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OVG Greifswald Beschluss vom 28.12.2005 - 1 M 154/05 - Für die Maßnahmen im Punkesystem ist die Rechtskraft der Entscheidungen maßgeblich

OVG Greifswald v. 28.12.2005: Für die Maßnahmen im Punkesystem ist die Rechtskraft der Entscheidungen maßgeblich




Das OVG Greifswald (Beschluss vom 28.12.2005 - 1 M 154/05) hat entschieden:

   Soweit § 4 Abs 5 S 1 StVG die Rechtsfolge der Punktestandreduzierung auf 13 an das "Erreichen" eines bestimmten Punktestandes als den maßgeblichen Zeitpunkt für den Punkteabzug knüpft, ist nicht die Mitteilung nach § 4 Abs 6 StVG oder die Eintragung von Punkten entscheidend, sondern spätestens die Rechtskraft der zugrunde liegenden Entscheidung.

Siehe auch
Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem
und
Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein

Aus den Entscheidungsgründen:


"... Der Antragsteller wendet sich dagegen, dass der Antragsgegner ihm wegen Erreichung von 18 Punkten gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG seine Fahrerlaubnis entzogen hat.

Die den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügende Beschwerde des Antragstellers gegen den ihm ausweislich Empfangsbekenntnis am 23. November 2005 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts, die mit am 29. November 2005 eingegangenem Schriftsatz fristgemäß ( § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO ) erhoben und ebenso fristgerecht ( § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO ) begründet worden ist, hat Erfolg.

Die Beschwerde richtet sich nach Maßgabe ihrer Begründung ausschließlich gegen die Sachentscheidung zu Ziffer 1. des angegriffenen Beschlusses.

Im Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist der Gegenstand der gerichtlichen Prüfung gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO darauf beschränkt, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts an Hand derjenigen Gründe nachzuprüfen, die der Beschwerdeführer darlegt.




Aus den vom Antragsteller dargelegten Gründen ergeben sich durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bzw. der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung. Dem Antragsteller ist nach dem Prüfungsmaßstab des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens darin zu folgen, dass zu seinen Gunsten eine Punktereduzierung nach Maßgabe von § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG erfolgt ist. Dann aber hat er die Zahl von 18 Punkten, die den Antragsgegner erst zur Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG ermächtigt, noch nicht erreicht. Die Entziehungsmaßnahme ist folglich rechtswidrig. Im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung besteht an der sofortigen Vollziehung einer rechtswidrigen Verwaltungsmaßnahme - trotz der zahlreichen Verkehrsverstöße des Antragstellers - kein (besonderes) öffentliches Interesse; die aufschiebende Wirkung des fristgemäß eingelegten Widerspruchs des Antragstellers gegen die von Gesetzes wegen nach § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG sofort vollziehbare Entziehungsverfügung ist anzuordnen und die verwaltungsgerichtliche Entscheidung entsprechend abzuändern.

Dem Verwaltungsgericht ist nicht darin zu folgen, dass die auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehungsverfügung des Antragsgegners vom 06. September 2005 rechtmäßig sein dürfte. Der Entziehungsverfügung liegt ein fehlerhaftes Verständnis der Vorschrift des § 4 Abs. 5 StVG zugrunde.

Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich 18 oder mehr Punkte ergeben und der Betroffene damit als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt. Unter Berücksichtigung von § 4 Abs. 5 StVG hat der Antragsteller aber noch nicht 18 Punkte erreicht.

Erreicht oder überschreitet der Betroffene 14 oder 18 Punkte, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ergriffen hat, wird sein Punktestand gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG auf 13 reduziert. Erreicht oder überschreitet der Betroffene 18 Punkte, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG ergriffen hat, wird sein Punktestand gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG auf 17 reduziert.

Entgegen der Auffassung von Antragsgegner und Verwaltungsgericht kommt dem Antragsteller nicht erst die Reduzierung nach Satz 2, sondern bereits die Regelung gemäß §4 Abs. 5 Satz 1 StVG zugute.




Soweit § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG die Rechtsfolge der Punktestandsreduzierung auf 13 an das "Erreichen" eines bestimmten Punktestandes als den maßgeblichen Zeitpunkt für den Punkteabzug knüpft, ist nicht die Mitteilung nach § 4 Abs. 6 StVG oder die Eintragung von Punkten entscheidend, sondern spätestens - ob das "Tattagprinzip" (vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 12.03.2003 - 2 EO 688/02 -, DAR 2004, 52 = NJW 2003, 2770 ) gilt, kann vorliegend offen bleiben - die Rechtskraft der zugrunde liegenden Entscheidung (vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 03.7.2002 - Au 3 S 02.698 -, DAR 2003, 436 ; OVG Münster, Beschluss vom 21.03.2003 - 19 B 337/03 -, NVwZ-RR 2003, 681 = DAR 2003, 433 ; OVG Weimar, Beschluss vom 12.03.2003 - 2 EO 688/02 -, DAR 2004, 52 = NJW 2003, 2770 ; VG Sigmaringen, Beschluss vom 01.07.2005 - 4 K 773/05 -; jeweils zitiert nach juris; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 4 StVG Rn. 2).

Erreicht bzw. überschritten hatte der Antragsteller 14 Punkte bereits am 22. Mai 2004 durch folgende Verkehrsverstöße:

   [folgt eine für die laufende Wiedergabe im Smartphone zu breite Abbildung, die durch Anklicken in einem neuen Tab geöffnet wird]

Am 22. Mai 2004 erreichte der Antragsteller folglich 16 Punkte. In diesem für den Punkteabzug maßgeblichen Zeitpunkt hatte der Antragsgegner noch keine Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ergriffen, die Verwarnung erging vielmehr erst danach unter dem 02. Juni 2004. Damit lagen die beiden für den Punkteabzug nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG entscheidenden Voraussetzungen vor. Der Punktestand des Antragstellers wurde folglich von Gesetzes wegen, ohne dass es eines entsprechenden behördlichen Handelns bedurft hätte, in diesem Zeitpunkt von 16 auf 13 reduziert (für die Annahme eines "echten" Punkteabzugs OVG Münster, Beschluss vom 17.06.2005 - 16 B 2710/04 - und VG Gießen, Beschluss vom 26.02.2003 - 6 G 368/03 -, jeweils juris; für fiktive Reduzierung im Rahmen von § 4 Abs. 3 StVG Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 4 StVG Rn.13).


Ohne rechtliche Relevanz ist es insoweit, dass dem Antragsgegner bis zum 02. Juni 2004, dem Datum der Verwarnung, lediglich die Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 19. Mai 2004 über 9 Punkte vorlag und die Mitteilung über das Erreichen von 16 Punkten ihm erst am 25. Juni 2004 zugegangen ist. Auch wenn der Antragsgegner mangels besserer Erkenntnisse aus seiner subjektiven Sicht am 02. Juni 2004 mit dem Erlass der Verwarnung und der Information über einen Stand von 9 Punkten alles richtig gemacht hat, vermag dies an der eindeutigen gesetzlichen Regelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG und dem darin geregelten maßgeblichen Zeitpunkt für das Vorliegen einer Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG nichts zu ändern. Es kann deshalb nicht, wie Antragsgegner und Verwaltungsgericht meinen, eine "irgendwann" ergangene Verwarnung bzw. Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ausreichend sein, um die Voraussetzungen für einen Punkteabzug nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG zu verneinen.

Nur die nach Auffassung des Senats vorzunehmende Reduzierung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG wird dem Punktesystem bzw. der gesetzlichen Ungeeignetheitsvermutung bei Erreichung eines Punktestandes von 18 gerecht: Die mit Erreichung dieses Punktestandes verbundene Wertung des Gesetzgebers, es handele sich um einen uneinsichtigen Mehrfachtäter, ist nur deshalb gerechtfertigt, weil bzw. wenn die betreffende Person sämtliche Angebote und Hilfestellungen zum Abbau von vorhandenen Defiziten und auch die Möglichkeiten, durch freiwillige Teilnahme an einem Aufbauseminar und einer verkehrspsychologischen Beratung "Bonus-Gutschriften" zu erhalten, nicht oder nicht hinreichend nutzt (vgl. OVG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 27.01.2005 - 5 B 211/04 -, juris). Der Antragsteller ist nach Lage der Dinge zwar ein Mehrfachtäter; die Schlussfolgerung, er sei uneinsichtig und damit ungeeignet, ist aber in Anwendung des Punktesystems derzeit noch nicht gerechtfertigt. Der Antragsteller muss sich allerdings klar vor Augen führen, dass für eine solche Schlussfolgerung nicht mehr viel fehlt. Eine Verhaltensänderung seinerseits ist unabdingbar, um die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und seiner selbst zukünftig zu vermeiden. Es gibt für ihn keinen "Vielfahrerrabatt". Ein "gedrängter" Unterrichtsplan stellt keine Rechtfertigung dar, sondern deutet vielmehr darauf hin, dass der Antragsteller bei Übernahme der entsprechenden Lehrverpflichtungen künftige Geschwindigkeitsüberschreitungen billigend in Kauf nimmt. Dies kann nicht hingenommen werden.



Im Übrigen war auch die Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 19. Mai 2004 bereits unzutreffend, da der der Antragsteller in diesem Zeitpunkt nach Maßgabe der vorstehenden Aufstellung bereits 13 Punkte erreicht hatte. Der Antragsgegner hat hinsichtlich der Mitteilung eines Punktestandes von 16 durch das Kraftfahrt-Bundesamt unter dem 11. Juni 2004 auch selbst bemerkt, dass schon vor der Verwarnung des Antragstellers diese Punktezahl erreicht war. Dies belegt die auf der Mitteilung befindliche Notiz "keine Maß, da alle Tattage vor Verw. lagen". Der Antragsgegner hat daraus jedoch nicht die erforderlichen rechtlichen Schlussfolgerungen abgeleitet.

Angemerkt sei, dass der Antragsgegner zwar auf die Mitteilung vom 11. Juni 2004 tatsächlich keine weitere Maßnahme nach § 4 Abs. 3 StVG zu ergreifen hatte. Er hätte aber seine Verwarnung vom 02. Juni 2004 korrigieren müssen, indem er auf den korrekten Punktestand von 16 und auf die gesetzliche Reduzierung desselben auf 13 gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG hinweist. Ob eine solche Korrektur im Übrigen Voraussetzung der Rechtmäßigkeit bzw. Berücksichtigungsfähigkeit der Verwarnung im Rahmen von § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG ist, kann der Senat vorliegend offen lassen.

Da der Antragsteller nach dem 22. Mai 2004 "nur" weitere 4 Punkte erreicht hat, kommt er unter Einbeziehung der Reduzierung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG auf höchstens 17 Punkte. Haben sich damit noch nicht 18 Punkte für ihn ergeben, durfte noch keine Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG erfolgen. ..."

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