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OLG Stuttgart Urteil vom 26.10.2006 - 13 U 74/06 - Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot begründet eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr

OLG Stuttgart v. 26.10.2006: Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot begründet eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr


Das OLG Stuttgart (Urteil vom 26.10.2006 - 13 U 74/06) hat entschieden:
Kollidiert ein alkoholbedingt absolut fahruntüchtiger Fahrer infolge einer wesentlichen Überschreitung der Mittellinie mit einem Fahrzeug des Gegenverkehrs, dessen Fahrer das Rechtsfahrgebot nicht beachtet hat, muss sich der Fahrer bzw. Halter des entgegenkommenden Fahrzeugs wegen dieses Verkehrsverstoßes trotz groben Verschuldens des alkoholisierten Fahrers einen Mitverschuldensanteil von 20 % anrechnen lassen.


Siehe auch Das Rechtsfahrgebot und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Unstreitig hat der Kläger den Unfall verschuldet, weil er sein Fahrzeug aufgrund alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit teilweise auf die Gegenfahrbahn gelenkt hat und dadurch den Zusammenstoß verursacht hat (§ 823 BGB).

b) Der Versicherungsnehmer der Beklagten hat den Unfall mitverschuldet (§ 254 BGB).

aa) Der Versicherungsnehmer der Beklagten hat gegen das Rechtsfahrgebot gem. § 2 Abs. 2 StVO verstoßen, weil er unstreitig hart an der Mittellinie gefahren ist. Bei Beachtung des Rechtsfahrgebotes durch den Versicherungsnehmer der Beklagten wäre der Unfall vermieden worden.

Gem. § 2 Abs. 2 StVO ist grundsätzlich möglichst weit rechts zu fahren. Dies gilt erst recht im Falle von Gegenverkehr. „Möglichst weit rechts“ ist allerdings kein starrer Begriff. Vielmehr lässt er dem Kraftfahrer einen gewissen Beurteilungsspielraum, solange er sich soweit rechts hält, wie es vernünftig ist. Zu berücksichtigen ist die Örtlichkeit, die Fahrbahnbreite, die Fahrbahnbeschaffenheit, die Fahrzeugart, die Geschwindigkeit und die Sicht sowie etwaige Dunkelheit. Im allgemeinen kann nach rechts ein Sicherheitsabstand von einem Meter eingehalten werden (OLG Frankfurt, RuS 1996, Seite 18).

Die Straße war an der Unfallstelle 6,90 m breit. Für den Versicherungsnehmer der Beklagten verblieb auf seiner Fahrbahn eine Breite von 3,95 m. Da er hart an der Mittellinie gefahren ist und sein Fahrzeug lediglich 1,67 m breit war, war er im Unfallzeitpunkt mehr als zwei Meter vom rechten Fahrbahnrand entfernt. Tatsachen für die Rechtfertigung dieser verkehrswidrigen Fahrweise sind weder vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich.

Der Sachverständige xxx ist in seinem im Wege des Urkundsbeweises verwertbaren Gutachten im Strafverfahren unter Berücksichtigung der ebenfalls im Wege des Urkundsbeweises verwertbaren Angaben der Zeugin ... zu dem Ergebnis gekommen (Bl. 156 d. Strafakten), daß die Missachtung des Rechtsfahrgebotes mitursächlich für den Zusammenstoß war. Hätte der Versicherungsnehmer der Beklagten einen Abstand von einem Meter zum rechten Fahrbahnrand eingehalten, wäre der Unfall vermieden worden. Denn der Kläger hatte die Mittellinie im Zeitpunkt des Unfalles lediglich um 40 cm überschritten.

bb) Ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO liegt dagegen nicht vor.

Zwar hat der Versicherungsnehmer der Beklagten weder eine Ausweichbewegung noch eine Bremsung ausgeführt. Der Kläger hat jedoch nicht nachgewiesen, daß dies auf einer unzureichenden Reaktion des Versicherungsnehmers der Beklagten beruht.

Der Beweis des ersten Anscheins hierfür infolge der fehlenden Ausweichbewegung bzw. Bremsung kommt dem Kläger dabei nicht zugute. Die Beklagte hat schlüssig dargelegt, daß angesichts des Unfallablaufs nicht davon ausgegangen werden kann, daß dem Versicherungsnehmer der Beklagten nach allgemeiner Lebenserfahrung typischerweise ausreichend Zeit verblieb, auf das Fahrverhalten des Klägers zu reagieren.

Der Kläger trägt damit wieder die volle Beweislast für eine unzureichende Reaktion des Versicherungsnehmers der Beklagten. Zwar bezieht er sich hierzu auf die Vernehmung der Zeugin ... sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Die Zeugin ... hat jedoch in ihrer polizeilichen Vernehmung (Bl. 56 ff. der Strafakten), auf die sich der Kläger ausdrücklich bezieht (Bl. 4 d.A.) und die im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden kann, im Ergebnis bekundet, daß die beiden Fahrzeuge zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Ausscherbewegung des PKW des Klägers wahrgenommen habe, nur noch 20 m voneinander entfernt gewesen seien. Angesichts dieser Sachlage hat für den Versicherungsnehmer der Beklagten unter Berücksichtigung der gefahrenen Geschwindigkeiten von knapp unter 100 km/h (Versicherungsnehmer der Beklagten) bzw. mindestens 100 km/h (Kläger) und unter Berücksichtigung der Reaktionszeit keine Möglichkeit mehr bestanden, zu reagieren. Der Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens ist ungeeignet, weil keine ausreichenden Anknüpfungstatsachen für die Erstellung eines entsprechendes Gutachtens bestehen. Im übrigen stellt der Senat kraft eigener Sachkunde fest, daß bei einem Unfallablauf in dem von der Zeugin ... dargestellten zeitlichen und räumlichen Zusammenhang eine Reaktion des Versicherungsnehmers der Beklagten keinesfalls möglich ist.

c) Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile führt zu einer Haftung der Beklagten in Höhe von 20 %.

Zwar fällt der Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Klägers ganz erheblich ins Gewicht.

Er befand sich mit etwa 40 cm der Breite seines Fahrzeugs auf der Gegenfahrbahn. Dadurch beschwor er ein erhebliches Risiko eines Unfalles herauf. Darüber hinaus hat er den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt. Allein schon die Tatsache, daß ein Fahrzeugführer ohne verkehrsbedingten Grund auf die Gegenfahrbahn gerät, lässt den Schluß zu, daß der Fahrer die ihn treffenden Sorgfaltsanforderungen in einem besonders schweren Maß verletzt hat, so daß sein Verhalten als grob fahrlässig anzusehen ist (OLG Frankfurt aaO).

Zudem ist erschwerend zu berücksichtigen, daß der Versicherungsnehmer der Beklagten sein Fahrzeug im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit lenkte. Die Blutalkoholkonzentration betrug bei Fahrtantritt 1,49 ‰. Wer sich aber in diesem Zustand an das Steuer seines Fahrzeugs setzt und dadurch einen Unfall verursacht, handelt grob fahrlässig. Sein Verschulden ist als besonders schwerwiegend einzustufen.

Trotz dieser besonders schwerwiegenden Verstöße des Klägers ist es aber nicht gerechtfertigt, bei der Abwägung das Verschulden des Versicherungsnehmers der Beklagten völlig außer Betracht zu lassen. Sein Verursachungsbeitrag kann nicht als völlig unbedeutend angesehen werden. Immerhin ist er hart an der Mittellinie gefahren.

Allerdings ist eine Quote von 70 : 30 nicht gerechtfertigt.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Betriebsgefahr desjenigen, der ohne einen Verstoß gegen § 2 Abs. 2 StVO auf seiner Fahrbahnhälfte fährt, bei grob fahrlässigem Verhalten des Unfallgegners außer Betracht zu lassen ist. Denn ihm kann im Rahmen einer Abwägung nur nach Maßgabe eines Idealfahrers ein Verursachungsbeitrag angelastet werden. Wäre mithin dem Versicherungsnehmer der Beklagten ein Verstoß gegen § 2 Abs. 2 StVO nicht vorzuwerfen, müsste der Kläger allein für seinen Schaden aufkommen.

Angesichts dieser Rechtslage kann eine geringfügige Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Versicherungsnehmers der Beklagten nicht dazu führen, dem Beklagten 30 % seines Schadens aufzuerlegen. Eine Schadensteilung im Verhältnis 80 : 20 erscheint daher angemessen (OLG Frankfurt aaO). ..."