Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Zum anthropologisch-biometrischen Begutachtungsverfahren zur Täteridentifikation aus Fotos und Videos

Niemitz NZV 2006, 130ff: Zum anthropologisch-biometrischen Begutachtungsverfahren zur Täteridentifikation aus Fotos und Videos


Siehe auch Radarmessverfahren und Geschwindigkeitsverstöße - Nachweis - standardisierte Messverfahren




C. Niemitz, Zur Methodik der anthropologisch-biometrischen Begutachtung einzelner Tatfoto- und Videoaufzeichnungen, NZV 2006, 130 ff. (131 f.) stellt das Verfahren bei der Begutachtung wie folgt dar:
  1. In einer Verfahrensanalyse wird zunächst geklärt, ob das vorliegende Lichtbild der Überwachungskamera für eine erfolgreiche Begutachtung überhaupt aussichtsreich ist. Könnte dies möglicherweise der Fall sein, so sollte sich der Gutachter in den meisten Fällen nicht auf die Computer-Thermoprints der Akte verlassen, da es sich hierbei um qualitätsgeminderte, also oftmals anfechtbare Abbildungen handelt. Bei weitem nicht immer ist das Gesicht der Person auf dem Lichtbild derart charakteristisch und gleichzeitig das Foto der Überwachungskamera dermaßen gut, dass auch eine Begutachtung des Thermodrucks möglich ist. Ist ein Negativ vorhanden, so sollte ein genügend vergrößerter Abzug vom ganzen Originalnegativ und von einer Herausvergrößerung der Windschutzscheibenbreite des PKW von diesem Negativ hergestellt werden. Hierbei sind digitalisierte Abzüge zu vermeiden, da die Pixelstruktur mit jener der Filmkörnung interferiert und so den Informationsgehalt des Fotos mindert; die einzige und beste Informationsquelle ist das Dunkelkammerfoto, also der auf nassem Weg hergestellte Abzug, da hier bei sorgfältiger Herstellung kein Informationsverlust auftritt.


  2. Bei einem Einbestellungstermin wird der Betr. aus exakt der gleichen Richtung wie das Lichtbild der Messkamera abgelichtet. Da der Betr. oft der Halter des PKW ist, kommt er oft in dem zum Tatzeitpunkt fotografierten Fahrzeug. Dann sollte er auch im PKW sitzend aus der gleichen Richtung fotografiert werden, da auch dies Anhaltspunkte u. a. für einen Ausschluss der infrage kommenden Person geben kann.

  3. Im Gutachten werden zunächst alle ausschließlich am Tatfoto erkennbaren Merkmale erfasst. Die simultan-vergleichende Erfassung der Merkmale an beiden Lichtbildern erscheint dem Verf. fehlerhaft, weil der Gutachter möglicherweise unbewusst angeregt wird, auf dem Lichtbild des Betr. gefundene Merkmale auf dem Vergleichslichtbild zu suchen. Bei der Begutachtung müssen alle möglichen Voreingenommenheiten des Sachverständigen jedoch ausschließbar bleiben. Von dieser Regel dürfen lediglich Merkmale ausgenommen werden, die nachträglich auf dem Lichtbild des Betr. entdeckt werden, und die zu einem Ausschluss einer Identität beitragen können.

  4. Es entspricht nicht dem Standard aktueller Forderungen an die Wissenschaft, wenn ein Gutachter es bei der Feststellung von in beiden Vergleichslichtbildern übereinstimmenden Merkmalen und deren möglicherweise charakterisierenden Anzahl belässt. Vielmehr kann gefordert werden, dass der Sachverständige jedes erkennbare Merkmal gewichtend wertet.

  5. Dieses Gewicht aller zweifelsfrei erkennbaren Merkmale, das die Beweiskraft des Gesamtgutachtens ergibt, kann nach heutigem Anspruch an eine Wissenschaft nicht nur auf der subjektiven Erfahrung des Gutachters beruhen. Der Gutachter kann das zu erzielende Ergebnis seiner Analyse dadurch ergänzen und zu einem großen Teil objektivieren, indem er für eine große Zahl von Merkmalen eine für einen geografischen Raum repräsentative Datenbank anlegt und auswertet. Diese Erhebung von Daten und deren Auswertung sollte er durch eine zweite Person wiederholen lassen, um außer der Repräsentativität auch das zweite Wissenschaftskriterium der Reliabilität gewährleisten zu können.

    Hat der Gutachter, um ein Beispiel zu wählen, seine Daten in München und Umgebung erhoben, wird er sie, etwas eingeschränkt, nicht nur in Bayern, sondern auch für andere Teile Deutschlands verwenden können.

  6. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein entsprechend vorsichtiger also erhöhter Ansatz der in die anschließende Berechnung eingehenden Fehlerwerte. Die Beweiskraft, also der Beitrag des Einzelmerkmals einschließlich seines Fehlerwertes zum Endergebnis, ist eng an die Häufigkeit des Merkmals in der Bevölkerung gekoppelt. Diese Vorgehensweise kann man leicht nachvollziehbar an zwei Merkmalen exemplifizieren.

    Der erste Untersucher erhebt repräsentativ z. B. den Anteil der männlichen Brillenträger mit 34,9%. Sind sowohl die Person auf dem Lichtbild der Messkamera als auch der Betr. Brillenträger, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällige andere Person als der Betr. den PKW gefahren hat, etwa ein Drittel, konkret hier etwa p = 0,35. Im gedachten Beispiel findet dieser Untersucher bei Männern eine Häufigkeit subjektiv schmaler Nasen von 9,7%; die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses einer schmalen Nase ist aufgerundet etwa p = 0,1. Findet ein zweiter Untersucher 32,3% für die Häufigkeit von männlichen Brillenträgern und beispielsweise 11,9% für den Anteil der Männer mit schmaler Nase, so erhalten wir hiermit bei zwei repräsentativen Untersuchungen einen Hinweis auf die Fehlerspanne. Die schmalnasigen männlichen Brillenträger machen nun nur noch etwa ein Zehntel von einem Drittel der männlichen Bevölkerung aus, also rund 3%. Hierzu ist jedoch noch ein Fehlerwert zu ermitteln.

  7. Wegen der Subjektivität der Klassifizierung aber, beispielsweise als schmalnasig, ist auch bei Gutachten in der Region der repräsentativen Untersuchungen, ein Fehlerwert anzusetzen, der über die Differenz des Befundes beider Untersuchungen in der Einschätzung hinausgeht.

    Bei dem mit einem diskreten Wert zu versehenen Merkmal Brillenträger ist der Fehlerwert gering; unrealistisch hoch wäre für ganz Deutschland sicherlich ein Prozentsatz von 40% männlicher Brillenträger. Wählt der Gutachter also bei Übereinstimmung des Merkmals diesen hohen Wahrscheinlichkeitswert p 0,4, kann er mit Sicherheit davon ausgehen, dass er wissenschaftlich betrachtet keinen zu kleinen Fehlerwert angesetzt hat. Wenn nun die selben unabhängig ermittelnden Untersucher den Anteil schmalnasiger Männer etwa zwischen 9 1/2 und 12% ermittelten, so wird man trotz recht übereinstimmender Einschätzungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitswert von 20%, also von p = 0,2, den notwendigen Kautelen mit Sicherheit voll entsprechen. Die Kombination beider Merkmale hätte also die real geschätzte Wahrscheinlichkeit von etwa 3% und die mit einem Sicherheitsfehler behaftete Wahrscheinlichkeit von p = 0,4 x 0,2 = 0,08, also 8%. Dies ist die Wahrscheinlichkeit, mit der die auf dem Messlichtbild abgebildete Person und auch der Betr. zufällig jeweils beide Merkmale zeigt.

    Mit jedem hinzukommenden übereinstimmenden Kriterium sinkt die Wahrscheinlichkeit zufälliger Übereinstimmung entsprechend dem Beweiswert des jeweiligen Merkmals. Sind eine ganze Anzahl von Kennzeichen trotz eingeschränkter Bildqualität noch zweifelsfrei zu erkennen, und stimmen alle überein, so kann der Sicherheitswert für eine zufällige Übereinstimmung so niedrig werden, dass ein Zufall mit sehr hoher Sicherheit verworfen werden kann.

  8. Dieses Vorgehen entspricht dem Prinzip nach exakt den biometrischen Verfahren, wie sie bei der Identifikation von beispielsweise Irisbildern, aber auch bei den Wahrscheinlichkeitsrechnungen angewandt werden, die den DNA-Identifikationsanalysen unterliegen. Die hier dargelegte Methode ist der DNA-Analyse in ihrer Beweiskraft insofern unterlegen, als ihre Reproduktionsfähigkeit geringer ist; kompensatorisch werden jedoch unrealistisch hohe Fehlerwerte angesetzt, wie sie bei genetischen Untersuchungen unüblich sind. Andererseits ist die hier angewandte Methodik jener der DNA-Analysen insofern überlegen, als hier die Inzidenzen wenigstens einer größeren Anzahl von Merkmalen für eine Referenzgrundgesamtheit dem Gutachter, wie oben dargelegt, bekannt sind; für die meisten Allele ist die Inzidenz in der Population nämlich kaum oder gar nicht bekannt. Die DNA-Analyse muss also unabhängig von der Repräsentativität von relativen Häufigkeiten (Frequenzen) arbeiten, was sich umgekehrt als Stärke der hier vorgestellten anthropologisch-morphognostischen Analyse erweist.


Datenschutz    Impressum