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Kammergericht Berlin Urteil vom 19.04.2004 - 12 U 325/02 - Volle Haftung zu Lasten eines beim Abbiegen ausschwenkenden Sattelaufliegers, wenn sich der geschädigte Kfz-Führer seinerseits nicht verkehrswidrig verhalten hat

KG Berlin v. 19.04.2004: Volle Haftung zu Lasten eines beim Abbiegen ausschwenkenden Sattelaufliegers, wenn sich der geschädigte Kfz-Führer seinerseits nicht verkehrswidrig verhalten hat




Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 19.04.2004 - 12 U 325/02) hat entschieden:

  1.  Der Führer eines Kraftfahrzeuges, welches aufgrund seiner Bauart beim Abbiegen nach links in den rechts daneben befindlichen Fahrstreifen ausschwenkt (hier: 17 m langer Sattelzug mit am Heck des Aufliegers um 2 m ausgezogener Ladebrücke), trifft gegenüber den diesen Fahrstreifen benutzenden Verkehrsteilnehmern eine erhöhte Sorgfaltspflicht.

  2.  Einem Geschädigten stehen die Rechtsanwaltskosten für die Einholung der Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung unabhängig von der Frage der Haftung des Schädigers schon deshalb nicht zu, weil diese Schadensposition nicht unter den Schutzbereich von § 823 BGB bzw. § 7 StVG fällt (LG Berlin, DAR 2000, 361; AG Ahaus, AnwBl 1976, 171).

Siehe auch
Ausschwenken von größeren Fahrzeugen beim Ab- bzw. Einbiegen
und
Stichwörter zum Thema Unfallschadenregulierung

Gründe:


I.

Aufgrund der Feststellungen des Landgerichts ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Der ca. 17 Meter lange Sattelzug des Klägers, dessen letzte Achse über eine Zwangs-Mitlenkung verfügt, ist von der Linksabbiegerspur kommend, zunächst in den Kreuzungsbereich der ampelgeregelten Kreuzung eingefahren, um nach links abzubiegen. Eine am Heck des Aufliegers befindliche Landebrücke war um 2 Meter ausgezogen, die Ladung überragte diese Brücke um 0,8 Meter. Im Bereich der Kreuzung hielt er, um den Gegenverkehr passieren zu lassen, an dem ortsüblichen Haltepunkt an. Während das klägerische Fahrzeug dort hielt, fuhren mehrere vor dem Beklagtenfahrzeug auf dem mittleren Fahrstreifen fahrende Fahrzeuge, u. a. ein LKW und ein BVG-Bus, rechts an dem klägerischen Fahrzeug vorbei. Erst als sich das mit 30 km/h fahrende Beklagtenfahrzeug, ein ca. 8,5 Meter langen LKW mit einem ca. 8 Meter langen Anhänger, dem Heck des klägerischen Sattelaufliegers bis auf 15 Meter genähert hatte, setzte das klägerische Fahrzeug seinen Linksabbiegevorgang fort, wobei das Heck des Sattelaufliegers in den mittleren Fahrstreifen hineinschwenkte und den Anhänger des Beklagtenfahrzeugs berührte.





II.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in vollem Umfang Erfolg.

Die Klage ist abzuweisen, weil der Kläger den Unfallschaden in vollem Umfang selbst zu tragen hat.

a) Zutreffend geht das Landgericht auf Seite 7 der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass der klägerische Fahrer sich verkehrswidrig verhalten hat und er den Unfall hätte verhindern können. Er hat nicht die nach § 9 StVO unter besonderer Berücksichtigung der Bauart des LKW gebotene Vorsorge für ein sicheres Abbiegen nach links getroffen und hierdurch den Unfall verursacht.

Aufgrund dieser ihm obliegende Vorsorgepflicht hat der Abbieger sicherzustellen, dass eine Gefährdung (auch) des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. In besonderer Weise gilt diese Verpflichtung für Fahrer von Fahrzeugen, deren Heck bauartbedingt beim Linksabbiegen nach rechts ausschwenken und so den Verkehr auf dem benachbarten Fahrstreifen gefährden können (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Auflage, § 9 StVO, Rdnr. 27, 25).



Das OLG Stuttgart führt in einem Urteil vom 18. Februar 1974 (– 3 Ss 696/73 – DAR 1974, 163) hierzu aus:

   "Den Führer eines Sattelzuges, dessen Ladung hinten über das Ende der Ladefläche hinausragt, trifft beim Abbiegen nach links gegenüber nachfolgenden Verkehrsteilnehmern insbesondere dann eine erhöhte Sorgfaltspflicht, wenn die Ladung während des Abbiegevorgangs in die rechts nebenan befindliche Fahrspur für Geradeausfahrende oder Rechtsabbieger ausschwenkt. Notfalls muß er einen Warnposten aufstellen."

Der Senat schließt sich diesen Ausführungen an.




Hinzu kommt, dass der klägerische Fahrer, nachdem er im Kreuzungsbereich angehalten hatte, den Abbiegevorgang fortsetze, obwohl im mittleren Fahrstreifen Fahrzeuge fuhren. Zwar konnte der klägerische Fahrer diese Fahrzeuge aufgrund der Schrägstellung seiner Zugmaschine nicht sehen, ihm musste aber aufgrund der Fahrzeuge, die bereits rechts an ihm vorbeigefahren waren, bewusst sein, dass mit weiteren Fahrzeugen im mittleren Fahrstreifen zu rechnen war. Er hätte deshalb – unabhängig vom Vorhandensein von Gegenverkehr – mit seinem Abbiegevorgang bis zum Aufleuchten des Linksabbiegepfeils warten müssen. Erst zu diesem Zeitpunkt hätte er davon ausgehen können, dass der aus seiner Fahrtrichtung kommende Geradeausverkehr nicht mehr rechts an ihm vorbeifahren würde. Dass der klägerische Fahrer seinen Abbiegevorgang entgegen dieser Verpflichtung vor dem Aufleuchten des Abbiegepfeils fortsetzte, ergibt sich aus dessen eigener Zeugenaussage. Hiernach leuchtete der Grünpfeil in dem Augenblick, in dem es zur Berührung der Fahrzeuge kam. Nach den Feststellungen des Sachverständigen befand sich das Klägerfahrzeug in diesem Zeitpunkt aber bereits seit 4 Sekunden in Bewegung.

b) Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist dem Beklagten zu 1) ein schuldhaftes Verhalten nicht anzulasten. Der Vorwurf schuldhaften Verhaltens nach § 1 Abs. 2 StVO wäre nur dann begründet, wenn festgestellt werden könnte, dass der Beklagten zu 1) verpflichtet gewesen wäre, gegenüber dem beabsichtigten Fahrmanöver des Sattelschleppers zurückzustehen oder diesem das Abbiegen zu ermöglichen (OLG Hamm, Urteil vom 18. Februar 1999 – 27 U 290/98 – OLGR Hamm 1999, 273). Zwar ist zutreffend, dass jedem Kraftfahrer und ganz besonders dem Fahrer eines großen LKW bekannt sein muss, dass Sattelschlepper beim Abbiegen ausschwenken und dass Lastzuganhänger keineswegs immer in der Spur des Zugfahrzeuges zu fahren pflegen. Unzutreffend ist aber die Ansicht des Landgerichts, dem Beklagte zu 1) hätte klar sein müssen, dass ein Ausschwenken des Hecks des Sattelanhängers unmittelbar bevorstand, er habe deshalb nicht in die Kreuzung einfahren dürfen.

Da das klägerische Fahrzeug im Kreuzungsbereich stand und mehrere Fahrzeuge, unter ihnen ein LKW und ein BVG-Bus, bereits rechts an diesem Fahrzeug vorbeigefahren waren, durfte der Beklagte zu 1) davon ausgehen, dass auch ihm ein gefahrloses Vorbeifahren möglich sein würde. Er musste nicht damit rechnen, dass das klägerische Fahrzeug seine Fahrt ohne Rücksicht auf den im mittleren Fahrstreifen fließenden Verkehr fortsetzen würde. Der Beklagte zu 1) war deshalb zu einer Reaktion erst gezwungen, als der Sattelzug wieder anfuhr. Zu diesem Zeitpunkt hätte aber – wie der Sachverständige festgestellt hat – weder eine Ausweichlenkung nach rechts noch eine Gefahrbremsung oder eine Kombination von beidem zu einer Vermeidung des Unfalls geführt.

Die vom Landgericht zur Begründung der 2/3-Haftung der Beklagten zitierte Entscheidung des OLG Hamm (Urteil vom 3. Februar 1994 – 27 U 200/93 – Schaden-Praxis 1994, 272) betraf einen anderen Sachverhalt und ist deshalb vorliegend nicht einschlägig. In jenem Fall hatte sich ein PKW, obwohl nur ein Fahrstreifen vorhanden waren, ohne ausreichenden seitlichen Sicherheitsabstand ("... nur wenige Zentimeter Platz ...") neben den Auflieger eines an einer Ampel wartenden, zum Zwecke des Linksabbiegens links eingeordneten Sattelschlepper eingeordnet (vgl. zu ähnlichen Sachverhalten Kammergericht, Urteil vom 24. Oktober 2002 – 12 U 50/01 – sowie LG Itzehoe, Urteil vom 7. Oktober 2002 – 2 O 34/01 –). Ebenfalls nicht vergleichbar ist der Sachverhalt einer Entscheidung vom 16. Dezember 1993 (-27 U 167/93 – NZV 1994, 399), in der das OLG Hamm zur einer hälftigen Schadensteilung kommt. Es hat dem Unfallgegner des Sattelschleppers ein Verstoß gegen § 1 Absatz 2 StVO vorgeworfen, weil dieser sich, als er selbst anfuhr, mehrere Meter hinter dem Heck des zeitgleich anfahrenden, im Abbiegen begriffenen Sattelschleppers befand.


c) Es kann offen bleiben, ob der Beklagte zu 1) den Unabwendbarkeitsnachweis nach § 7 Abs. 2 StVG erbracht hat. Jedenfalls ergibt die nach § 17 StVG vorzunehmende Abwägung des Maßes der beiderseitigen Unfallverursachung, dass der Verursachungsbeitrag des klägerischen Fahrers deutlich überwiegt. Er hat durch seine mangelnde Sorgfalt bei dem von ihm vorgenommenen, bereits aus sich heraus sehr gefährlichen Fahrmanöver die entscheidende Ursache für den Unfall gesetzt. Der zu Lasten der Beklagten allein zu berücksichtigenden normalen, nicht erhöhten Betriebsgefahr ihres LKW ist demgegenüber kein haftungsbegründendes Eigengewicht beizumessen. Der Senat hat maßgeblich berücksichtigt, dass die Betriebsgefahr des Sattelschleppers bereits für sich ganz besonders hoch zu bewerten ist, da dieser aufgrund seiner konstruktionsbedingten Vorrichtungen, der um 2 Meter ausgefahrenen Ladebrücke und der überstehenden Ladung beim Linksabbiegen heckseitig ganz erheblich nach rechts ausschwenkt, ohne den damit verbundenen Gefahren begegnen zu können, weil dabei wegen des schon abgeschwenkten Führerhauses keine Sichtmöglichkeit für den Fahrer auf das Fahrzeugheck besteht. Von einem solchen Lkw geht somit bereits bei normalem Linksabbiegemanöver eine ganz erhebliche Gefährdung für andere Verkehrsteilnehmer aus. Demgegenüber konnte der möglicherweise zu berücksichtigenden Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten nur ein geringeres Gewicht beigemessen werden.



Angesichts dessen hält es der Senat für richtig, den Kläger seinen Schaden allein tragen zu lassen.

Im übrigen stehen dem Kläger die Rechtsanwaltskosten für die Einholung der Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung in Höhe von 164,28 € unabhängig von der Frage der Haftung der Beklagten schon deshalb nicht zu, weil diese Schadensposition nicht unter den Schutzbereich von § 823 BGB bzw. § 7 StVG fällt (LG Berlin, DAR 2000, 361; AG Ahaus, AnwBl 1976, 171).

Die Revision war nicht zuzulassen, da weder die Sache grundsätzliche Bedeutung hat, noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 543 Absatz 1 Nr. 1, Absatz 2 ZPO n. F.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Absatz 1 ZPO. Die weiteren prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m § 26 Nr. 8 EGZPO.

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