Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 05.07.2006 - IV ZR 153/05 - Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 18-Punkte-Grenze infolge wiederholter Verstöße

BGH v. 05.07.2006: Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 18-Punkte-Grenze infolge wiederholter Verstöße und Rechtsschutzfall


Der BGH (Urteil vom 05.07.2006 - IV ZR 153/05) hat entschieden:
Bei einer Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 18-Punkte-Grenze infolge wiederholter Verstöße gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG i. V. mit § 46 Abs. 1 FeV) ist jede einzelne Verkehrsordnungswidrigkeit oder Straftat ein selbständiger Rechtsschutzfall. Anspruch auf Deckungsschutz hat der Versicherungsnehmer nur, wenn der erste der für die Fahrerlaubnisentziehung maßgeblichen Verstöße innerhalb des versicherten Zeitraumes liegt (§ 4 (2) Satz 2 ARB 94).


Siehe auch Rechtsschutzversicherung


Zum Sachverhalt: Der Kläger, von Beruf Kraftfahrer und bis November 2003 im Besitz einer Fahrerlaubnis auch für Lastkraftwagen, nimmt die Beklagte aus einer bei ihr am 18. Juni 1999 genommenen Rechtsschutzversicherung in Anspruch, in der er als Lebenspartner der Versicherungsnehmerin gemäß § 26 der Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 94) mitversichert ist.

Am 10. März 1999 und am 27. Mai 1999 sowie in vier weiteren Fällen ergingen gegen den Kläger wegen verschiedener Verkehrsordnungswidrigkeiten Bußgeldbescheide. In einem weiteren Fall verurteilte ihn das Amtsgericht wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. In allen sieben Fällen wurden im Verkehrszentralregister beim Kraftfahrtbundesamt Punkte nach § 4 StVG eingetragen. Mit dem letzten Bußgeldbescheid vom 2. September 2003 erhöhte sich der Punktestand des Klägers auf insgesamt 18 Punkte. Daraufhin entzog ihm die Straßenverkehrsbehörde mit Verfügung vom 13. November 2003 die Fahrerlaubnis für die Dauer von sechs Monaten und ordnete die unverzügliche Abgabe des Führerscheins an. Die Bitte des Klägers um Deckungszusage für das Verwaltungsverfahren wie auch für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 1. Dezember 2003 und (erneut) vom 5. Februar 2004 unter Hinweis auf § 4 (1) c i.V. mit § 4 (2) Satz 2 ARB 94 ab, weil er zwei der zur Eintragung von Punkten führende Verkehrsordnungswidrigkeiten vor Vertragsabschluß begangen habe.

Das Amtsgericht hat die Klage auf Feststellung der Eintrittspflicht der Beklagten abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen Revision verfolgte der Kläger sein Feststellungsbegehren weiter.

Die Revision blieb erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Zwar umfasst die von der Lebenspartnerin des Klägers bei der Beklagten gehaltene Rechtsschutzversicherung gemäß § 26 (3) ARB 94 in sachlicher Hinsicht den Verwaltungs-Rechtsschutz in Verkehrssachen und damit auch die Wahrnehmung rechtlicher Interessen des gemäß § 26 (1) ARB 94 mitversicherten Klägers im Zusammenhang mit der Entziehung der Fahrerlaubnis. Das Berufungsgericht hat jedoch zu Recht den vorvertraglichen Eintritt des Versicherungsfalles bejaht.

1. Bei einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG i.V. mit § 46 Abs. 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV), die auf wiederholten Verstößen gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze beruht, ist jede einzelne Verkehrsordnungswidrigkeit oder Straftat ein selbständiger Rechtsschutzfall im Sinne von § 4 (1) c ARB 94. Der Versicherungsnehmer hat in einem solchen Fall nur dann Anspruch auf Deckungsschutz, wenn der erste der für die Entziehung der Fahrerlaubnis maßgeblichen Verstöße innerhalb des versicherten Zeitraumes liegt. Das ergibt die Auslegung von § 4 (1) c i.V. mit § 4 (2) Satz 2 ARB 94, bei der es auf die Sichtweise des durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse ankommt (BGHZ 123, 83, 85 und ständig).

a) § 4 ARB 94 enthält für den Bereich der Rechtsschutzversicherung eine Definition des Versicherungsfalles im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 VVG (Rechtsschutzfall), der sich in versicherter Zeit ereignet haben muss. Gemäß § 4 (1) c ARB 94 besteht danach Anspruch auf Rechtsschutz nach Eintritt eines Rechtsschutzfalles von dem Zeitpunkt an, in dem der Versicherungsnehmer oder ein anderer einen Verstoß gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften begangen hat oder begangen haben soll. Wie der Senat bereits entschieden hat, kann der durchschnittliche Versicherungsnehmer dem Wortlaut sowie dem erkennbaren Sinn und Zweck dieser Klausel entnehmen, dass für die Annahme eines den Rechtsschutzfall auslösenden Verstoßes im Sinne der Klausel jeder tatsächliche, objektiv feststellbare Vorgang ausreicht, der den Keim eines Rechtskonflikts in sich trägt (Urteil vom 28. September 2005 - IV ZR 106/04 - VersR 2005, 1684 unter I 3 b; vgl. auch Senatsurteil vom 14. März 1984 - IVa ZR 24/82 - VersR 1984, 530 unter I 3 e).

Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 FeV setzt die behördlich angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis infolge Erreichens der 18-Punkte-Grenze wiederholte, also gemäß § 20 OWiG in Tatmehrheit stehende Verstöße gegen verkehrsrechtliche bzw. strafrechtliche Vorschriften voraus. Für den um Verständnis bemühten Versicherungsnehmer wird sich im vorliegenden Fall daher jeder einzelne der für die Entziehung der Fahrerlaubnis erheblichen Verkehrsverstöße gleichermaßen als ein solcher objektiv feststellbarer, tatsächlicher Vorgang darstellen. Jede Verkehrsordnungswidrigkeit ist somit ein selbständiger Rechtsschutzfall im Sinne von § 4 (1) c ARB 94.

b) Der Kläger begehrt im vorliegenden Fall Deckungsschutz, weil er gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 18-Punkte-Grenze infolge wiederholter Verstöße gegen straßenverkehrsrechtliche bzw. strafrechtliche Vorschriften vorgehen will. Die beabsichtigte Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen im Zusammenhang mit dem Entzug der Fahrerlaubnis ist also dadurch gekennzeichnet, dass dem Rechtsschutzfall, für den er Deckung begehrt, bereits mehrere Rechtsschutzfälle vorausgegangen sind, die den Rechtsschutzfall "Entziehung der Fahrerlaubnis" erst ausgelöst haben. Das führt zur Anwendung des § 4 (2) Satz 2 ARB 94. Danach aber hängt die Frage, ob die Beklagte Deckung zu gewähren hat, davon ab, ob der erste der für die Fahrerlaubnisentziehung maßgeblichen Verstöße innerhalb des versicherten Zeitraumes liegt.

Das Berufungsgericht hebt zutreffend hervor, dass sich dieser Teil der Klausel schon dem Wortlaut nach auch auf die Fälle des Entzugs der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 18-Punkte-Grenze bezieht, zumal das Bedingungswerk der ARB 94 im Unterschied zu den ARB 75 insoweit keine Sonderregelung enthält. Auf die zur Auslegung von § 14 ARB 75 in Fällen des Fahrerlaubnisentzugs in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen unterschiedlichen Auffassungen kommt es deshalb hier nicht mehr an (vgl. dazu Obarowski in Beckmann/Matusche-Beckmann [Hrsg.], Versicherungsrechts-Handbuch 2004 § 37 Rdn. 379 f.; Schirmer, DAR 1992, 418, 425, jeweils m. Nachw. zum Meinungsstand). Gegen die vom Kläger besorgten nachteiligen Folgen der vom Senat vorgenommenen Auslegung wird der Versicherungsnehmer durch § 4 (2) Satz 2 Halbs. 2 ARB 94 hinreichend geschützt, wonach jeder Rechtsschutzfall außer Betracht bleibt, der länger als ein Jahr vor Beginn des Versicherungsschutzes für den betroffenen Gegenstand der Versicherung eingetreten ist (ebenso Maier, RuS 1995, 361, 364). Die Ansicht der Revision, es müsse regelmäßig auf die letzte verkehrsordnungsrechtliche Zuwiderhandlung abgestellt werden, weil erst auf deren Grundlage das Entziehungsverfahren eingeleitet werde, erweist sich im Hinblick auf den Regelungszusammenhang von § 4 (1) c und § 4 (2) ARB 94 als nicht tragfähig.

2. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ergingen die ersten beiden hier maßgeblichen Bußgeldbescheide gegen den Kläger am 10. März und am 27. Mai 1999, also im ersten Jahr vor Abschluss des Versicherungsvertrages mit der Beklagten am 18. Juni 1999. Es hat daher mit Recht angenommen, dass dem Kläger wegen Vorvertraglichkeit kein Anspruch auf Versicherungsleistungen gegen die Beklagte zusteht. ..."