Das Verkehrslexikon

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Landgericht Berlin Urteil vom 04.03.2004 - 17 O 382.03 - Zu den Sorgfaltspflichten beim Anfahren nach nicht verkehrsbedingtem Halten

LG Berlin v. 04.03.2004: Zu den Sorgfaltspflichten beim Anfahren nach nicht verkehrsbedingtem Halten


Das Landgericht Berlin (Urteil vom 04.03.2004 - 17 O 382.03) hat entschieden, dass die Vorschriften über das Anfahren vom Fahrbahnrand auch dann anwendbar sind, wenn dies ohne Spurwechsel, also durch Verbleiben im rechten Fahrstreifen, bewerkstelligt wird:
Wer nach einem zunächst nicht verkehrsbedingten Halten am rechten Fahrbahnrand wieder anfährt, muss die sich aus § 10 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten beachten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob er "nach links hin" oder geradeaus (also ohne Verlegung der Fahrlinie nach links bzw. unter Beibehaltung der Fahrspur) anfährt. Verstößt der Anfahrende gegen die ihn treffenden Sorgfaltspflichten, haftet er allein für einen Unfall mit einem Fahrzeug, dessen Führer in den rechten Fahrstreifen wechselt.


Zum Sachverhalt: Der Führer des Beklagtenfahrzeugs hatte im rechten Fahrstreifen gehalten, um jemanden aussteigen zu lassen. Der Führer des klägerischen Fahrzeugs wollte nach dem Passieren des Beklagtenfahrzeugs in den rechten Fahrstreifen wechseln. Dabei kam es zur Kollision beider Fahrzeuge.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Entgegen der Ansicht der Beklagten lag ein Anfahren im Sinne des § 10 StVO vor, wobei dahinstehen kann, ob der Beklagte zu 1 - wie die Beklagten behaupten - geradeaus „unter Beibehaltung der Fahrspur" fuhr oder - wie es der Kläger behauptet - sich nach links in die mittlere Fahrspur (gemeint: in den zweiten Fahrstreifen von rechts) einordnen wollte. Denn darauf, ob der Beklagte zu 1 „nach links hin" oder geradeaus anfuhr, kommt es nicht an. Entscheidend ist allein, dass der zunächst nicht verkehrsbedingt haltende Beklagte zu 1 nach diesem Halten wieder anfuhr.

Soweit die Beklagten für ihre Ansicht auf Hentschel (Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 10 StVO Rdnr. 7) verweisen, mag ihnen zugegeben werden, dass die zitierte Kommentarstelle, wonach „das Anfahren vom rechten oder linken Fahrbahnrand aus (..) dessen (wessen, des Fahrbahnrandes ?). Vertauschen mit einer Fahrlinie, nicht bloßes Zurechtrücken in einer Parklücke ohne Wegfahrabsicht (ist)", hinsichtlich der Fahrlinie nicht völlig klar ist und zu Missverständnissen Anlass gibt. Das „Vertauschen mit einer Fahrlinie" setzt aber nicht zugleich voraus, dass diese Fahrlinie nach links oder rechts verlegt wird. Es ist lediglich erforderlich, dass sich das Fahrzeug bewegt, das „punktuelle" Stehen also mit dem „linienförmigen" Fahren getauscht wird.

Diese Auffassung wird von der übrigen Kommentarliteratur und auch von der Rechtsprechung geteilt: Danach legt § 10 StVO demjenigen, der nach einem nicht verkehrsbedingten Halten oder Parken aus dem Stand vom Fahrbahnrand wieder anfährt, eine gesteigerte Sorgfaltspflicht gegenüber dem fließenden Verkehr auf. Er muss den fließenden Verkehr sorgfältig beobachten und darf sich erst dann in ihn einordnen, wenn er keinen Verkehrsteilnehmer, insbesondere kein von hinten herankommendes Fahrzeug, gefährdet oder mehr als den Umständen nach unvermeidbar behindert oder belästigt. Diese Verpflichtung besteht auch dann, wenn ohne Verlegung der Fahrlinie nach links angefahren wird (vgl. Walther in: Heidelberger Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, 1993, § 10 StVO Rdnr. 33 f.; Burmann in: Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 17. Aufl., § 10 StVO Rdnr. 12; OLG Hamm, Urteil vom 7. April 1966 - 2 Ss 171/66 -, VRS Bd. 31 S. 294 - noch zum allen Recht -; LG Köln, Urteil vom 15. Februar 1989 - 10 S 413/88 -, VersR 1989 S 1161 mit Anm. Haarmann, dort insbesondere unter Nummer 3 mit der zutreffenden Erwägung, dass aus der beispielhaften Erwähnung eines besonders gefahrenträchtigen Fahrvorgangs, nämlich des plötzlichen Ausscherens nach links beim Anfahren, in der amtlichen Begründung zu § 10 StVO nicht etwa der unzulässige Umkehrschluss gezogen werden dürfe, dass andere gefährliche Anfahrbewegungen, wie ein Anfahren ohne ein erhebliches Ausscheren zur Straßenmitte hin nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht unter § 10 StVO fielen). Ein Anfahrender muss daher ohne weiteres damit rechnen, dass ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer vor ihm nach rechts einscheren und ggf. sogar anhalten will (vgl. etwa BayObLG, Urteil vom 8. März l967 - RReg 1 a St 412/66 -, VerkMitt 1967 S. 68 Nr 94 - noch zum alten Recht -; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 9 März 1976 - Ss 54/76 -, VRS Bd. 51 S. 144).

Kommt es im Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand - wie hier - über die Gefährdung eines anderen Verkehrsteilnehmers hinaus zu einem Verkehrsunfall, so spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der in den fließenden Verkehr hineinfahrende Kraftfahrer die ihm dabei obliegenden gesteigerten Sorgfaltspflichten nicht beachtet hat, sich also nicht so verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Er haftet regelmäßig allein für die Folgen, denn das Risiko für sein gefährliches Verhalten trägt dieser Verkehrsteilnehmer grundsätzlich selbst.

Im vorliegenden Fall bedarf es der Anwendung des Anscheinsbeweises nicht einmal, die Verletzung der gesteigerten Sorgfaltspflicht ergibt sich aus dem eigenen Vortrag der Beklagten, denn der Beklagte zu 1 hat auf den fließenden Verkehr überhaupt nicht geachtet.

Auch der örtliche und zeitliche Zusammenhang zwischen dem Sorgfaltspflichtverstoß des Beklagten zu 1 und dem Unfall ist gegeben. Der Beklagte zu 1 war gerade erst angefahren, als es zum Unfall kam. Gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten sagte er am 20. Oktober 2000, er habe „beim Anfahren stark bremsen müssen." Am 2. Dezember 2000 schrieb er: „Dann bin ich wieder weiter gefahren. Nach ca. 10 - 20 Meter Fahrweg hat ein Fahrzeug schlagartig ohne Blinkzeichen von der Mittelspur auf meine rechte Spur gewechselt.... Ich mußte eine Notbremsung machen."

Bei dieser Sachlage gehörte der Beklagte zu 1 - entgegen der offenbar von den Beklagten vertretenen Ansicht - noch nicht zum fließenden Verkehr, sondern im Gegenteil weiterhin zum ruhenden Verkehr und hatte die Pflichten aus § 10 StVO solange zu beachten, bis er ununterscheidbar in den fließenden Verkehr integriert war. Diese erforderliche Integration in den fließenden Verkehr war nach Zurücklegen einer Strecke von vielleicht 10 Metern - das ist die von den Beklagten zugestandene, als möglich angesehene Mindeststrecke - noch lange nicht erreicht; sie wäre im Übrigen aber auch, selbst unter Berücksichtigung der Verkehrslage kurz nach Umschalten der Lichtzeichenanlage, nicht bei einer von den Beklagten genannten maximal zurückgelegten Strecke von 20 m erreicht gewesen.

Entgegen der Ansicht des Klägers hatte der Beklagte zu l aber nicht auch zusätzlich noch die Sorgfaltspflichten aus § 7 Abs. 5 StVO zu beachten gehabt, sodass wiederum dahinstehen kann, ob der Beklagte zu l auf dem rechten Fahrstreifen weiter geradeaus fuhr oder vom rechten Fahrstreifen auf den links daneben gelegenen wechseln wollte. Während sich § 10 StVO an den ruhenden Verkehr wendet und von diesem äußerste Sorgfalt beim Einfahren in den fließenden Verkehr verlangt, richtet sich § 7 Abs. 5 StVO allein an die Verkehrsteilnehmer des fließenden Verkehrs, zu denen der Beklagte zu J mangels Integration in den fließenden Verkehr noch nicht gehörte. Dementsprechend können die Beklagten dem Kläger nicht mit Erfolg einen Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO vorwerfen, weil der Beklagte zu l nicht zum fließenden Verkehr gehörte, zu dessen Schutz die genannte Norm zu dienen bestimmt ist. ..."



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