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BGH Urteil vom 17.03.1992 - VI ZR 62/91 - Kein Unabwendbarkeitsbeweis bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit

BGH v. 17.03.1992: Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet keinen Mitverschuldensvorwurf, spricht jedoch gegen die Unabwendbarkeit eines dadurch mitverursachten Unfalls


Die Nichteinhaltung der Richtgeschwindigkeit begründet keinen Mitverschuldensvorwurf. Allerdings kann derjenige, der sich nicht an die Richtgeschwindigkeit gehalten hat, nicht den Unabwendbarkeitsbeweis im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG alte Fassung (jetzt § 17 Abs. 3 StVG) führen. So hat der BGH (Urteil vom 17.03.1992 - VI ZR 62/91) entschieden:
Wird ein Kraftfahrer, der die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat, in einen Unfall verwickelt, so kann er sich, wenn er auf Ersatz des Unfallschadens in Anspruch genommen wird, nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls i. S. v. StVG § 7 Abs 2 berufen, es sei denn, er weist nach, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.


Siehe auch Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und Stichwörter zum Thema Geschwindigkeit


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 BGB, § 3 PflVG mangels eines Verschuldens des Erstbeklagten verneint, weil die von ihm gefahrene Geschwindigkeit nach Maßgabe von § 3 StVO nicht übersetzt gewesen sei, er mit dem groben Verkehrsverstoß des BMW-Fahrers nicht habe rechnen müssen und er in der durch diesen geschaffenen Notlage nicht falsch reagiert habe. Hiergegen wendet sich die Revision auch nicht.

Die Erwägungen dagegen, mit denen das Berufungsgericht auch eine Einstandspflicht aus dem Gesichtspunkt der Halterhaftung des Erstbeklagten aus § 7 StVG ablehnt, weil es den Unabwendbarkeitsbeweis nach § 7 Abs. 2 StVG als geführt erachtet, halten den Angriffen der Revision nicht stand. Dasselbe gilt für die Hilfserwägung, dass auch die Abwägung der Verursachungsbeiträge zur Verneinung der Klageansprüche aus § 7 Abs. 1 StVG führen würde.

1. Der Unfall ist für den Erstbeklagten kein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG gewesen. Mit seiner gegenteiligen Wertung hat das Berufungsgericht dem der Regelung zugrundeliegenden Haftungsmaßstab und der Bedeutung der Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung vom 21. November 1978 (BGBl. I 1824) für die Auslegung dieser Vorschrift nicht Rechnung getragen.

a) Der Begriff "unabwendbares Ereignis" im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 1 StVG meint, wofür allerdings bei isolierter Betrachtung der Wortsinn sprechen könnte, zwar nicht absolute Unvermeidbarkeit des Unfalls, sondern, wie sich aus § 7 Abs. 2 Satz 2 StVG ergibt, ein schadenstiftendes Ereignis, das auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört jedoch ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S. von § 276 BGB hinaus (vgl. Senatsurteil vom 23. September 1986 - VI ZR 136/85 - VersR 1987, 158, 159 m.w.N.). Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, muss sich wie ein "Idealfahrer" verhalten haben (vgl. Senatsurteile vom 28. Mai 1985 - VI ZR 258/83 - VersR 1985, 864 und vom 17. Februar 1987 - VI ZR 75/86 - VersR 1987, 1034, 1035, vgl. ferner BGH, Urteil vom 21. Februar 1985 - III ZR 205/83 - NJW 1985, 1950, 1951 m.w.N.). Denn die Haftung aus § 7 StVG ist nicht wie die Haftung aus § 823 BGB Haftung aus Verhaltensunrecht, sondern sie bezweckt den Ausgleich von Schäden aus den Gefahren auch eines zulässigen Kraftfahrzeugbetriebs. § 7 Abs. 2 StVG stellt deshalb nicht einem verkehrswidrigen Verhalten das im Straßenverkehr vom Kraftfahrer zu verlangende gegenüber, sondern sein Maßstab hat die Gefahren aus dem Betrieb des Kraftfahrzeugs, für die die Gefährdungshaftung eintreten soll, auszugrenzen gegenüber fremden Gefahrenkreisen, für die, wenn sie sich im Schadensereignis aktualisieren, die Gefährdungshaftung nach ihrem Sinn und Zweck nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Die dazu von der Rechtsprechung benutzte Ausrichtung an dem Verhalten eines "Idealfahrers" umschreibt personifizierend dieses Abgrenzungsmerkmal.

Der Begriff des unabwendbaren Ereignisses im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG verlangt damit eine sich am Schutzzweck der Gefährdungshaftung für den Kraftfahrzeugbetrieb ausrichtende Wertung (vgl. Senat BGHZ 105, 65, 69). Diese Wertung hat unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände zu erfolgen (vgl. Senatsurteil vom 24. März 1964 - VI ZR 12/63 - VersR 1964, 777, 778). Dabei darf sich die Prüfung aber nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein "Idealfahrer" reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein "Idealfahrer" überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre; der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr (zu spät) "ideal" verhält (vgl. Krumme/Steffen, StVG, 1977, § 7 Rdn. 25). Damit verlangt § 7 Abs. 2 StVG, dass der "Idealfahrer" in seiner Fahrweise auch die Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden.

b) Solche Erkenntnisse haben in der Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung Ausdruck gefunden. Allerdings beschränkt sich diese Verordnung auf die Empfehlung, u.a. auf Autobahnen auch bei günstigen Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen nicht schneller als 130 km/h zu fahren. Sie ist damit anders als § 3 StVO keine Vorschrift für das im Straßenverkehr erforderliche Fahrverhalten, an deren Verletzung sich unmittelbare Sanktionen knüpfen. So hat die Rechtsprechung - soweit ersichtlich - bisher einhellig entschieden, dass die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit allein einen Schuldvorwurf noch nicht begründet (vgl. OLG Hamm, NZV 1992, 30; OLG Köln, VersR 1991, 1188, 1189; KG, VM 1985, 63, 64; OLG Karlsruhe, DAR 1988, 163; vgl. ferner OLG Saarbrücken, VM 1987, 54, 55). Das Fehlen unmittelbarer Sanktionen bedeutet indes nicht absolute rechtliche Irrelevanz auch für das Haftungsrecht. Vielmehr kommt in der Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung Erfahrungswissen zum Ausdruck, das bei der Auslegung des Begriffs des unabwendbaren Ereignisses mit zu berücksichtigen ist (vgl. BGHZ 103, 338, 341 f. zum Empfehlungscharakter von DIN-Normen). Die Verordnung beruht auf der Ermächtigung des § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG; schon daraus ergibt sich, dass sie der Sicherheit des Verkehrs zu dienen bestimmt ist. Dies findet auch in dem Schlussbericht einer Projektgruppe aus Wissenschaftlern Ausdruck, der dem Verordnungsgeber vorlag (VkBl 1978, 478). Dieser gründet vor allem auf der Erkenntnis, dass die Einhaltung solcher ermäßigten Geschwindigkeit auf Autobahnen auch bei günstigen Orts- und Verkehrsbedingungen nachhaltig zur Vermeidung von Unfällen, vor allem von solchen mit schweren Folgen, beiträgt (vgl. den allerdings auf die Auswirkungen einer Richtgeschwindigkeit im Vergleich zu einer Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h auf Autobahnen beschränkten Bericht der Projektgruppe "Autobahngeschwindigkeiten", herausgegeben von der Bundesanstalt für Straßenwesen, 1977). Die Empfehlung des Verordnungsgebers stellt sich damit trotz ihrer fehlenden rechtlichen Verpflichtungswirkung als "Vernunftaufruf" und Appell an die Verantwortung des Verkehrsteilnehmers dar (vgl. Jagusch, NJW 1974, 881, 882 f; Begründung des Bundesrates zur Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung vom 13. März 1974, VkBl 1974, 225), den ein Kraftfahrer, der den erhöhten Anforderungen an einen "Idealfahrer" genügen will, nicht unbeachtet lassen darf. Die Empfehlung strebt zur Herabsetzung der Betriebsgefahren des Kraftfahrzeugs auf Autobahnen die Bildung eines allgemeinen Verkehrsbewusstseins an, dem der Kraftfahrer auch ohne Bestehen einer Höchstgeschwindigkeitsregelung Rechnung tragen soll. Nur wer die Richtgeschwindigkeit einhält, verhält sich als "Idealfahrer", wie ihn § 7 Abs. 2 StVG meint. Im Rahmen der Halterhaftung des § 7 StVG kann sich nur ein solcher Idealfahrer, wenn er durch das Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers auf der Autobahn in einen Unfall verwickelt wird, auf den Vertrauensgrundsatz berufen; wer schneller als 130 km/h fährt, vergrößert in haftungsrelevanter Weise die Gefahr, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellt, insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzt.

Dem steht nicht entgegen, dass die heutigen Kraftfahrzeuge aufgrund des technischen Entwicklungsstandes auch bei Geschwindigkeiten von mehr als 130 km/h einen gefahrlosen Betrieb ermöglichen. Auch kommt es nicht darauf an, dass der Ausbauzustand vieler Autobahnstrecken eine solche Geschwindigkeit gefahrlos zulässt. Entscheidend ist vielmehr, dass diese technischen Möglichkeiten ihre Begrenzung in den Eigenschaften und Fähigkeiten der Menschen finden, die sich ihrer bedienen. Nicht nur verlangen höhere Geschwindigkeiten ein überproportional zunehmendes Maß an Aufmerksamkeit, Voraussicht und Reaktionsvermögen des Fahrers, um auf die sich ihm stellenden Verkehrssituationen angepasst zu reagieren, sondern der Kraftfahrer hat auch zu bedenken, dass er sich auf der Autobahn gemeinsam mit anderen Verkehrsteilnehmern bewegt, deren Fähigkeiten häufig nicht ausreichen, die durch einen langen Brems- und Anhalteweg gekennzeichneten besonderen Gefahren zu erkennen und zu beherrschen, die von einem mit hoher Geschwindigkeit fahrenden anderen Fahrzeug ausgehen (vgl. OLG Hamm, DAR 1991, 455, 456; vgl. ferner Greger, NZV 1990, 269, 270). Die Erfahrung zeigt, dass immer wieder Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit eines sich schnell nähernden Fahrzeugs, zumal wenn es von hinten herankommt, nicht richtig einzuschätzen und sich hierauf bei einem Wechsel der Fahrstreifen nicht einzustellen vermögen. Dem muss der "Idealfahrer" in seiner Fahrgeschwindigkeit auch dann Rechnung tragen, wenn er selbst in der Lage ist, sein eigenes Fahrzeug bei der von ihm gefahrenen hohen Geschwindigkeit voll zu beherrschen. In einem Unfall, in den er auf diese Weise auf der Autobahn verwickelt wird, aktualisiert sich in aller Regel diejenige Betriebsgefahr, an die die Gefährdungshaftung des § 7 StVG anknüpft, selbst unter günstigen Verkehrsbedingungen und bei Beachtung aller übrigen Verkehrsvorschriften jedenfalls dann, wenn er die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschreitet, es sei denn, er weist nach, dass es auch bei Einhaltung dieser Geschwindigkeit zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.

c) Der Erstbeklagte kann nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht nachweisen, dass er langsamer als 183 km/h gefahren ist. Damit ist der Beweis der Einhaltung der Richtgeschwindigkeit nicht geführt. Dazu, ob der Unfall mit seinen schweren Folgen auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h geschehen wäre, hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen. ..."