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Europäischer Gerichtshof Urteil vom 01.06.1999 - C-302/97 Zum gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch

EuGH v. 01.06.1999: Zum gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch




Der Europäische Gerichtshof (Urteil vom 01.06.1999 - C-302/97 - Konle -) hat entschieden:

  1.  Die Artikel 56 EG (früher Artikel 73b) und 70 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge stehen

   einer Regelung über den Erwerb von Grundstücken wie der des Tiroler Grundverkehrsgesetzes von 1993 nicht entgegen, es sei denn, dass diese Regelung nicht als Teil der am 1. Januar 1995 bestehenden innerstaatlichen Rechtsordnung der Republik Österreich anzusehen ist;

einer Regelung wie der des Tiroler Grundverkehrsgesetzes von 1996 entgegen?

  2.  Die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert ist, um die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats gegenüber einzelnen zu begründen, obliegt grundsätzlich den nationalen Gerichten.

  3.  Ein bundesstaatlich aufgebauter Mitgliedstaat kann seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen auch dann erfüllen, wenn nicht der Gesamtstaat den Ersatz der einem einzelnen durch gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Maßnahmen entstandenen Schäden sicherstellt.

Anmerkung:
Die Urteilswiedergabe beschränkt sich auf die Teile, die für die Probleme des gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruchs Bedeutung haben.


Siehe auch
Stichwörter zum Thema EU-Führerschein
und
Gemeinschaftsrechtlicher Schadensersatzanspruch wegen strafrechtlicher Verurteilung oder Nutzungsuntersagung gegen die EuGH-Rechtsprechung zum EU-Führerschein

Urteil:

1. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien hat mit Beschluß vom 13. August 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 22. August 1997, gemäß Artikel 234 EG (früher Artikel 177) vier Fragen nach der Auslegung der Artikel 10 (früher Artikel 5), 6 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG), 52, 54, 56 und 57 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG, 44 EG, 46 EG und 47 EG), 53 EG-Vertrag (aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam) 45 EG und 48 EG (früher Artikel 55 und 58), 56 EG bis 60 EG (früher Artikel 73b bis 73d, 73f und 73g), 73e und 73h EG-Vertrag (aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam) sowie des Artikels 70 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1; nachstehend: Beitrittsakte) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2. Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer Klage des deutschen Staatsangehörigen Konle gegen die Republik Österreich wegen Ersatzes des Schadens, der dem Kläger durch den angeblichen Verstoß des Tiroler Grundverkehrsrechts gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden ist.

Innerstaatliches Recht

...

Gemeinschaftsrecht

14. Artikel 70 der Beitrittsakte bestimmt:

„Abweichend von den Verpflichtungen im Rahmen der die Europäische Union begründenden Verträge kann die Republik Österreich ihre bestehenden Rechtsvorschriften betreffend Zweitwohnungen während eines Zeitraumes von fünf Jahren ab dem Beitritt beibehalten.“
Der Ausgangsrechtsstreit

15. Im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens erteilte das Bezirksgericht Lienz am 11. August 1994 dem Kläger den Zuschlag für ein Grundstück in Tirol unter dem Vorbehalt der Erteilung der nach dem seinerzeit geltenden TGVG 1993 erforderlichen behördlichen Genehmigung.

16. Am 18. November 1994 lehnte die Bezirkshauptmannschaft Lienz den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Genehmigung ab, obwohl dieser versichert hatte, dass er seinen Hauptwohnsitz dorthin verlegen wolle und dort eine kaufmännische Tätigkeit im Rahmen des von ihm bereits in Deutschland geführten Unternehmens ausüben wolle. Der Kläger legte hiergegen Berufung bei der Landes-Grundverkehrskommission beim Amt der Tiroler Landesregierung (nachstehend: LGvK) ein, die den ablehnenden Bescheid mit Entscheidung vom 12. Juni 1995 bestätigte.

17. Der Kläger erhob hiergegen eine Beschwerde sowohl beim Verwaltungsgerichtshof, der diese mit Erkenntnis vom 10. Mai 1996 zurückwies, als auch beim Verfassungsgerichtshof, der die Entscheidung vom 12. Juni 1995 mit Urteil vom 25. Februar 1997 aufhob, da er das TGVG 1993 insgesamt für verfassungswidrig erklärt hatte. Aufgrund dieser Aufhebung wurde die LGvK erneut mit dem Genehmigungsantrag des Klägers befasst.

18. Ohne die Neuentscheidung der LGvK hierüber abzuwarten, erhob der Kläger beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien Klage gegen die Republik Österreich mit der Begründung, dass diese für den Verstoß sowohl des TGVG 1993 als auch des TGVG 1996 gegen das Gemeinschaftsrecht hafte.

19. Die Republik Österreich berief sich zu ihrer Verteidigung namentlich auf Artikel 70 der Beitrittsakte.

20. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien ist der Ansicht, dass für die Lösung des Rechtsstreits die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des EG-Vertrags und der Beitrittsakte erforderlich sei, und hat daher dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. 
  a.  dass der Kläger während der Geltung des TGVG 1993 um Beweis dafür verhalten wurde, er würde keinen Freizeitwohnsitz begründen, während beim Rechtserwerb durch einen Inländer die bloße Erklärung gemäß § 10 Absatz 2 genügt hätte, um die Genehmigung der Grundverkehrsbehörde zu bekommen, und ihm die Genehmigung verweigert wurde, und

  b.  dass der Kläger sich im Rahmen des TGVG 1996 schon vor der Einverleibung des Eigentumsrechts im Grundbuch - ebenso wie nun auch Inländer - einem Genehmigungsverfahren zu stellen hat, wobei die Möglichkeit, eine wirksame Erklärung abzugeben, es würde kein Freizeitwohnsitz begründet, nun auch für Inländer entfallen ist,

gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen und der Kläger in einer durch Rechtsvorschriften der Europäischen Union garantierten Grundfreiheit verletzt wurde?

  2.  Für den Fall der Bejahung von Frage 1: Obliegt dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag auch die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht „hinreichend qualifiziert“ (im Sinne etwa der Ausführungen in der Entscheidung des Gerichtshofes vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur/Bundesrepublik Deutschland) ist?

  3.  Für den Fall der Bejahung von Frage 1 und 2: Ist der Verstoß „hinreichend qualifiziert“?

  4.  Ist dem Grundsatz der Haftung der Mitgliedstaaten für die dem einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zugefügten Schäden bei richtiger Auslegung des Artikels 5 EG-Vertrag auch dann Genüge getan, wenn das nationale Haftungsrecht eines föderalistisch strukturierten Mitgliedstaats bei Verstößen, die einem Teilstaat zuzurechnen sind, normiert, dass der Geschädigte nur den Teilstaat, nicht jedoch den Gesamtstaat in Anspruch nehmen kann?




Zur ersten Frage

21. ...

Zur zweiten und zur dritten Frage

57. Mit der zweiten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Beurteilung obliegt, ob ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert ist, um die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats gegenüber einem eventuell von diesem Verstoß betroffenen einzelnen zu begründen.

58. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes obliegt die Anwendung der Kriterien für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, entsprechend den vom Gerichtshof entwickelten Leitlinien (Urteile vom 5. März 1996 in den Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029, Randnrn. 55 bis 57, vom 26. März 1996 in der Rechtssache C-392/93, British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631, vom 8. Oktober 1996 in den Rechtssachen C-178/94, C-179/94 und C-188/94 bis C-190/94, Dillenkofer u. a., Slg. 1996, I-4845 und vom 17. Oktober 1996 in den Rechtssachen C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Denkavit u. a., Slg. 1996, I-5063) grundsätzlich den nationalen Gerichten (Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, Randnr. 58).

59. Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass grundsätzlich den nationalen Gerichten die Beurteilung obliegt, ob ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert ist, um die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats gegenüber einzelnen zu begründen.

60. Aufgrund der Antwort auf die zweite Frage erübrigt sich eine Beantwortung der dritten Vorlagefrage.

Zur vierten Frage

61. Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein bundesstaatlich aufgebauter Mitgliedstaat seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nur erfüllt, wenn der Gesamtstaat den Ersatz der dem einzelnen durch gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Maßnahmen entstandenen Schäden sicherstellt.



62. Jeder Mitgliedstaat muß sicherstellen, dass dem einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht entstanden ist, gleichgültig, welche staatliche Stelle diesen Verstoß begangen hat und welche Stelle nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats diesen Schadensersatz grundsätzlich zu leisten hat. Ein Mitgliedstaat kann sich daher seiner Haftung nicht dadurch entziehen, dass er auf die Aufteilung der Zuständigkeit und der Haftung auf Körperschaften verweist, die nach seiner Rechtsordnung bestehen.

63. Unter diesem Vorbehalt verpflichtet das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht dazu, die Aufteilung der Zuständigkeit und der Haftung auf die öffentlichen Körperschaften in ihrem Gebiet zu ändern. Den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts ist genügt, wenn die innerstaatlichen Verfahrensregelungen einen wirksamen Schutz der Rechte, die dem einzelnen aufgrund Gemeinschaftsrechts zustehen, ermöglichen und die Geltendmachung dieser Rechte nicht gegenüber derjenigen solcher Rechte erschwert ist, die dem einzelnen nach innerstaatlichem Recht zustehen.

64. Somit ist auf die vierte Frage zu antworten, dass ein bundesstaatlich aufgebauter Mitgliedstaat seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen auch erfüllen kann, wenn nicht der Gesamtstaat den Ersatz der einem einzelnen durch gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Maßnahmen entstandenen Schäden sicherstellt.

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