene Beschluss angesichts der insoweit im Wesentlichen unwidersprochen gebliebenen Unfallstatistiken voraussichtlich ebenfalls als fehlerhaft, wobei es auf die Einzelheiten des tödlichen Verkehrsunfalls am 7. Februar 2020 in der Kantstraße, Höhe Savignyplatz, vor dem Hintergrund der auf dem Streckenabschnitt in der Zeit vom 1. Dezember 2016 bis zum 30. November 2019 insgesamt registrierten 69 Verkehrsunfälle (26 mit Beteiligung von Radfahrern) nicht entscheidend ankommen wird. Im Übrigen sind insoweit verbleibende Streitfragen gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren zu klären.

b) Das Vorbringen des Antragstellers - zuletzt vertieft mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2020 - führt zu keiner abweichenden rechtlichen Beurteilung. Soweit er an den Einwendungen festhält, die er bereits im Aussetzungsverfahren vorgebracht hat und die in diesem Rahmen zur Beurteilung der Voraussetzungen für die vorläufige Aussetzung der Vollziehung des angegriffenen Beschlusses geprüft worden sind, wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Beschluss des Senats vom 6. Oktober 2020 - OVG 1 S 116/20 - (dort unter II. b und c) verwiesen.

aa) Entgegen der Einschätzung des Antragstellers ist es nicht entscheidungserheblich, aus welchen Gründen das von ihm im Klageverfahren (VG 11 K 206/20) eingereichte Gutachten des Abgeordnetenhauses von Berlin – Wissenschaftlicher Parlamentsdienst – vom 7. August 2020 in seiner Argumentation den Begriff der "qualifizierten Gefahrenlage" nicht verwendet hat. Denn § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO verlangt eine solche Gefahrenlage nicht. Inwieweit das Gutachten mit den im Schriftsatz des Antragstellers vom 19. Oktober 2020 (S. 2 und 3) zitierten Passagen dessen Argumentation stützen soll, erschließt sich nicht. Im Gegenteil: Dass verkehrsbeschränkenden Maßnahmen "eine Bewertung der konkreten Situation auf der betroffenen Straße vorangehen" muss und keine Vermutungen ausreichen, entspricht der Normlage (§ 45 Abs. 9 Satz 1 StVO: "aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich"). Zudem gelangt das Gutachten zutreffend zu dem Ergebnis, dass auf der Grundlage von § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 9 StVO auch temporäre Radfahrstreifen angeordnet werden können, die erforderlich sind, um konkreten Gefährdungslagen entgegenzuwirken, die aus einer Verstärkung des Radverkehrs auf Grund der Corona-​Pandemie entstehen (vgl. Gutachtenergebnisse, S. 10 und 13).

Die Behauptung, der Antragsgegner habe konkrete Gefahrenlagen "nur vermutet", trifft ersichtlich nicht zu. Vielmehr sind für jeden Straßenabschnitt die jeweiligen Verkehrsströme betrachtet und belegt worden (vgl. Gerichtsakten Bl. 92-​129 nebst Anlagen, Bl. 148-​159 nebst Anlagen sowie Bl. 170-​173). Sie führten jeweils zu der bereits erwähnten Einordnung nach den (Belastungsbereichs-​)Kriterien der ERA 2010. Die dazu getroffenen tatsächlichen Feststellungen werden vom Antragsteller nach wie vor nicht in Frage stellt. Soweit er mit allgemeinen Hinweisen zum Beibringungsgrundsatz im Zivilprozess und zur Geltung des Amtsermittlungsprinzips "im Behördenprozess" meint, hier liege "in allen 8 der streitgegenständlichen Fällen" keine Behördenentscheidung vor, die "für die gerichtliche Überprüfung … durch einen Parteivortrag ergänzt werde(n)" könne, übersieht er nicht nur die im Einzelnen getroffenen straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen des Antragsgegners, der seine zunächst teils defizitären Ermessenserwägungen im Beschwerdeverfahren in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ergänzt hat, sondern verkennt auch das Verhältnis zwischen Eil- und Hauptsacheverfahren. Es ist nicht Aufgabe eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens, unter Vorwegnahme der Hauptsache Beweise von Amts wegen zu erheben, wenn die vorgetragenen Tatsachen durch geeignete Beweismittel glaubhaft gemacht und nicht im Ansatz substantiiert bestritten werden. So liegen die Dinge hier. Der wiederholte Hinweis des Antragstellers auf die Vorinstanz, wonach der Antragsgegner zur Begründung seiner streitgegenständlichen Anordnung keine konkrete Gefahrenlage vorgelegt habe, führt nicht weiter. Denn die Sachlage stellt sich im Beschwerdeverfahren angesichts der fristgerecht nachgereichten Beweismittel (Verkehrszählungen, Unfallstatistiken) anders dar. Dieser Erkenntnis verschließt sich der Antragsteller.


- bb) Sein weiterer Einwand, die vom Antragsgegner vorgelegten GPS-​Messungs-​Daten zum Beleg der Behauptung, die Fahrtzeiten auf den streitgegenständlichen Straßenabschnitten hätten sich nach der jeweiligen Einrichtung der Radfahrstreifen im Frühjahr 2020 allenfalls geringfügig - überwiegend unter 1 Minute - verlängert, werde durch den eingereichten Online-​Artikel "Top-​10 Staureichste Städte Deutschlands: TOMTOM Traffic Index 2019 (Tabelle)" aus der Autozeitung "wiederlegt", greift nicht durch. Unabhängig davon, dass die Tabelle die notwendige Differenzierung nach den hier allein maßgebenden Straßenabschnitten vermissen lässt, beziehen sich die für das gesamte Land Berlin erhobenen Zahlen auf das Jahr 2019. Sie sind damit bereits im Ansatz ungeeignet, die behaupteten Einschränkungen des Antragstellers durch Stauzeiten zu belegen, die durch die Anlegung der streitigen Radfahrstreifen im Frühjahr 2020 verursacht worden sein sollen.

cc) Das pauschale Vorbringen, dass die polizeilich erfassten "Straßenverkehrsunfälle im Bundesland Berlin" in der Zeit von 1991 bis 2019 (leicht) rückläufig seien und an Kreuzungen die Mehrzahl der Radunfälle passiere, zu deren Vermeidung "Pop-​Up-​Radwege … kein geeignetes Mittel" seien, entkräftet weder die für die streitgegenständlichen Straßenabschnitte erhobenen konkreten Unfallzahlen noch die im Rahmen der ergänzenden Ermessenerwägungen für den Bereich der Kreuzungen in der Kantstraße unwidersprochen dargelegten Ausweitungen des Stau- und Abflussraums im Interesse der Leistungsfähigkeit der Knotenpunkte. Dass zur Gewährleistung ausreichender Sichtbeziehungen an den Knotenpunkten das Halten/Parken links vom Radfahrstreifen ca. 15 m vor und hinter den Kreuzungen/Einmündungen nicht gestattet ist (vgl. RP TEER 03a und 04), nimmt der Antragsteller ebenso wenig zur Kenntnis wie die straßenverkehrsordnungsrechtlichen Vorgaben (etwa § 12 Abs. 3 Nr. 1 StVO), die in rechtlich nicht zu beanstandender Weise versuchen der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass – wie der Antragsteller meint – "an den Kreuzungen … vorrangig die Radfahrer" bedroht seien. Auch dürfte nicht zweifelhaft sein, dass die Optimierung von Ampelschaltungen in Kreuzungsbereichen, die der Antragsteller unter Berufung auf den Leiter der Unfallforschung der Versicherer fordert, oder etwa der Einsatz von Rechtsabbiegeassistenten theoretisch stets einen weiteren Sicherheitsgewinn für alle Verkehrsteilnehmer erbringen können. Dadurch wird indes die Rechtmäßigkeit der hier bereits getroffenen Maßnahmen nicht in Frage gestellt.

dd) Die mit Blick auf die Rettungswege in der Kantstraße nunmehr (sinngemäß) geäußerte Auffassung des Antragstellers, die nachträgliche Einbindung der Feuerwehr durch den Antragsgegner und insbesondere die im Rahmen der ergänzenden Ermessenserwägungen aufgenommene Abstimmung mit dem Bezirksamt, die Anordnung so zu ändern, dass im Bereich des Sicherheitsstreifens (zwischen Radfahrstreifen und Parkstreifen) keine Leitbaken aufzustellen seien, damit auch Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr diesen insgesamt ausreichend breiten Bereich im Notfall befahren können, seien mangels Zuständigkeit des Bezirksamtes für die Anordnung von Radfahrstreifen im übergeordneten Straßennetz nicht verwertbar, verkennt den rechtlichen Kern der Ausführungen. Nicht das Bezirksamt hat die Ermessenserwägungen ergänzt, sondern die zuständige Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Diese führt auch die laufenden und vom Antragsteller nicht in Abrede gestellten Abstimmungsgespräche mit der Feuerwehr, wobei die insoweit im Einzelnen erzielten Ergebnisse der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen.

c) Erweist sich danach die angegriffene Entscheidung angesichts des ergänzenden Vorbringens des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Ergebnis als fehlerhaft, überwiegen bei wertender Gegenüberstellung die öffentlichen Belange die privaten Interessen des Antragstellers.

Die Trennung des Radverkehrs vom Kraftfahrzeugverkehr erfolgt vor dem Hintergrund der für die Straßenabschnitte dargelegten konkreten Gefahrenlagen im öffentlichen Sicherheitsinteresse der Verkehrsteilnehmer. Der Antragsteller hat zu seinen pauschal geltend gemachten privaten Interessen in seinem an die Senatsverwaltung gerichteten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO vom 2. Juni 2020 im Wesentlichen vorgetragen, in seinem Grundrecht auf Fortbewegungsfreiheit in unzulässiger Weise eingeschränkt zu sein. Die Folge der Radverkehrsanlagen seien "Staus und ein verlangsamtes (V)orankommen in den betroffenen Straßenabschnitten sowie eine Beschränkung des Parkraums für den ruhenden Verkehr". Er könne "sich daher nicht in der gewohnten Weise durch das Stadtgebiet bewegen".

Mit seinem Vorbringen im Beschwerdeverfahren hat der Antragsteller die behaupteten Beeinträchtigungen nicht weiter konkretisiert. Wie bereits unter II b) bb) ausgeführt, tragen die zur Substantiierung der behaupteten Fahrzeitverlängerung vorgelegten Zahlen aus dem Online Artikel "Top-​10 Staureichste Städte Deutschlands: TOMTOM Traffic Index 2019 (Tabelle)" die Schlussfolgerungen des Antragstellers nicht. Die Angaben sind nicht geeignet, die vom Antragsgegner als Anlage AG 25 zum Beschwerdeschriftsatz vom 15. September 2020 eingereichten Daten zu entkräften. Ein allgemeines Recht auf Fortbewegung "in gewohnter Weise" folgt indes aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht. Damit bleibt es im Rahmen der Folgenabwägung bei der Einschätzung des Senats im Aussetzungsverfahren (OVG 1 S 116/20), dass es sich bei den vom Antragsgegner plausibel dargelegten minimalen Verzögerungen auf den maßgeblichen Straßenabschnitten um Eingriffe relativ geringen Gewichts handelt, die vom Antragsteller (auch) bis zur abschließenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren hinzunehmen sind.



Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Trotz der Versäumnisse des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren sind ihm die Kosten nach dem Rechtsgedanken des § 155 Abs. 4 VwGO nicht teilweise aufzuerlegen. Nachdem er in rechtlich zulässiger Weise die erforderlichen Tatsachengrundlagen für die Einrichtung der Radfahrstreifen im Beschwerdeverfahren nachgereicht und seine Anordnungen um verkehrsbezogene Ermessenserwägungen ergänzt hatte, hätte der Antragsteller auf die geänderte prozessuale Situation reagieren und die nunmehr drohende Kostenlast durch geeignete prozessuale Erklärungen abwenden können.

Dies hat er unterlassen und das Verfahren in vollem Umfang fortgeführt, obwohl er nach Vorlage der Beschwerdebegründung nebst Anlagen sowie dem Beschluss des Senats, die Vollziehung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vorläufig auszusetzen, damit hätte rechnen können, dass sich die angegriffene Entscheidung bei summarischer Prüfung im Ergebnis ganz überwiegend als fehlerhaft erweist.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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