Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 02.07.1985 - Vl ZR 22/84 - Anforderungen an den Kfz-Führer, wenn ihm Kinder auf schmalem Gehweg entgegen kommen

BGH v. 02.07.1985: Zu den Anforderungen an den Kfz-Führer, wenn ihm Kinder auf schmalem Gehweg entgegen kommen


Trotz der aus § 3 II a StVO folgenden erhöhten Sorgfaltspflichten dürfen die Anforderungen an den Kraftfahrer nicht überspannt werden, wenn nach der gewöhnlichen Lebenserfahrung eine Gefährdung nicht zu erwarten ist. Auch gegenüber Kindern gilt grundsätzlich der Vertrauensgrundsatz. Der BGH hat daher nur dann, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigen, die zu Gefährdungen führen können, vom Kraftfahrer verlangt, dass er besondere Vorkehrungen (z.B. Verringerung der Fahrgeschwindigkeit, Einnehmen der Bremsbereitschaft) zu Abwendung der Gefahr trifft (BGH VersR 1985, 1088 m. w. Nachw.; NZV 1992, 360; NZV 1994, 149).
Der BGH (Urteil vom 02.07.1985 - Vl ZR 22/84) hat entschieden:
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Kraftfahrer Vorkehrungen zur Abwendung eines Unfalls treffen muss, wenn ihm auf einem neben der Fahrbahn gelegenen schmalen Gehweg Kinder auf ihren Fahrrädern entgegenkommen


Siehe auch Unfälle mit Kindern Siehe auch Zum Haftungsprivileg für Kinder und zur Haftung von Jugendlichen


Sachverhalt:

Der am 25.8.1984 geborene Kl. nimmt die Bekl. auf Schadensersatz wegen eines Unfalls an seinem 8. Geburtstag gegen 17 Uhr in D. auf der J. Straße in Anspruch. Der Geschäftsführer der Bekl. zu 1 befuhr an diesem Tag mit dem bei der Bekl. zu 2 haftpflichtversicherten Pkw der Bekl. zu 1 die J. Straße. Auf dem aus seiner Fahrtrichtung rechts verlaufenden Bürgersteig befand sich der Kl. mit seinem Fahrrad. Der Kl. wurde von dem Pkw erfasst und schwer verletzt. Der Hergang des Unfalls ist zwischen den Parteien streitig.

Mit seiner Klage begehrt der Kl. Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens. Das LG hat ein hälftiges Mitverschulden des Kl. an dem Unfall zugrunde gelegt und der Klage unter Abweisung im übrigen zum Teil stattgegeben. Auf die Berufung des Kl. hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel beider Parteien das Mitverschulden des Kl. mit 25 % bemessen und die Bekl. auf dieser Grundlage als Gesamtschuldner zum Ersatz des materiellen Schadens, die Bekl. zu 2) auch zum Ersatz des immateriellen Schadens verurteilt und entsprechend die Verpflichtung beider Bekl. zum Ersatz künftig entstehender Schäden festgestellt. Mit der Revision verfolgen die Bekl. ihr Begehren auf Abweisung der Klage in vollem Umfang weiter.


Aus den Entscheidungsgründen:

Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen vermögen die Annahme des Berufungsgerichts, der Fahrer des Fahrzeugs der Bekl. habe gegen § 3 Abs. 2 a StVO verstoßen, nicht zu tragen.

1. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt ein Verschulden des Pkw-Fahrers nicht schon darin, dass er mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h sich dem auf dem Gehweg mit dem Fahrrad fahrenden Kl. genähert hat, ohne seine Fahrgeschwindigkeit zu verringern oder den Kl. gezielt im Auge zu behalten. Damit überspannt das Berufungsgericht die Sorgfaltsanforderungen. Zwar stellt § 3 Abs. 2a StVO an die Sorgfaltspflicht des Fahrzeugführers gegenüber Kindern erhöhte Anforderungen. Der erkennende Senat hat aber stets darauf hingewiesen, dass auch gegenüber Kindern die an die Sorgfaltspflicht des Kraftfahrers zu stellenden Anforderungen nicht überspannt werden dürfen, wenn nach der gewöhnlichen Lebenserfahrung eine Gefährdung nicht zu erwarten ist (vgl. Senatsurteil NJW 1997, 2756, 2757 m. w. N.; VersR 1992, 890).

Auch gegenüber Kindern gilt grundsätzlich der Vertrauensgrundsatz, wie das Berufungsgericht im Ansatzpunkt ohne Rechtsfehler erkennt. Der Senat hat daher nur dann, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigen, die zu Gefährdungen führen könnten, von dem Kraftfahrer verlangt, dass er besondere Vorkehrungen (z. B. Verringerung der Fahrgeschwindigkeit, Einnehmen der Bremsbereitschaft) zur Abwendung der Gefahr trifft. So hatte in dem der Senatsentscheidung vom 5.5.1992 (VersR 1992, 890) zugrundeliegenden Fall ein fünfjähriges Kind sich von der Begleitung seiner Mutter auf dem Gehweg gelöst und war selbständig in Richtung Fahrbahn gelaufen. In einem weiteren, dem erkennenden Senat zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt war ein 7 ¾ Jahre altes Kind zusammen mit seinem sechsjährigen Bruder auf Kinderfahrrädern dem Pkw der Bekl. auf dem rechten Gehweg der Straße nebeneinander fahrend entgegengekommen; auffällig für den Pkw-Fahrer war, dass die Kinder in eine unklare Verkehrslage fuhren, weil der Gehweg mit 1,85 m verhältnismäßig schmal war und die Kinder eine Bushaltestelle zu passieren hatten, an der ein Fahrgast nach dem Bus Ausschau hielt und deshalb unklar war, wieviel Platz für die Kinder zum Vorbeifahren blieb (Senatsurteil VersR 1985, 1088, 1089). Schließlich hat der Senat eine den Vertrauensgrundsatz einschränkende Situation bejaht, wenn Kinder in einer Gruppe mit Fahrrädern auf dem Radweg in Richtung einer Furt an einer Kreuzung fuhren ohne erkennen zu lassen, dass sie rechtzeitig anhalten würden (Senatsurteil 1997, 2756).

Solche Auffälligkeiten, die die Annahme rechtfertigen würden, der Fahrer des beklagten Fahrzeugs habe nicht auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Kl. vertrauen dürfen, hat das Berufungsgericht hier bislang nicht festgestellt. Jedenfalls bei einem Kind im Alter des Kl., bei weder aus seinem Verhalten noch aus der Situation, in der es sich befindet, Auffälligkeiten zu erkennen sind, muss der Kraftfahrer kein verkehrswidriges Verhalten in Betracht ziehen. Der Kl. war acht Jahre alt und altersgemäß entwickelt; er fuhr selbständig mit dem Fahrrad auf dem Gehweg. Irgendeine Besonderheit, die zu Gefährdungen hätte führen können, ist bislang nicht ersichtlich. In einem solchen Fall bedeutet es eine Überspannung der Sorgfaltspflichten des Kraftfahrers, ohne weitere Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung von ihm zu verlangen, vorsorglich die Geschwindigkeit zu verringern oder das Kind ständig im Auge zu behalten.

Falls das Berufungsgericht bei der hiernach erforderlichen weiteren Sachprüfung erneut ein schuldhaftes Verhalten des Pkw-Fahrers für erwiesen erachten sollte, wird es zu berücksichtigen haben, dass sich aus dem Gutachten des Sachverständigen bisher nicht entnehmen lässt, der Fahrer habe durch eine rechtzeitige Reaktion den Unfall zeitlich und örtlich vermeiden können. Dabei wird jedoch zu beachten sein, dass der für eine Haftung erforderliche Ursachenzusammenhang schon dann anzunehmen ist, wenn der Unfall bei ordnungsgemäßer Fahrweise des Pkw zu deutlich geringeren Schäden des Kl. geführt hätte (vgl. Senatsurteil NJW 2000, 3069 m. w. N.).

2. Zutreffend hat das Berufungsgericht dagegen auch angenommen, dass die Bekl. den Beweis der Unabwendbar nach § 7 Abs. 2 StVG nicht geführt und dass sie deshalb für die von dem Unfallfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr einzustehen haben (§ 7 Abs. 1 StVG). Ein unabwendbares Ereignis liegt nur dann vor, wenn es auch bei äußerst möglicher Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können (vgl. BGHZ 117, 337, 340). Die tatsächlichen Voraussetzungen dieses Haftungsausschlusses haben die Bekl. nicht bewiesen. Das Berufungsgericht hat im Anschluss an die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen festgestellt, es sei eine Geschwindigkeit des Pkw zwischen 50 und 70 km/h wahrscheinlich. Kommt hiernach eine Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO) in Betracht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Fahrzeugführer jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet habe.

Da das angefochtene Urteil auf eine schuldhafte Verursachung des Unfalles durch den Geschäftsführer der Bekl. 1 gestützt ist und diese Beurteilung aus den dargelegten Gründen keinen Bestand haben kann, wird das Berufungsgericht - gegebenenfalls nach weiterer Beweiserhebung - im Rahmen der erneuten Sachprüfung die beiderseitigen Verursachungsanteile nach §§ 254 Abs. 1 BGB, 9 StVG abzuwägen haben. Dabei wird zu beachten sein, dass die Abwägung nach den Grundsätzen der Rspr. (vgl. Senatsurteil VersR 1990, 535, 536) - entgegen der Ansicht der Revision nur in Ausnahmefällen dazu führen kann, eine etwa allein verbleibende Betriebsgefahr des Kfz hinter das Verschulden Kindes zurücktreten zu lassen.



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