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OVG Münster Beschluss vom 27.12.2005 - 16 B 1460/05 - Zur Berücksichtigung von tilgungsreifen Alteintragungen nach Einführung der Tilgungshemmung

OVG Münster v. 27.12.2005: Zur Berücksichtigung von tilgungsreifen Alteintragungen nach Einführung der Tilgungshemmung




Das OVG Münster (Beschluss vom 27.12.2005 - 16 B 1460/05) hat zur sog. Subtraktionsmethode und zum Rechtskraftprinzip beim Punkteabzug entschieden:

  1.  Die Regelung über die erweiterte Ablaufhemmung von Tilgungsfristen im Straßenverkehrsregister (§ 29 Abs 6 Satz 2 StVG in der Fassung des 1. Justizmodernisierungsgesetzes vom 24. August 2004) kann dazu führen, dass nach dem Inkrafttreten dieser Regelung am 1. Februar 2005 Verkehrsverstöße wieder berücksichtigt werden können, bezüglich derer bereits zuvor die Tilgungsreife eingetreten war.

  2.  Die zwischenzeitliche Tilgungsreife von Verkehrsverstößen kann in solchen Fällen aber dazu führen, dass nach den Bestimmungen über das abgestufte Sanktionensystem (§ 4 Abs 5 StVG) eine Punktereduzierung erfolgen muss.

Siehe auch
Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem
und
Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein


Zum Sachverhalt:


Im VZR befanden sich Bußgeldeintragungen des Antragstellers aus den Jahren 2001 und 2002. Im Jahre 2003 beging der Antragsteller erneute OWi-Verstöße, bezüglich derer die Bußgeldbescheide im Januar 2005 rechtskräftig wurden.

Die Fahrerlaubnisbehörde ging von einem Punktestand von 16 aus und ordnete die Teilnahme an einem Aufbauseminar mit sofortiger Vollziehung an. Der Antragsteller legte Widerspruch ein und beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Das Verwaltungsgericht wies den Antrag zurück; im Beschwerdeverfahren hatte der Antrag Erfolg.





Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anzuordnen. Die Ordnungsverfügung vom 7. Juni 2005, mit der dem Antragsteller die Teilnahme an einem Aufbauseminar aufgegeben worden ist, erweist sich aufgrund summarischer Überprüfung als offensichtlich rechtswidrig. Die Voraussetzungen, an die § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG eine solche Anordnung knüpft, liegen mit einem hohen Grad an Gewissheit nicht vor.

Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 8 StVG anzuordnen, wenn sich für einen Fahrerlaubnisinhaber auf der Grundlage des sog. Punktsystems 14, aber nicht mehr als 17 Punkte ergeben. Der Antragsgegner ist beim Erlass der angefochtenen Ordnungsverfügung vom 7. Juni 2005 davon ausgegangen, der Antragsteller sei mit 16 Punkten belastet. Das ist nach summarischer Prüfung mit großer Wahrscheinlichkeit unzutreffend.

Das dürfte aber entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht bereits daraus folgen, dass die in den Jahren 2001 und 2002 begangenen und mit insgesamt neun Punkten zu Buche schlagenden Verkehrsverstöße vor Erlass der angefochtenen Ordnungsverfügung im Straßenverkehrsregister zu tilgen waren. Denn gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG in der zum 1. Februar 2005 in Kraft getretenen Fassung des Art.11 Nr. 2 des 1. Justizmodernisierungsgesetzes vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198; hinsichtlich des Inkrafttretens berichtigt in BGBl. I S. 2300) ist aufgrund der vom Antragsteller im Jahr 2003 begangenen Verkehrsordnungswidrigkeiten die Tilgungsfrist über den 28. Dezember 2004 hinaus gehemmt worden, nachdem die diesbezüglich ergangenen Bußgeldbescheide Anfang Januar 2005 bestandskräftig geworden sind.




Der Antragsteller vertritt insoweit zu Unrecht die Ansicht, die Anwendung der gegenüber dem vorherigen Gesetzesstand ausgeweiteten Regelung über die Ablaufhemmung von Tilgungsfristen durch die am 1. Februar 2005 in Kraft getretene Gesetzesnovelle stelle eine unzulässige Rückwirkung auf einen bereits zuvor - seit dem 28. Dezember 2004 - abgeschlossenen Tilgungstatbestand dar. Denn die Annahme einer - grundsätzlich unzulässigen - "echten" Rückwirkung bzw. einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen scheitert bereits daran, dass als "Vergangenheit" im Sinne der verfassungsrechtlichen Rückwirkungsdogmatik nicht die Zeit vor dem Inkrafttreten der jeweiligen Rechtsnorm, sondern (lediglich) die Zeit vor deren Verkündung anzusehen ist.

   Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. März 1983 - 2 BvR 475/78 -, BVerfGE 63, 343, 353 f., und Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 -, BVerfGE 72, 200, 242; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band II, Art.20 (Rechtsstaat) Rn. 144, und Maurer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 60 Rn. 11, mwN.

Da die Neuregelung des § 29 StVG durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz bereits am 30. August 2004 verkündet worden ist, betraf die durch § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG n.F. erweiterte Ablaufhemmung der Tilgungsfrist keinen abgeschlossenen Sachverhalt, sondern der Zeitpunkt des Ablaufs der Tilgungsfrist lag am Tag der Gesetzesverkündung noch in der Zukunft. Im Übrigen hat der Gesetzgeber mit dem Hinauszögern des Inkrafttretens der Neufassung des § 29 StVG um rund ein halbes Jahr in hinreichender Weise dafür Sorge getragen, dass sich Betroffene im Hinblick auf die Erhebung bzw. Weiterführung von Rechtsbehelfen etwa gegen Bußgeldbescheide wegen Verkehrsübertretungen auf die geänderten Tilgungsbestimmungen einstellen konnten.




Der Antragsgegner war aber gehalten, gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG lediglich von einem Punktestand des Antragstellers von 13 Punkten auszugehen. Nach dieser Vorschrift wird der Punktestand auf 13 reduziert, wenn die Zahl von 14 Punkten erreicht oder überschritten wird, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ergriffen, also den Verkehrsteilnehmer über den erreichten Punktestand unterrichtet, ihn verwarnt und auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar mit der Folge einer Punktereduzierung nach § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG hingewiesen hat. Die Voraussetzungen dieser Punktereduzierung liegen vor, weil am 28. Dezember 2004 hinsichtlich der drei Eintragungen des Antragstellers aus den Jahren 2001 und 2002 im Verkehrszentralregister die Tilgungsreife eingetreten war und sich nach dem seinerzeit geltenden Recht der Punktestand des Antragstellers vorübergehend auf Null vermindert hatte. Erst in der Zeit vom 4. bis zum 6. Januar 2005 erhöhte sich der Punktestand durch den Eintritt der Rechtskraft der für die Verkehrsverstöße im Jahre 2003 ergangenen Bußgeldbescheide auf sieben und nachfolgend, und zwar mit dem Inkrafttreten der Neuregelung des § 29 StVG am 1. Februar 2005, auf 16 Punkte. Dieser neue Punktestand rechtfertigte zwar für sich genommen die Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG), aber es fehlte an der Durchführung der vorgelagerten Sanktion nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG. Gegen das Erfordernis, zunächst nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG zu verfahren, spricht auch nicht, dass der Antragsteller nach dem Erreichen von neun Punkten mit Schreiben des Antragsgegners vom 14. Februar 2003 bereits belehrt und verwarnt worden ist. Denn diese Maßnahme ist erneut durchzuführen, wenn sich zwischenzeitlich - wie vorliegend im Zeitraum vom 28. Dezember 2004 bis zum 1. Februar 2005 - der Punktestand auf weniger als acht vermindert hatte.

   Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. März 2003 - 19 B 337/03 -, NVwZ-RR 2003, 681 = DAR 2003, 433 = VRS 2003, 147; OVG Weimar, Beschluss vom 11. November 2003 - 2 EO 682/03 -, VRS 2004, 315; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 38. Aufl., § 4 StVG Rn. 13.




Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass in der Zeit vom 28. Dezember 2004 bis zum 1. Februar 2005 wegen der Verkehrsverstöße im Jahr 2003, des Eintritts der Rechtskraft der diesbezüglichen Bußgeldbescheide im Januar 2005 und der bevorstehenden Änderung des § 29 Abs. 6 StVG das alsbaldige erneute Erreichen eines Punktestandes von zunächst sieben und dann 16 Punkten absehbar war. Weder die Kürze des Zeitraumes, während dessen der Punktestand von acht wieder unterschritten war, noch sonstige Gründe, wegen derer eine neuerliche Verwarnung entbehrlich erscheinen konnte, rechtfertigen ein Abrücken vom eindeutigen Wortlaut des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bzw. Abs. 5 Satz 1 StVG, der für derartige Ausnahmen und Differenzierungen keinen Raum lässt. ..."

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