Das Verkehrslexikon

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OLG Köln Beschluss vom 02.05.2005 - 8 Ss-OWi 98/05 - Zur notstandsähnlichen Situation bei der Geschwindigkeitsüberschreitung eines Arztes

OLG Köln v. 02.05.2005: Zur notstandsähnlichen Situation bei der Geschwindigkeitsüberschreitung eines Arztes


Das OLG Köln (Beschluss vom 02.05.2005 - 8 Ss-OWi 98/05) hat entschieden:
Die Möglichkeit, einen Notarzt zu rufen, schließt nicht aus, dass sich ein Arzt, der auf dem Weg zu einem Notfallpatienten einen Geschwindigkeitsverstoß begeht, in einer notstandsähnlichen Situation befinden oder sich über das Vorliegen einer solchen in einem Irrtum befinden kann. Allerdings muss abgewogen werden, ob die erhoffte Zeitersparnis überhaupt geeignet ist, eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung zu rechtfertigen.


Siehe auch Stichwörter zum Thema Geschwindigkeit


Zum Sachverhalt: Das Amtsgericht hat dem Betroffenen wegen einer vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 41 Abs. 2 [Nr. 7 Zeichen 274], 49 [Abs. 3 Nr. 4] StVO zu einer Geldbuße von 300 € verurteilt und ihm - verbunden mit der Anordnung nach § 25 Abs. 2 a StVG - für die Dauer von einem Monat verboten, Kraftfahrzeuge aller Art im Straßenverkehr zu führen. Mit der Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt.

Aus den Entscheidungsgründen:

"... II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde begegnet hinsichtlich ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen keinen Bedenken. In der Sache hat sie einen (zumindest vorläufigen) Teilerfolg.

Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils kann keinen Bestand haben, weil die Begründung im Hinblick auf die Frage der Rechtswidrigkeit der Handlungsweise des Betroffenen der rechtlichen Nachprüfung nicht standhält. Sie lässt vielmehr besorgen, dass die Voraussetzungen und der Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstands (§ 16 OWiG) verkannt worden sind.

Das Amtsgericht führt aus:
"Der Betroffene hat eingeräumt, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein. Er hat erklärt, er sei als Arzt zu einem Notfallpatienten unterwegs gewesen, er behandele austherapierte chronisch Kranke, es habe sich hier um eine Notfallbehandlung gehandelt, ein Fall von Hepathitis, Bluthochdruck, schwerer Herzerkrankung, der Patient sei bei ihm in ständiger Behandlung, und da müßten Medikamente intravenös gegeben werden, die der Patient selber nicht geben könne. Dies sei vorliegend der Fall gewesen. Daraufhin sei er zu schnell gefahren.… Der Betroffene hat weiterhin erklärt, er habe den Verkehrsverstoß vorsätzlich begangen, er betone: vorsätzlich, denn schließlich habe er das Recht dazu, wenn er zu einem Notfallpatienten fahre."
Weiter heißt es:
"Der Betroffene hat auf die Frage des Gerichts nach seinem letzten Wort erklärt, selbstverständlich fahre er zu schnell, wenn er zu einem Notfall müsse. Er sei deswegen auch schon zweimal geblitzt worden, sei mit seiner Einlassung aber immer durchgekommen. Wenn ihm je jemand erklärt hätte, dass er sich auf dem Weg zu seinem Patienten an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten müsse, wäre er selbstverständlich auch nur 100 gefahren. Bisher habe ihm dies aber noch nie jemand schwarz auf weiß gegeben. Deshalb werde er auch nach wie vor weiterhin zu schnell fahren, wenn dies ärztlich erforderlich sei."
Weitergehende tatsächliche Feststellungen zu dem von dem Betroffenen behaupteten Notfall, aus dem er eine Rechtfertigung für die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit herleitet, enthalten die Urteilsgründe nicht. Das Amtsgericht stellt vielmehr allgemein gehaltene Erwägungen an:
"Selbst wenn der Betroffene auf dem Weg zu einem Notfallpatienten ist, darf er nicht sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen außer Acht lassen und rasen so schnell wie er will, denn die Verkehrsvorschriften gelten für alle, auch für Ärzte. Dies gilt auch für Ärzte, die auf dem Weg zum Patienten sind. Wenn es sich wirklich um einen derart dringenden Fall handelt, dass ein Patient sofortige notfallmäßige medizinische Hilfe braucht, mag er den Notarzt oder einen Krankenwagen rufen, bzw. der in Anspruch genommene Hausarzt, wie hier der Betroffene, mag die sofortige Lossendung eines Krankentransportwagens oder eines Notfallwagens veranlassen. Solche Fahrzeuge sind mit Blaulicht und Martinshorn ausgerüstet und sind dazu in der Lage, im Falle eines erforderlich werdenden Geschwindigkeitsverstoßes andere Verkehrsteilnehmer durch diese Signale zu warnen … Dies ist bei dem Betroffenen mit seinem normalen PKW nicht der Fall. Es ist äußerst gefährlich, wenn Fahrzeuge erheblich zu schnell fahren und die Geschwindigkeiten überschreiten. Die anderen Verkehrsteilnehmer können schließlich nicht sehen, ob in dem Audi des Betroffenen ein Arzt sitzt, der auf dem Weg zum Notfallpatienten ist. Die Geschwindigkeitsbeschränkungen stehen üblicherweise nicht spaßeshalber an der Autobahn oder sonstwo, sondern weil die besondere Verkehrssituation dieses erfordert. Daher hat der Betroffene sich auch daran zu halten. Für Notfälle dieser Art sind Krankenwagen da, aber nicht irgendwelche Ärzte."
Diese - teilweise unsachlich wirkenden - Ausführungen sind nicht geeignet, eine Rechtfertigung der Verkehrsordnungswidrigkeit des Betroffenen durch Notstand i. S. d. § 16 OWiG auszuschließen. Die Feststellungen des Amtsgerichts sind in dieser Hinsicht vielmehr materiell-rechtlich unvollständig und ermöglichen eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht. Sie lassen zudem besorgen, dass das Amtsgericht insoweit keinen Anlass zur Aufklärung des Sachverhalts gesehen hat, weil es - rechtsfehlerhaft - davon ausgeht, dass ein medizinischer Notfall generell nicht geeignet ist, die Geschwindigkeitsüberschreitung des herbeigerufenen Arztes gemäß § 16 OWiG zu rechtfertigen.

Die Verletzung von Verkehrsvorschriften, z. B. durch Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit, kann indessen sehr wohl durch Notstand gerechtfertigt sein, wenn nur so die erforderliche schnelle Hilfe für einen Schwerkranken geleistet werden kann (vgl. KG VRS 53, 60 m. w. Nachw.; BayObLGSt 1999, 159 = NJW 2000, 888 = DAR 2000, 170 = NZV 2000, 215 [216] = VRS 98, 294 mit weiteren Beispielen aus der Rspr.; vgl. a. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 3 StVO Rdnr. 56 u. ders. NJW 2001, 713). Sie ist nicht grundsätzlich wegen der Möglichkeit, einen ärztlichen Notdienst zu verständigen, ausgeschlossen, der Betroffene entgegen der Ansicht des Amtsgerichts nicht darauf beschränkt, Notarzt oder Krankenwagen herbeizurufen (SenE . 06.01.1998 - Ss 738/97 B -; OLG Düsseldorf VRS 30, 444 [445]; KG a.a.O.). Bei der Prüfung der Frage, ob die Verkehrsordnungswidrigkeit als geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr angesehen werden kann und ob bei Abwägung der widerstreitenden Interessen die Einhaltung der Verkehrsvorschriften gegenüber der dringenden Behandlungsbedürftigkeit eines akut erkrankten Patienten zurückzustehen hat, kommt es auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an (BayObLGSt 1990, 105 und a.a.O.; OLG Düsseldorf VRS 30, 444 [446] u. VRS 88, 454 [455]). Ob die gegenwärtige Gefahr eines Schadenseintritts besteht, ist nicht nach dem subjektiven Standpunkt des - möglicherweise irrenden - Täters, sondern nach dem ex-ante-Urteil eines objektiven Beobachters zu beurteilen (vgl. Rengier, in: Karlsruher Kommentar, OWiG, 2. Aufl., § 16 Rdnr. 16; OLG Düsseldorf VRS 81, 467 [470]; SenE v. 17.05.1994 - Ss 169/94 B - = VRS 88, 370 [372]).

Dazu bieten die Gründe des angefochtenen Urteils allerdings keine Grundlage. Es ist weder festgestellt, welcher Behandlungsmaßnahmen der Patient des Betroffenen bedurfte (bzw. welche Behandlung der Betroffene tatsächlich vorgenommen hat) und welche gesundheitlichen Gefahren ihm bei ausbleibender Behandlung innerhalb welchen zeitlichen Rahmens drohten. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, in welchem Umfang die Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Verkürzung der Fahrtzeit führen konnte und ob diese somit geeignet war, einen wesentlichen Vorteil im Interesse des Patienten zu bringen.

Gerade darauf ist in Fällen der vorliegenden Art Bedacht zu nehmen, weil sich dabei vielfach ergibt, dass das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit wegen der geringen Zeitersparnis kein "angemessenes Mittel" (§ 16 S. 2 OWiG) war, die Gefahr abzuwenden (vgl. KG a.a.O.; BayObLGSt 1999, 159 = NJW 2000, 888 = DAR 2000, 170 = NZV 2000, 215 [216] = VRS 98, 294; OLG Düsseldorf VRS 81, 467 [470], VRS 88, 454 [455], VRS 93, 442 [444] u. NZV 1996, 122; SenE v. 17.05.1994 - Ss 169/94 B - = VRS 88, 370 [373]; OLG Naumburg DAR 2000, 131; Rengier a.a.O. § 16 Rdnr. 17 m. w. Nachw.; Hentschel a.a.O.). Zwar mag es akute Krankheitszustände geben, bei denen auch ein geringer Zeitvorteil wertvoll sein kann (OLG Düsseldorf VRS 30, 444 [446]; OLG Schleswig VRS 30, 462 [462]). Ob dies auch hier - ausnahmsweise - der Fall war, ist nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht zu beurteilen.

...

Für den Fall, dass die erneute Hauptverhandlung zum Ausschluss einer Rechtfertigung durch Notstand gemäß § 16 OWiG führt, weist der Senat auf folgendes hin:

a) Sollte der Betroffene unter Verkennung der gesetzlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes oder seiner Grenzen die begangene Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gleichwohl als erlaubt angesehen haben, läge ein bloßer Verbotsirrtum gemäß § 11 Abs. 2 OWiG vor, der den Vorsatz unberührt lässt (vgl. OLG Düsseldorf, VRS 93, 443, 444; Göhler a. a. 0. § 16 Rdnr. 15). Infolgedessen wäre der Schuldspruch wegen vorsätzlichen Verstoßes nicht zu beanstanden (SenE v. 19.06.1998 - Ss 289/98 B - = VRS 95, 435).

b) Ein vermeidbarer Verbotsirrtum kann aber die Tat grundsätzlich in einem milderen Licht erscheinen lassen (SenE v. 19.06.1998 - Ss 289/98 B - = VRS 95, 435 [438]; SenE v. 22.08.00 - Ss 337/00 B -; BayObLG DAR 2003, 469 = NJW 2004, 306 m. Anm. Blümel DAR 2004, 39 = VRS 105, 451 = VM 2004, 12 [Nr. 12] = NZV 2004, 263 [264]; OLG Jena NJW 2004, 3579 = DAR 2005, 102 [104]). Insbesondere bei einem mit Rettungswillen begangenen Verkehrsverstoß kann die Abwägung ergeben, dass er dem Fahrzeugführer nicht als grobe Pflichtverletzung anzulasten ist (SenE v. 19.06.1998 - Ss 289/98 B - = VRS 95, 435 [438]; SenE v. 22.08.00 - Ss 337/00 B -). Selbst bei irrtümlicher Annahme eines Notstands durch den Betroffenen muss das Gericht daher jedenfalls prüfen, ob nicht ausnahmsweise von der Verhängung des Regelfahrverbots abgesehen werden kann (OLG Braunschweig NZV 2001, 136; vgl. a. OLG Karlsruhe DAR 2002, 229).

Ein Arzt, der zu einem Notfall gerufen wird und dabei Straßenverkehrsregeln überschreitet, handelt nicht aus grobem Leichtsinn, grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit (vgl. dazu OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, 278 = VRS 100, 460), sondern aus Sorge um das Leben oder die Gesundheit seines Patienten. Die gilt auch dann, wenn die erforderliche Hilfe auch durch einen Notarzt, der über ein Fahrzeug mit Sonderrechten verfügt (§ 35 Abs. 5 a StVO), erreichbar gewesen wäre; denn dieser Umstand beseitigt die fremdnützige Motivation des Arztes nicht. Allerdings vermag nicht jeder Hilferuf eines Verletzten oder Erkrankten eine solche Beurteilung zu rechtfertigen. Vielmehr ist dies nur der Fall, wenn der Arzt die sofortige medizinische Behandlung zumindest für zwingend erforderlich halten durfte (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 214; OLG Karlsruhe DAR 2005, 46 = NZV 2005, 54 [55] = NJW 2005, 450 m. w. Nachw.).

In dieser Hinsicht darf der Tatrichter freilich eine entsprechende Einlassung des Betroffenen nicht unkritisch übernehmen, sondern hat sie kritisch zu hinterfragen und ggf. durch Einvernahme des Patienten oder von Mitarbeitern der Arztpraxis zu überprüfen. Wegen der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer ist insoweit eine besonders eingehende und kritische Überprüfung der Einlassung des Betroffenen veranlasst, um das missbräuchliche Behaupten eines solchen Ausnahmefalls auszuschließen und dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung der richtigen Rechtsanwendung zu ermöglichen (OLG Karlsruhe DAR 2005, 46 = NZV 2005, 54 [55] = NJW 2005, 450 [451]; vgl. a. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 52 = VRS 92, 383 = zfs 1997, 76).

c) Es kann nicht schulderschwerend berücksichtigt werden, dass der Betroffene vorsätzlich die Geschwindigkeitsbeschränkung missachtet hat, wenn er irrig meint, er dürfe sich wegen einer Gefahrenlage über das Gebot hinwegsetzen; denn die vorsätzliche Begehungsweise ist gerade typisch für die Konfliktsituation, in der sich der Täter befindet, und begründet keine erhöhte Vorwerfbarkeit (SenE v. 19.06.1998 - Ss 289/98 B - = VRS 95, 435 [438]). ..."



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