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Verwaltungsgerichtshof Mannheim Urteil vom 29.08.2017 - 10 S 30/16 - Zur Befreiung von der Helmpflicht für ein Motorrad aus religiösen Gründen

VGH Mannheim v. 29.08.2017: Zur Befreiung von der Helmpflicht für ein Motorrad aus religiösen Gründen




Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim (Urteil vom 29.08.2017 - 10 S 30/16) hat entschieden:

   Das der Straßenverkehrsbehörde durch § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO hinsichtlich Befreiungen von der Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO eingeräumte Ermessen ist nicht bereits deswegen auf Null reduziert, weil einem Kraftradfahrer das Tragen eines Schutzhelms wegen der religiösen Pflicht zum Tragen eines Turbans nicht möglich ist.

Siehe auch
Schutzhelm für Motorradfahrer
und
Gesichtsschleier - Niqabs - Burka - Verhüllungsverbot


Tatbestand:


Der Kläger begehrt eine Ausnahme von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms beim Führen eines Kraftrads.

Der Kläger stellte am 18.07.2013 bei der Beklagten einen Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Nr. 5b StVO zur Befreiung von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelmes. Zur Begründung teilte er mit, er sei als Sikh aus religiösen Gründen Träger eines Turbans.

Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 27.08.2013 mit der Begründung ab, eine Ausnahmegenehmigung könne nur aus gesundheitlichen Gründen erteilt werden. Die Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO enthalte keine anderen Tatbestände für die Erteilung einer Ausnahme. Die Begründung des Antrags aus religiösen Gründen sei unzureichend. Die Schutzhelmtragepflicht diene dem Schutz des Kraftfahrers vor schweren Körperverletzungen und stelle keinen unzulässigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit oder freie Religionsausübung dar; beide Grundrechte würden nur im Rahmen der verfassungsgemäßen Ordnung gewährleistet, worunter jede Rechtsnorm zu fassen sei, die der Verfassung entspreche.

Zur Begründung seines hiergegen gerichteten Widerspruchs verwies der Kläger (unter Vorlage eines Zeitungsberichts des Südkuriers vom 10.11.2009 über die einem Sikh in Bad Säckingen erteilte Befreiung von der Helmpflicht) darauf, dass eine Befreiung von der Helmpflicht bereits mehrfach ausgesprochen worden sei. Die angegriffene Entscheidung greife in seine Persönlichkeitsrechte ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2014, zugestellt am 03.11.2014, wies das Regierungspräsidium den Widerspruch zurück und führte aus, nach § 46 Abs. 2 StVO könne die Straßenverkehrsbehörde von allen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle genehmigen. Nach der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO sei die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nur in besonders dringenden Fällen gerechtfertigt, wobei an den Nachweis solcher Dringlichkeit strenge Anforderungen zu stellen seien. Die Ausnahmegenehmigung setze Gründe voraus, die das öffentliche Interesse an dem Gebot überwögen, von dem befreit werden solle, und dürfe das Schutzgut der Vorschrift nicht wesentlich beeinträchtigen. Insofern gebe die Verwaltungsvorschrift eine allgemeine Richtlinie für die Ausübung des in § 46 StVO eingeräumten Ermessens vor und beschränke so in zulässiger Weise die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen auf besondere Ausnahmefälle. Explizit vorgesehen sei das Erteilen einer Ausnahmegenehmigung aus gesundheitlichen Gründen. Die Beklagte habe nachvollziehbar dargelegt, warum aus ihrer Sicht der mit der Helmpflicht bezweckte Schutz der Gesundheit der religiösen Pflicht zum Tragen eines Turbans vorgehe und nicht in die freie Religionsausübung eingreife; auf die Begründung des Bescheids werde verwiesen. Auch die Verhältnismäßigkeit bleibe gewahrt, weil es dem Kläger unbenommen bleibe, mit Helm Motorrad zu fahren. Die Beklagte habe die Entscheidung, den Antrag abzulehnen, ermessensfehlerfrei getroffen. Soweit sich der Kläger auf andere Personen berufe, die eine Ausnahmegenehmigung erhalten hätten, sei zunächst unklar, ob es sich hierbei überhaupt um vergleichbare Fälle handele. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, sei eine solche Ausnahmegenehmigung jedenfalls rechtsfehlerhaft erteilt worden.

Der Kläger hat am 03.12.2014 Klage auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung erhoben und zu deren Begründung vorgetragen, er gehöre seit dem Jahr 2005 der Religion der Sikhs an. Er habe, entsprechend der bei den Sikhs geltenden Glaubenssätze, seit dieser Zeit seine Haare nicht mehr geschnitten und lebe seine Religion auch durch entsprechende Kleidung wie das Tragen eines Turbans. Als Sikh fühle er sich verpflichtet, in der Öffentlichkeit einen Turban zu tragen. Dieser werde allenfalls zum Schlafengehen abgenommen; ggf. würden die Haare dann durch ein Tuch bedeckt. Die Helmpflicht verletze ihn in seiner Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG. Entweder müsse er auf das Fahren eines Kraftrades oder auf das Tragen eines Turbans verzichten. Im Wege der praktischen Konkordanz müsse seine Religionsfreiheit im Rahmen der Erteilung einer Ausnahme nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO gegenüber den Rechtsgütern der körperlichen Unversehrtheit im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG die Oberhand gewinnen. Aufgrund des Umstands, dass eine Ausnahmegenehmigung aus gesundheitlichen Gründen ausweislich der Verwaltungsvorschrift erteilt werden könne, müsse die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung aus religiösen Gründen erst Recht möglich sein. Auch handele es sich bei ihm um einen tatsächlichen Ausnahmefall.




Zur Klageerwiderung hat die Beklagte vorgetragen, die Helmtragepflicht des § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO diene dem Schutz des Kraftradfahrers vor schweren Kopfverletzungen. Von der Helmtragepflicht kämen nur unter strengen Voraussetzungen Ausnahmen in Betracht. Von der Schutzhelmtragepflicht könnten ausweislich der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 5b StVO Personen im Ausnahmewege befreit werden, wenn das Tragen eines Schutzhelms aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei; weitere Ausnahmetatbestände, namentlich die Befreiung aus religiösen Gründen, sehe die Verwaltungsvorschrift nicht vor. Wie die höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigt habe, könnten gesundheitliche Gründe die Schutzhelmtragepflicht als unzumutbar erscheinen lassen. Im Schrifttum bestehe Einigkeit darüber, dass diese Möglichkeit nicht auch für das Nichtpassen des Helms bei Turbanträgern gelte bzw. religiöse Bekleidungsvorschriften nicht von der Helmtragepflicht entbinden würden. Sie - die Beklagte - habe bei ihrer Entscheidung berücksichtigt, dass sich der Kläger zur Begründung seines Antrags auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen habe. Diese unterliege aber verfassungsimmanenten Schranken. Zutreffend sei sie im Rahmen ihrer Abwägung davon ausgegangen, dass das grundrechtlich geschützte Recht des Klägers auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als vorrangig anzusehen sei. Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip sei gewahrt. Ein Kraftradfahrer, der ohne Helm fahre, schade keineswegs nur sich selbst. Es liege auf der Hand, dass in vielen Fällen weiterer Schaden abgewendet werden könne, wenn ein Unfallbeteiligter bei Bewusstsein bleibe. Dass Unfälle mit schweren Kopfverletzungen weitreichende Folgen für die Allgemeinheit hätten (z. B. durch Einsatz der Rettungsdienste, ärztliche Versorgung, Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden), stehe außer Frage.

Mit Urteil vom 29.10.2015, dem Kläger zugestellt am 01.12.2015, hat das Verwaltungsgericht Freiburg die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Vorschrift über das Tragen von Schutzhelmen nach § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO sei verfassungsgemäß. Der darin liegende Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG sei nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gerechtfertigt. Die Schutzhelmpflicht könne ferner einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG darstellen; auf der Regelungsebene des Gesetzes sei ein verfassungswidriger Eingriff in dieses Grundrecht aber zu verneinen, weil durch die in § 46 StVO vorgesehene Möglichkeit der Erteilung von Ausnahmen von der Helmtragepflicht unverhältnismäßige Eingriffe vermieden werden könnten. Eines Parlamentsgesetzes habe es für die Anordnung der Helmpflicht angesichts der allenfalls geringfügigen Eingriffsintensität sowie des nur betroffenen Teilbereichs der Straßenverkehrssicherheit nicht bedurft. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO. Dass das Regierungspräsidium unzutreffend § 46 Abs. 2 StVO herangezogen habe, sei unschädlich, weil beide Vorschriften Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle in das Ermessen der Behörde stellten. Die Ablehnungsentscheidung der Beklagten sei ermessensfehlerfrei. Die Beklagte habe ihr Ermessen erkannt und sei insbesondere nicht davon ausgegangen, dass Ausnahmegenehmigungen allein aus gesundheitlichen Gründen erteilt werden könnten. Die Beklagte habe auch die Frage eines unzulässigen Eingriffs in die freie Religionsausübung erwogen; der Widerspruchsbescheid habe diese Argumentation durch Verweisung auf den Ausgangsbescheid übernommen. Schließlich habe die Beklagte in der Klageerwiderung ausführlicher und vertiefend vorgetragen, warum sie aus überwiegenden öffentlichen Interessen eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG im Einzelfall verneine. Hierbei handele es sich um eine zulässige Ergänzung ihrer Erwägungen im Sinne von § 114 Satz 2 VwGO. Die Beklagte habe auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten. Aus der Religionsfreiheit ergebe sich keine Ermessensgrenze, die hier unzulässig überschritten worden sei. Zwar sei das Tragen eines Sikh-Turbans in der Öffentlichkeit vom Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG umfasst. Die Schutzhelmpflicht stelle aber keinen Eingriff in die religiöse Bekenntnisfreiheit dar, weil die Beachtung der Helmpflicht nicht dazu führe, dass der Kläger den Kern des religiösen Gebots aufgeben müsse, die Haare nicht zu schneiden und den Kopf bedeckt zu halten. Die Helmpflicht zwinge ihn nämlich gerade nicht zur Entblößung der Haare, weil eine Bedeckung der Haare unter dem Helm mit einem Tuch oder einer Mütze (Sturmhaube) erfolgen könne. Auch bleibe es dem Kläger möglich, beim Benutzen eines Motorrads den Turban jeweils in privaten Räumlichkeiten oder auch an anderen Orten, wo er nicht sein entblößtes Haupt der Öffentlichkeit zeigen müsse, gegen Tuch/Haube und Schutzhelm zu tauschen; eine damit allenfalls bestehende Unannehmlichkeit und Lästigkeit habe er hinzunehmen.

Selbst ein Eingriff in die Religionsfreiheit wäre schließlich verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der Eingriff wäre nicht schwerwiegend, weil das Motorradfahren nur einen kleinen Teil des täglichen Lebens des Klägers ausmache. Der Kläger sei ferner auf das Motorrad nicht angewiesen und könne sämtliche anderen Fortbewegungsmittel unter Wahrung seines religiösen Bekenntnisses verwenden. Auch sein Vortrag, er sei bereits seit dem Jahr 2005 Anhänger der Sikh-Religion, während er jedoch die Ausnahmegenehmigung erst im Sommer 2013 begehrt habe, spreche nicht für einen besonderen Bedarf. Die dem Kläger auferlegte Erschwernis beziehe sich mithin lediglich auf eine einzige Form der motorisierten Fortbewegung im Straßenverkehr, auf die er zudem erkennbar nicht angewiesen sei. Eine wirkliche Belastung des Klägers könne nicht ausgemacht werden; der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG sei nur am äußersten Rand berührt. Der Eingriff sei zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts gerechtfertigt. Ausgehend von der Entscheidung des BVerfG vom 26.01.1982 - 1 BvR 1295/80 - bezwecke die Helmpflicht sowohl, Kopfverletzungen beim Fahrer/Mitfahrer zu vermeiden, als auch die Entlastung der Allgemeinheit von schweren Belastungen, die aus Unfällen mit schweren Kopfverletzungen folgen können, z. B. durch Einsatz der Rettungsdienste, ärztliche Versorgung, Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden. Ein damit eng verknüpftes öffentliches Interesse bestehe ferner darin, dass in vielen Fällen nach einem Verkehrsunfall weiterer Schaden für Dritte dadurch abgewendet werden könne, dass ein beteiligter Motorradfahrer dank seines Schutzhelms bei Bewusstsein bleibe und die Unfallstelle räumen, Rettungsdienste alarmieren und andere Sofortmaßnahmen ergreifen könne. Schließlich sei zu bedenken, dass im Fall eines Verkehrsunfalls mit einem Motorradfahrer, der erlaubtermaßen keinen Schutzhelm trage, die Verletzungsfolgen aufgrund des fehlenden Schutzhelms unter Umständen vom Unfallgegner zu tragen seien. Die über den Eigenschutz des Motorradfahrers hinausgehenden Zwecke, umfangreiche materielle Folgen von Motorradunfällen für die Allgemeinheit zu verhindern oder zumindest zu begrenzen, seien durch verfassungsimmanente Schranken gedeckt. Dies ergebe sich unter dem Gesichtspunkt der Sozialversicherung, die vom Gesetzgebungskompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG abgedeckt sei. Entsprechendes folge ferner aus Art. 20 Abs. 1 GG unter dem Gesichtspunkt des Sozialstaatsprinzips.

Die Versagung der Ausnahmegenehmigung verstoße auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Soweit "in L. und H." Angehörige der Sikh-Religion durch Entscheidungen der dortigen Behörden von der Helmpflicht befreit worden seien, betreffe dies die Entscheidungsbereiche anderer Rechtsträger und sei zudem nach Auffassung der Kammer rechtswidrig. Auch aus Europarecht ergebe sich schließlich nichts anderes. Für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK sei nichts ersichtlich; Art. 9 EMRK gehe zu Gunsten des Klägers nicht weiter als Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG. Mit Entscheidung vom 12.07.1978 - Nr. 7992/77 - habe der damalige Menschenrechtsausschuss des Europarats vor Einführung der generellen Helmbefreiung für Sikhs in Großbritannien die Schutzhelmpflicht für gerechtfertigt im Sinne von Art. 9 Abs. 2 EMRK angesehen. Mit Entscheidung vom 13.11.2008 - Nr. 24479/07 - habe der EGMR ferner festgestellt, dass die Verpflichtung, wonach sich ein praktizierender Sikh auf dem Foto für einen Ersatzführerschein ohne Turban abbilden lassen müsse, für Behörden gerade bei Verkehrskontrollen notwendig sei, um den Fahrer zu identifizieren. In der Entscheidung vom 01.07.2014 - Nr. 43835/11 - habe der EGMR festgestellt, dass das Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit aus Gründen des Zusammenlebens sowie des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei.

Zur - nach entsprechender Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist durch den Senat - am 04.03.2016 erfolgten Begründung seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen und am 30.12.2015 eingelegten Berufung hat der Kläger ausgeführt, er bestreite, dass die Helmpflicht nicht einer gesetzlichen Grundlage in Form eines Parlamentsgesetzes bedurft hätte. Die Schutzhelmtragepflicht stelle einen Eingriff in seine religiöse Bekenntnisfreiheit dar. Für Amritdhari, also entsprechend des sikhistischen Initiationsritus mit gesüßtem Wasser getaufte Sikhs, sei das Tragen des Dastar, also des Turbans, religiöse Pflicht. Bei ihm handele es sich seit dem Jahr 2012 um einen Amritdhari. Das Wort "Amrit" in seinem Namen bringe dies zum Ausdruck. Deswegen könne er nicht unter dem Helm seine Haare mit einer Mütze oder Sturmhaube bedecken, denn es sei seine religiöse Pflicht, eben den Turban/Dastar zu tragen und keine andere Kopfbedeckung. Er benutze sein Motorrad ganzjährig als sein zentrales Fortbewegungsmittel. Würde er auf andere Verkehrsmittel verwiesen, würde er auch in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen, so dass ein doppelter Grundrechteingriff vorliegen würde. Die Sozialversicherung sei keine Schranke des Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG; durch den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG würden lediglich die Handlungsbereiche des Bundes und der Länder voneinander abgegrenzt. Eine Einschränkung von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinsichtlich der Vermeidung von Kopfverletzungen komme nicht in Betracht, weil er sich der Gefahr einer etwaigen Kopfverletzung selbstbestimmt aussetze. Auch ergebe sich aus Art. 9 EMRK unter Berücksichtigung der Rechtslage in Großbritannien ein Befreiungsanspruch. Zudem habe nach Art. 18 Abs. 1 UN Zivilpakt jedermann das Recht auf Religionsfreiheit.

Auf Nachfrage des Senats zur Angewiesenheit des Klägers auf die Nutzung eines Kraftrads hat dieser ausgeführt, er nutze sein Kraftrad täglich und ganzjährig, für sämtliche Fahrten, ob beruflicher oder privater Natur, ob in der Region oder überregional. Wenn er es witterungsbedingt nicht nutzen könne, greife er auf den ÖPNV zurück. Er sei mithin sowohl aus beruflichen als auch aus privaten Gründen auf die durch das Kraftrad vermittelte Mobilität angewiesen. Auch beim Führen des Kraftrads trage er den Dastar. Er besitze zwar auch die Fahrerlaubnis zum Führen von Pkw und sei auch Eigentümer eines Lieferwagens, verwende diesen aber nur für Transportfahrten.

Der Kläger beantragt,

   das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 29. Oktober 2015 - 6 K 2929/14 - zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 27. August 2013 sowie des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Freiburg vom 24. Oktober 2014 zu verpflichten, ihm die beantragte Ausnahme von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms beim Führen eines Kraftrads zu genehmigen.

Die Beklagte beantragt,

   die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil und wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbringen.

Auf Nachfrage des Senats, nach welchen Kriterien in ihrem Zuständigkeitsbereich Ausnahmen von der Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 StVO erteilt werden, hat die Beklagte angegeben, in den letzten fünf Jahren sei nur der streitgegenständliche Antrag des Klägers abgelehnt worden. Bewilligt worden sei zuletzt im Jahr 2015 eine Befreiung von der Helmpflicht aus gesundheitlichen Gründen (Genickschmerzen). Diese Befreiung sei im Jahr 2011 aufgrund eines ärztlichen Attests erstmals für drei Jahre erteilt und 2015 unter Vorlage eines aktuellen Attests verlängert worden. Ansonsten existierten keine Vorgänge zur Helmpflicht. Angesichts des lediglich einen Falls könne nicht von einer Ermessenspraxis gesprochen werden. Bei der im Jahr 2011 erteilten Ausnahmegenehmigung handele es sich um einen Einzelfall, in dem seinerzeit wohl keine weiteren Ermessensspielräume ausgeübt worden seien. Dies würden die heutigen Beteiligten anders handhaben, nämlich die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich hinterfragen.

Dem Senat liegen die Akten der Beklagten, des Regierungsministeriums Freiburg und des Verwaltungsgerichts Freiburg vor. Hierauf sowie auf die im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.





Entscheidungsgründe:


Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg. Die zulässige Klage ist zum Teil begründet. Die Ablehnung der Genehmigung der beantragten Ausnahme durch den Bescheid der Beklagten vom 27.08.2013 und durch den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 24.10.2014 ist wegen einer fehlerhaften Ermessensausübung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat allerdings mangels Reduktion des behördlichen Ermessens auf Null keinen zwingenden Anspruch auf Genehmigung der beantragten Ausnahme von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms beim Führen eines Kraftrades (A.), sondern nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO lediglich darauf, dass die Beklagte über seinen Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu entscheidet (B.).

A.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahme von der Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO. Soweit die Verwaltung - wie im vorliegenden Fall durch § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO - ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie eine gerichtlich nur eingeschränkt auf Ermessensfehler hin überprüfbare Entscheidungsfreiheit. Nur wenn von den grundsätzlich eröffneten Handlungsmöglichkeiten alle bis auf eine ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig sind, schrumpft der gesetzlich eingeräumte behördliche Ermessensspielraum auf Null, so dass die Behörde strikt verpflichtet ist, im Sinne der verbleibenden Handlungsmöglichkeit tätig zu werden (vgl. etwa Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl., § 40 Rn. 102a m. w. N.). Entsprechend kommt eine gerichtliche Verpflichtung zu einer bestimmten behördlichen Entscheidung nur in Betracht, wenn die Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise keine andere als die begehrte Entscheidung zulassen. Dies ist hier nicht der Fall.

I.

Anspruchsgrundlage des klägerischen Begehrens ist § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO. Nach § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO muss während der Fahrt einen geeigneten Schutzhelm tragen, wer - wie der Kläger - Krafträder (oder offene drei- oder mehrrädrige Kraftfahrzeuge) mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h führt. Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen von der Vorschrift über das Tragen von Schutzhelmen genehmigen; die Genehmigung einer Ausnahme steht mithin grundsätzlich im behördlichen Ermessen.

Die Anspruchsgrundlage hat keine der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Tatbestandsvoraussetzungen. Insbesondere ist die Frage des Vorliegens eines Einzelfalls bzw. eines besonderen Ausnahmefalls nicht auf Tatbestandsebene zu prüfen, sondern Teil der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren behördlichen Ermessensausübung (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.03.1997 - 3 C 2.97 - BVerwGE 104, 154; a. A. noch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.03.1991 - 5 S 1791/90 - juris).


II.

Die Voraussetzungen einer Schrumpfung des der Straßenverkehrsbehörde durch § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO eingeräumten behördlichen Ermessens auf Null liegen hier nicht vor.

1. Eine Ermessensreduktion lässt sich nicht mit dem Argument begründen, die Schutzhelmpflicht dürfe im Anwendungsbereich der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG nicht durch Rechtsverordnung, sondern müsse durch Parlamentsgesetz normiert werden. Anders als der Kläger sieht der Senat keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung der Schutzhelmpflicht in § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO.

Die Vorschrift beruht auf der (den allgemeinen Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG entsprechenden) Rechtsgrundlage des § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG, wonach das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ermächtigt ist, mit Zustimmung des Bundesrats Rechtsverordnungen über die (sonstigen) zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen erforderlichen Maßnahmen über den Straßenverkehr zu erlassen. Eines parlamentarischen Gesetzes bedurfte die Normierung der Schutzhelmpflicht auch nicht im Hinblick auf die sog. Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot den Gesetzgeber verpflichten, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen (vgl. im Einzelnen BVerfG, Beschluss vom 21.04.2015 - 2 BvR 1322/12 - BVerfGE 139, 19, Rn. 52 ff. m. w. N.). Dabei sind als wesentlich solche Regelungen zu verstehen, die für die Verwirklichung von Grundrechten erhebliche Bedeutung haben.

Eine solche Regelung stellt die in § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO statuierte Schutzhelmpflicht nicht dar. Im typischen Anwendungsfall dieser Vorschrift betrifft die Regelung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit der von der Helmpflicht erfassten Kraftradfahrer (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.01.1982 - 1 BvR 1295/80 - BVerfGE 59, 275). Dass die Schutzhelmpflicht in sehr seltenen Ausnahmefällen etwa bei kraftradfahrenden Turbanträgern oder Ordensschwestern (vgl. Kreutel, DAR 1986, S. 38, 41) mittelbar auch deren Glaubensfreiheit tangieren kann, wenn das Tragen eines Schutzhelms der Erfüllung religiöser Bekleidungsvorschriften entgegen steht (vgl. hierzu unten A. II. 2.), macht die Schutzhelmpflicht nicht bereits zu einer Regelung mit erheblicher Bedeutung für die Verwirklichung der Glaubensfreiheit (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 08.11.2016 - 1 BvR 3237/13 - NVwZ 2017, 227). Vielmehr ist es angesichts der Seltenheit eines Konflikts zwischen Schutzhelmpflicht und religiösen Bekleidungsvorschriften verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber die Regelung der Einzelheiten der Gewährleistung der Sicherheit des Straßenverkehrs übertragen hat und der Verordnungsgeber wiederum seinerseits neben dem grundsätzlichen Gebot des Tragens eines Schutzhelms in § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO in § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO die Möglichkeit geschaffen hat, in besonderen Ausnahmefällen Abweichungen von der Schutzhelmpflicht zuzulassen. Hierdurch kann - soweit erforderlich - auch einer im Einzelfall vorliegenden besonderen Grundrechtsbetroffenheit eines Kraftradfahrers durch die Schutzhelmpflicht angemessen Rechnung getragen werden. Für die funktionale Zuordnung der Entscheidungskompetenz über die Nichtgeltung der Helmpflicht aus religiösen Gründen auf die Ebene des exekutiven Normvollzugs spricht im Übrigen, dass es angesichts der Hochrangigkeit der mit der Schutzhelmpflicht geschützten Rechtsgüter Dritter (vgl. A. II. 2. b) aa)) sachgerecht erscheint, wenn Ausnahmen von der Schutzhelmpflicht nicht lediglich von einer (aus religiösen oder anderen Gründen bestehenden) Unmöglichkeit des Helmtragens, sondern vom Vorliegen weiterer Umstände abhängig gemacht werden (vgl. B.).

2. Eine Ermessensreduktion folgt auch nicht aus der Glaubensfreiheit des Klägers (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG).

a) Anders als das Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, dass die Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO einen Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit des Klägers aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG darstellt.

aa) Zur Glaubensfreiheit gehört auch das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze. Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Die staatlichen Organe dürfen prüfen und entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das Verhalten tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung in plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt, also tatsächlich eine als religiös anzusehende Motivation hat. Dem Staat ist es indes verwehrt, derartige Glaubensüberzeugungen seiner Bürger zu bewerten oder gar als "richtig" oder "falsch" zu bezeichnen; dies gilt insbesondere dann, wenn hierzu innerhalb einer Religion divergierende Ansichten vertreten werden (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015 - 1 BvR 471/10 - BVerfGE 138, 296).

bb) Der Kläger ist nach seinen in der mündlichen Verhandlung des Senats wiederholten Bekundungen als getaufter Sikh (sog. Amritdhari) in der Öffentlichkeit nicht lediglich zur Bedeckung seines Haares - beispielsweise durch ein Tuch -, sondern gerade zum Tragen eines Turbans/Dastar verpflichtet. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung unrichtig bzw. nicht anzuerkennen sein könnte, etwa weil sie über die im Allgemeinen von Amritdhari für sich als verbindlich angesehenen Bekleidungsvorschriften (vgl. hierzu etwa en.wikipedia.org/wiki/Dastar sowie de.wikipedia.org/wiki/Dastar) hinausginge. Der vorliegende Fall unterscheidet sich mithin von dem einem Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 27.05.1993 - 6 S 699/1992 - EuGRZ 1993, 595 zugrundeliegenden Sachverhalt; dort waren die Tatsacheninstanzen - vom Bundesgericht nicht in Frage gestellt - davon ausgegangen, dass der dortige Kläger religiös nicht zum Tragen eines Turban, sondern lediglich zur Bedeckung seines Kopfes verpflichtet sei, was auch mittels eines Helms möglich sei.

Auch das erstinstanzliche Verwaltungsgericht ist ersichtlich davon ausgegangen, dass der Kläger grundsätzlich zum Tragen eines Turbans verpflichtet ist. Dass der Kläger beim Tragen einer anderen Kopfbedeckung - wie die Kammer meint - zumindest nicht "den Kern des religiösen Gebots aufgeben müsste, das zuallererst und im Wesentlichen darin besteht, die Haare nicht zu schneiden und den Kopf (deshalb) bedeckt zu halten", ist nach Ansicht des Senats für die Eröffnung des Schutzbereichs der Glaubensfreiheit ohne Belang. Denn der durch die Glaubensfreiheit vermittelte Schutz beschränkt sich - anders als dies früher im Asylrecht angenommen wurde (vgl. nun aber BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67) - nicht auf eine Gewährleistung lediglich des Kerns des religiösen Bekenntnisses. Teilweise in der Literatur unternommene Versuche, den Schutzbereich der Grundrechte auf für die persönliche Entfaltung des Einzelnen besonders bedeutsame Facetten zu beschränken (vgl. etwa Böckenförde in Der Staat 42 [2003], 165), haben sich bislang ebenso wenig durchgesetzt (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 06.06.1989 - 1 BvR 921/85 - BVerfGE 80, 137) wie die Ansicht, der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG müsse mit Hilfe von Erheblichkeitskriterien restriktiv gefasst werden (vgl. etwa Schoch in Bohnert u. a., Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 149, 153 ff., 157, dem zufolge das BVerfG die Glaubensfreiheit zu einer "allgemeinen religiösen Handlungsfreiheit" fortentwickelt habe).




Schließlich kann ein Eingriff in den Schutzbereich auch nicht mit der Erwägung verneint werden, der Kläger werde nicht zu einer mit seinen religiösen Pflichten nicht vereinbaren Handlung (Abnehmen des Turbans) gezwungen, sondern müsse lediglich das - nur durch die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG geschützte - Motorradfahren unterlassen. Denn das durch Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG vermittelte Recht, das gesamte Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, wird mittelbar eingeschränkt, wenn ein Sikh - anders als Nicht-Sikhs - wegen der Schutzhelmpflicht kein Motorrad fahren darf (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 27.06.2017 - 2 BvR 1333/17 - juris [Kopftuchverbot bei Sitzungsvertretungen der StA]; BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015 - 1 BvR 471/10 - BVerfGE 138, 296 [Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen]).

b) Der in der Schutzhelmpflicht liegende Eingriff in Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG kann allerdings durch den Schutz der physischen und psychischen Integrität Dritter gerechtfertigt werden, so dass nicht bereits die bloße Betroffenheit der Glaubensfreiheit des Klägers eine Verengung des behördlichen Entscheidungsermessens im Sinne einer zwingend zu genehmigenden Ausnahme zur Folge hat.

aa) Einschränkungen von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015 - 1 BvR 471/10 - BVerfGE 138, 296 m. w. N.).

Entgegen der Ansicht der Beklagten sowie des Regierungspräsidiums dürfte hier als verfassungsimmanente Schranke die körperliche Unversehrtheit des Klägers nicht in Betracht kommen. Ein zwangsweiser Schutz des Menschen vor sich selbst ist zwar in zahlreichen Konstellationen zulässig, setzt aber grundsätzlich eine mehr oder weniger starke Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit des Betroffenen voraus. Eine "Vernunfthoheit" staatlicher Organe über den Grundrechtsträger dergestalt, dass dessen Wille allein deshalb beiseite gesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint, ist ausgeschlossen (siehe nur BVerfG, Beschluss vom 23.03.2011 - 2 BvR 882/09 - BVerfGE 128, 282 Rn. 51 ff. m. w. N.).

Ebenfalls nicht weiter führen dürfte der vom Verwaltungsgericht zur Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG herangezogene "Gesichtspunkt der Sozialversicherung". Zwar ist es richtig, dass der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Gebiet der Sozialversicherung hat. Allerdings führt das Verwaltungsgericht nicht aus, welchen Gemeinschaftswert von Verfassungsrang es aus dieser Bestimmung ableiten möchte. Denkbar erschiene zwar insoweit ein Verfassungsgut der "Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung" (so zur Einschränkung von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG: Germann in Epping/Hillgruber, GG, 2. Aufl., Art. 4 Rn. 53; vgl. auch Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 124 ff.). Dass die Sozialversicherung im Fall eines Motorradunfalls des Klägers möglicherweise auch Kosten übernehmen müsste, die durch das Tragen eines Schutzhelms vermieden worden wären, dürfte angesichts der Seltenheit solcher Konstellationen für sich genommen für die Annahme einer drohenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung allerdings kaum genügen.

Eine verfassungsimmanente Schranke der Glaubensfreiheit des Klägers lässt sich auch wohl nicht mit der Überlegung des Verwaltungsgerichts begründen, im Fall eines Verkehrsunfalls mit einem Motorradfahrer, der erlaubterweise keinen Helm trage, seien die Verletzungsfolgen aufgrund des fehlenden Schutzhelms "unter Umständen vom Unfallgegner zu tragen". Auch wenn es im Ausgangspunkt zutrifft, dass ein Mitverschulden des unbehelmten Motorradfahrers (im Sinne von § 9 StVG bzw. § 254 BGB) nicht mit Hinweis auf einen Verstoß gegen die Helmpflicht bejaht werden kann, wenn von dieser gerade befreit wurde (vgl. BGH, Urteil vom 29.09.1992 - VI ZR 286/91 - BGHZ 119, 268; VG Berlin, Urteil vom 16.04.2013 - 11 K 298.12 - juris Rn. 13), dürfte allerdings gleichwohl einiges dafür sprechen, dass selbst im Fall der Befreiung von der Helmpflicht ein Mitverschulden des helmlos fahrenden Kraftradfahrers anzunehmen wäre. Denn in einem solchen Fall dürfte nach der neueren Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH, Urteil vom 17.06.2014 - VI ZR 281/13 - NJW 2014, 2493) auch ohne Verstoß gegen eine Rechtspflicht eine Anspruchskürzung wegen Verletzung einer sich selbst gegenüber bestehenden objektivierten Obliegenheit gerechtfertigt sein, in dem Sinne, dass es für den Bereich des Kraftradfahrens unabhängig von § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprechen dürfte, dass Motorradfahren ohne Helm ein erhebliches Risiko darstellt, weswegen es unbillig erschiene, Kosten, die aus einer solchen, wenn auch religiös motivierten, so doch bewusst in Kauf genommenen Selbstgefährdung resultieren, dem Unfallgegner aufzuerlegen.

All dies braucht hier allerdings letztlich nicht entschieden zu werden, weil sich eine verfassungsimmanente Schranke der durch die Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO berührten Glaubensfreiheit des Klägers jedenfalls aus dem Schutz der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten physischen und psychischen Integrität Dritter ergibt (und diese Schranken zudem den Eingriff rechtfertigen kann, vgl. sogleich bb)).

Ein durch einen Helm geschützter Kraftradfahrer wird im Fall eines Unfalls regelmäßig eher als ein nicht geschützter Fahrer in der Lage sein, etwas zur Abwehr der mit einem Unfall einhergehenden Gefahren für Leib und Leben anderer Personen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) beizutragen, in dem er etwa die Fahrbahn räumt, auf die Unfallstelle aufmerksam macht, Ersthilfe leistet oder Rettungskräfte herbeiruft (vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 26.01.1982 - 1 BvR 1295/80 - BVerfGE 59, 275). Die Schutzhelmpflicht fördert aber nicht nur die physische Unversehrtheit Dritter, sondern schützt auch deren psychische Unversehrtheit, wenn man bedenkt, dass Unfallbeteiligte durch schwere Personenschäden anderer Unfallbeteiligter unabhängig von der konkreten (Mit)Schuld hieran nicht selten psychische Schäden in Gestalt von Traumatisierungen davontragen (vgl. etwa SZ v. 02.02.2012 "Die Opfer der Lebensmüden"). Von diesem Risiko ist angesichts von Unfällen mit Motorradfahrern ohne Helm auszugehen, bei denen bekanntermaßen häufig schwerwiegende, zum Teil auch tödliche Kopfverletzungen die Folge sind.

bb) Der Senat ist davon überzeugt, dass der mit der Schutzhelmpflicht verbundene Schutz der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mit Verfassungsrang gewährleisteten körperlichen und geistigen Integrität Dritter den mit der Helmpflicht verbundenen Eingriff rechtfertigen kann. Hieraus folgt, dass es bei der Austarierung der insoweit miteinander konfligierenden Güter nicht lediglich eine zwingende, sondern mehrere verschiedene jeweils vertretbare Zuordnungen der konkurrierenden Interessen gibt, so dass es bei dem durch § 46 Abs. 1 Nr. 5b StVO eröffneten behördlichen Ermessen verbleibt. Eine Verengung des behördlichen Ermessens dahin, dass die Behörde zwingend der Glaubensfreiheit des Klägers den Vorrang vor den durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gütern Dritter einräumen müsste, besteht nicht.


Gegen ein generelles Überwiegen der Interessen des Klägers spricht vor allem die Hochrangigkeit der durch § 21a Abs. 2 StVO geschützten Güter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, aufgrund der es verfassungsrechtlich unbedenklich erscheint, selbst zur Abwehr verhältnismäßig abstrakter Gefahren Schutzvorkehrungen auch im Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG zu ergreifen. Diesen hochrangigen Gütern steht auf Seite des Klägers zwar ebenfalls ein mit hohem Rang - insbesondere vorbehaltslos - ausgestattetes Grundrecht gegenüber. Bei dessen Gewichtung ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Schutzhelmpflicht die Glaubensfreiheit des Klägers nur mittelbar bzw. wenig intensiv tangiert, weil der Kläger nicht zur Vornahme von mit seinen religiösen Geboten unvereinbaren Handlungen gezwungen wird. Der gewichtigste unmittelbare Nachteil, der dem Kläger aus der Schutzhelmpflicht bzw. der Ablehnung einer Befreiung hiervon entsteht, liegt darin, dass er nicht berechtigt ist, ein Kraftrad zu führen. Hierin liegt keine für den Kläger derart schwerwiegende Belastung, dass seinen Interessen zwingend gegenüber den durch § 21a Abs. 2 StVO geschützten Gütern Dritter der Vorrang einzuräumen wäre.

Im Normalfall eines Antrags auf Befreiung von der Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 StVO gilt, dass allein der Umstand, dass einem Kraftradfahrer das Tragen eines Helms unmöglich ist, noch nicht zu einer Ermessensreduktion auf Null hinsichtlich einer Befreiungsentscheidung von der Helmpflicht führt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.02.2017 - 3 B 12.16 - NJW 2017, 1691). Auch wenn einer Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus religiösen Gründen im Hinblick auf den gerade auch auf den Minderheitenschutz abzielenden Normgehalt von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG und dessen schrankenloser Gewährleistung grundsätzlich ein höheres Gewicht beizumessen ist als dem etwa bei einer Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen Gründen lediglich tangierten allgemeinen - durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten - Interesse am Führen eines Kraftrads, so kommt eine Ermessensreduktion auf Null dennoch auch im Anwendungsbereich der Glaubensfreiheit grundsätzlich allenfalls dann in Betracht, wenn weitere gewichtige Gründe dafür sprechen, dass der in der seiner Glaubensfreiheit betroffene Kraftradfahrer gerade auf die Nutzung eines Kraftrads zwingend angewiesen ist. Schon angesichts des Umstands, dass in der Bundesrepublik Deutschland in aller Regel zahlreiche alternative Fortbewegungsmittel zur Verfügung stehen, wird man ein solches zwingendes Angewiesensein allenfalls in extrem gelagerten Einzelfällen annehmen können. Ein solcher Fall liegt hier schon insofern nicht vor, als der Kläger auch über einen Führerschein der Klasse B verfügt und er mithin auf die Nutzung seines Kraftrads jedenfalls nicht zwingend angewiesen ist.

3. Es ist auch nichts dafür vorgetragen oder ersichtlich, dass die vom Kläger ins Feld geführten völkerrechtlichen Gewährleistungen der Religionsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 EMRK sowie in Art. 18 Abs. 1 des Internationale Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) im konkreten Fall in ihrer Schutzintensität über den durch Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG gewährten Schutz hinausgehen würden und vor diesem Hintergrund eine Ermessensschrumpfung bejaht werden müsste.

Hinsichtlich Art. 9 Abs. 1 EMRK ist die Frage, ob die Schutzhelmpflicht für Sikhs gegen die Konvention verstößt, bereits durch eine Entscheidung des Menschenrechtsausschusses des Europarates vom 12.07.1978 - Nr. 7992/77 - (X v. United Kingdom) dahingehend geklärt, dass dies nicht der Fall ist, ohne dass Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Rechtsprechung des heutigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hiervon abweichende Maßstäbe bereit hielte. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, zeigen die Entscheidung des EGMR vom 13.11.2008 - Nr. 24479/07 - (Mann Singh v. France) zur Pflicht eines Sikhs, seinen Turban für das Anfertigen eines Passfotos für die Ausstellung eines Führerscheins abzunehmen sowie das Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 01.07.2014 - Nr. 43835/11 - (S.A.S. v. France) zum Burkaverbot im Gegenteil, dass Art. 9 Abs. 1 EMRK den Mitgliedstaaten der Konvention einen weiten Spielraum hinsichtlich der Einschränkung religiöser Bekleidungsvorschriften einräumt bis hin zu der Möglichkeit, das Tragen bestimmter Kleidungsstücke in der Öffentlichkeit generell zu verbieten.

Im Fall Nr. 24479/07 stellte der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen im Nachgang zur Entscheidung des EGMR in seiner Entscheidung vom 27.09.2011 - Nr. 1876/2000 - (Ranjit Singh v. France) zwar fest, dass die Pflicht zum Abnehmen des Turbans für die Anfertigung eines Passfotos gegen die Religionsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 18 Abs. 1 UN-Zivilpakt verstieß. Allerdings unterliegt die Religionsfreiheit des Art. 18 Abs. 1 UN-Zivilpakt gemäß Art. 18 Abs. 3 UN-Zivilpakt einem im Vergleich zur schrankenlosen Gewährleistung der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG deutlich weitergehenden Gesetzesvorbehalt, der unter anderem auch Einschränkungen der Religionsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zulässt, so dass anzunehmen ist, dass der durch das Grundgesetz gewährte Schutz der Glaubensfreiheit jedenfalls im Ergebnis nicht hinter dem des Art. 18 Abs. 1 UN-Zivilpakt zurückbleibt.

4. Auch eine Ermessensreduktion aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. der Verwaltungspraxis der Beklagten scheidet im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Verpflichtungsklage durch den Senat aus.

In der Rechtsprechung ist zwar anerkannt, dass die tatsächliche - möglicherweise bereits schon durch eine einzige behördliche Entscheidung in einem Parallelfall eintretende (vgl. zur Diskussion Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl., § 40 Rn. 105, 112 ff.) - Verwaltungspraxis sowohl aufgrund des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) als auch des im Rechtsstaatsprinzip verankerten Gebots des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) zu einer Selbstbindung der Verwaltung führen kann, die zur Folge hat, dass eine von der Verwaltungspraxis im Einzelfall zu Gunsten oder zu Lasten des Betroffenen abweichende Entscheidung rechtswidrig ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.06.2006 - 1 BvR 1160/03 - BVerfGE 116, 135; BVerwG, Urteile vom 21.08.2003 - 3 C 49.02 - BVerwGE 118, 379 und vom 08.04.1997 - BVerwG 3 C 6.95 - BVerwGE 104, 220). Es ist jedoch gleichfalls gesichert, dass die Behörde ihre Praxis aus willkürfreien, d. h. sachlichen Gründen ändern kann.

Danach kann hier offen bleiben, ob die Beklagte aufgrund des Umstands, dass sie ausweislich ihrer Mitteilung an den Senat mit Schreiben vom 17.07.2017 zuletzt im Jahr 2015 eine bereits im Jahr 2011 erstmals genehmigte Befreiung von der Schutzhelmpflicht aus gesundheitlichen Gründen (Genickschmerzen) ohne weiteres verlängert hat, verpflichtet gewesen ist, auch den Antrag des Klägers positiv zu bescheiden. Hierfür spräche, dass eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen Gründen jedenfalls nicht schwerer wiegen kann als eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus religiösen Gründen, nachdem die mit dem Tragen des Schutzhelms im ersten Fall verbundene Belastung lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit, im zweiten Fall die schrankenlos gewährleistete Glaubensfreiheit berührt. Allerdings hat die Beklagte ihre bisherige Verwaltungspraxis jedenfalls zugleich mit ihrem Schreiben vom 17.07.2017 willkürfrei mit Wirkung für die Zukunft geändert, in dem sie mitgeteilt hat, man werde zukünftig zur Unmöglichkeit des Helmtragens noch "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich hinterfragen". Hierzu hat die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung des Senats weiter erläutert, man habe den vorliegenden Rechtsstreit zum Anlass genommen, die Verwaltungspraxis nochmals zu überdenken. Man gehe nunmehr davon aus, dass man trotz des Vorliegens eines ärztlichen Attests weiter ein Ermessen hinsichtlich der Erteilung einer Befreiung von der Helmpflicht habe. Damit passt die Beklagte der Sache nach ihre Praxis an den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.02.2017 - 3 B 12.16 - (NJW 2017, 1691) an, dem zufolge das Ermessen der Straßenverkehrsbehörde zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zur Befreiung eines Motorradfahrers von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms nicht ohne weiteres auf Null reduziert ist, wenn der Motorradfahrer eine ärztliche Bescheinigung vorlegt, dass ihm das Tragen eines Schutzhelmes aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist.

5. Schließlich kann eine Ermessensreduktion auch nicht insofern auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gestützt werden, als andere öffentlich-rechtliche Rechtsträger in der Vergangenheit Sikhs von der Schutzhelmpflicht aus religiösen Gründen befreit haben. Wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, müssen sich Einzelfallentscheidungen der Verwaltung vor dem Gleichheitssatz nur in ihrem jeweiligen Kompetenzraum rechtfertigen, so dass eine abweichende Verwaltungspraxis anderer Rechtsträger in deren Kompetenzraum nicht die Pflicht begründet, auch im Verhältnis zu dieser Praxis die Gleichheit zu beachten (vgl. nur Senatsbeschluss vom 14.06.2016 - 10 S 234/15 - VBlBW 2016, 466 und Pietzcker in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Band V, 2013, § 125 Rn. 93 ff. jeweils m. w. N.).




B.

Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte über seinen Antrag auf Genehmigung einer Ausnahme von der Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 StVO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu entscheidet (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 27.08.2013 sowie der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 24.10.2014 sind ermessensfehlerhaft ergangen und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

Dabei kann offen bleiben, ob hier bereits ein - im späteren Verfahren nicht mehr heilbarer (vgl. nur Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 114 Rn. 114a) - Ermessensausfall vorliegt. Denn die Ermessensentscheidung der Beklagten leidet jedenfalls an einem auch im späteren gerichtlichen Verfahren nicht geheilten Ermessensdefizit, weil eine fehlerfreie Ermessensausübung insbesondere die Berücksichtigung aller für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte sowie die sachgerechte Gewichtung und Abwägung der betroffenen Belange, insbesondere einschlägiger Grundrechte, verlangt (vgl. BVerwG, Urteile vom 30.04.1985 - 1 C 33.81 -, BVerwGE 71, 228 und vom 19.11.1996 - 1 C 6.95 - BVerwGE 102, 249; Wolff in Sodan/Ziekow a. a. O. Rn. 178 ff. m. w. N.). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall schon insofern, als die Beklagte sowohl in dem angefochtenen Bescheid als auch im Rahmen des Verwaltungsrechtsstreits nicht deutlich gemacht hat, dass eine Befreiung von der Schutzhelmpflicht nicht nur bei einer Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen, sondern auch aus religiösen Gründen grundsätzlich in Betracht kommt. Damit hat die Beklagte zumindest implizit der Glaubensfreiheit des Klägers im Vergleich zur Handlungsfreiheit eines gesundheitlich beeinträchtigten Motorradfahrers, der im Fall des Nachweises einer gesundheitsbedingten Unmöglichkeit des Helmtragens nach der aufgegebenen Verwaltungspraxis der Beklagte eine Ausnahmegenehmigung erhielt und nach ihrer neuen Verwaltungspraxis - beim Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen - zumindest erlangen kann, ein zu geringes Gewicht beigemessen. Im Rahmen ihrer neuen Entscheidung über den Antrag des Klägers darf die Beklagte die Unmöglichkeit des Helmtragens aus gesundheitlichen Gründen nicht großzügiger behandeln als eine Unmöglichkeit des Helmtragens aus religiösen Gründen.

Die Annahme, eine Ausnahme von der Schutzhelmpflicht könne nur aus gesundheitlichen Gründen erteilt werden, rechtfertigt sich auch nicht durch Rn. 96 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 in der Fassung vom 22.05.2017, der zufolge von der Schutzhelmtragepflicht Personen im Ausnahmewege befreit werden können, wenn das Tragen eines Schutzhelms aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist. Abgesehen davon, dass es sich bei einer Verwaltungsvorschrift um für Grundrechtseinschränkungen im Außenverhältnis von vornherein untaugliches behördliches Innenrecht handelt, ist die genannte Rn. 96 VwV-StVO für eine - vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG im Übrigen auch gebotene - Auslegung offen, die mit der Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen Gründen lediglich einen möglichen Anwendungsfall für die Befreiung von der Helmpflicht benennt, ohne damit andere Konstellationen der Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens von vornherein aus dem Anwendungsbereich von § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO herausnehmen zu wollen.

Der Kläger kann zudem unabhängig hiervon auch deshalb von der Beklagten eine neue Entscheidung über seinen Befreiungsantrag verlangen, weil diese erst im Juli 2017 ihre bisherige Verwaltungspraxis aufgegeben hat, ohne bislang unter Anwendung der Kriterien ihrer neuen Verwaltungspraxis über den Antrag des Klägers zu entscheiden. Ob dem Kläger auf Grundlage der neuen Verwaltungspraxis eine Ausnahme genehmigt werden wird, lässt sich derzeit nicht sicher absehen. So ist bislang nicht klar, welche Anforderungen die Beklagte hinsichtlich der "Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich" zusätzlich zu einer (aus gesundheitlichen, religiösen oder etwaigen anderen Gründen bestehenden) Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens zu verlangen gedenkt. Offen ist auch, ob die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessenspraxis nach Prüfung des Für und Wider weitere Gesichtspunkte berücksichtigen wird (vgl. etwa VG Augsburg, Urteil vom 27.06.2000 - Au 3 K 00.466 - juris; Rebler/Ternig, VD 2009, S. 3, 11).

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen.

Beschluss vom 29. August 2017
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Der Streitwertbeschluss ist unanfechtbar.

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