Das Verkehrslexikon

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OLG Koblenz Urteil vom 17.10.2003 - 10 U 275/03 - Zur Annahme eines groben Verschuldens bei einem Rotllichtverstoß und zu subjektiven Entlastungsmomenten

OLG Koblenz v. 17.10.2003: Zur Annahme eines groben Verschuldens bei einem Rotllichtverstoß und zu subjektiven Entlastungsmomenten


Das OLG Koblenz (Urteil vom 17.10.2003 - 10 U 275/03) hat entschieden:
  1. Das Nichtbeachten einer roten Lichtzeichenanlage stellt wegen der damit verbundenen Gefahren in aller Regel ein objektiv grob fahrlässiges Fehlverhalten dar. Subjektive Besonderheiten können im Einzelfall im Sinne einer Entlastung von dem schweren Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ins Gewicht fallen. Die Berufung auf ein sog. Augenblicksversagen genügt allein noch nicht, um ein objektiv grob fahrlässiges Fehlverhalten zu entschuldigen.

  2. Der Vortrag des Versicherungsnehmers ist dahin zu prüfen, ob er Entschuldigungsgründe vorträgt, die über ein Augenblicksversagen hinausgehen. Solche Gründe können neben dem Heranfahren, Anhalten und Wiederanfahren bei Rotlicht aufgrund Fehldeutung eines im Blickfeld des Fahrers liegenden optischen Signals (hierzu jüngst BGH Report 2003, 428, 430 mit Anm. Reinert) auch die Fehlreaktion aufgrund eines akustischen Signals - Hupen eins anderen Fahrzeugs, dass der VN auf sich bezieht und er sich als erstes Fahrzeug an der Ampel subjektiv plötzlich mit einer Eilsituation konfrontiert sieht - sein.

Siehe auch Stichwörter zum Thema Rotlichtverstöße


Gründe:

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eines Verkehrsunfalls aus Vollkaskoversicherung in Anspruch.

Am 04.05.2002 fuhr der Kläger mit seinem Pkw Opel Zafira aus Richtung Bitburg kommend über die Kaiser-Wilhelm-Brücke auf dem rechten Fahrstreifen Richtung Trier-Innenstadt. Nach Überqueren der Brücke hielt er an der Kreuzung Martinsufer an der für seine Spur rotzeigenden Ampel als erstes Fahrzeug an. Der Kläger legte den ersten Gang ein und ließ die Kupplung durchgetreten. Als er sich auf eine Frage seiner auf der Rückbank sitzenden beiden Söhne (Kleinkindern) nach hinten gewandt hatte, hörte der Kläger ein Hupen aus der Schlange hinter sich. Daraufhin fuhr er, ohne noch einmal auf die Ampel zu blicken, über die Kreuzung. Dabei nahm er an, das Hupen hätte ihn darauf aufmerksam machen wollen, dass die Ampel zwischenzeitlich auf grün umgesprungen sei. Tatsächlich zeigte die Ampel aber immer noch rot. Im Kreuzungsbereich kam es zu einer Kollision mit einem vorfahrtsberechtigten Fahrzeug.

Der Kläger begehrt Ersatz seiner unfallbedingten Reparaturkosten abzüglich der vereinbarten Selbstbeteiligung in Höhe von 5.682,45 € nebst Zinsen. Er beruft sich auf ein Augenblicksversagen und bestreitet ein grob fahrlässiges Herbeiführen des Verkehrsunfalls.

Die Beklagte hat sich auf Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls berufen. Besondere Umstände, die das Versagen des Klägers in einem milderen Licht erscheinen ließen, seien nicht ersichtlich.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und Leistungsfreiheit des Versicherers wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls angenommen.


Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Berufung.


II.

Die Berufung ist begründet.

Dem Kläger steht gemäß §§ 121 Nr. 1 II lit. e) AKB, 13 Nr. 1 AKB ein Anspruch aus der Vollkaskoversicherung gegen die Beklagte zu. Die Beklagte kann sich nicht auf Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls berufen (§ 61 VVG).

Das Nichtbeachten einer roten Lichtzeichenanlage stellt wegen der damit verbundenen Gefahren in aller Regel ein objektiv grob fahrlässiges Fehlverhalten dar. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit muss es sich bei einem grob fahrlässigen Verhalten um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt (BGH - IV ZR 173/01 - BGH Report 2003, 428; BGH VersR 1997, 351).

Nach ständiger Rechtsprechung gilt für den Begriff der groben Fahrlässigkeit nicht ein ausschließlich objektiver, nur auf die Verhaltensanforderungen des Verkehrs abgestellter Maßstab. Vielmehr sind die Umstände zu berücksichtigen, welche die subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen (BGH NJW 1992, 2418). Subjektive Besonderheiten können im Einzelfall im Sinne einer Entlastung von dem schweren Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ins Gewicht fallen. Ein Augenblicksversagen genügt entgegen der weit verbreiteten obergerichtlichen Rechtsprechung (u.a. OLG Hamm, VersR 1990, 1230; VersR 1991, 223; VersR 1991, 1368; OLG Frankfurt, VersR 1.992, 230; OLG Köln, VersR 1991, 1266) allein noch nicht, um aus subjektiver Sicht ein objektiv grob fahrlässiges Fahrverhalten zu entschuldigen (BGHZ 119, 147, 149 = VersR 1992,1085). Dies hat der BGH in seiner jüngsten Entscheidung nochmals bekräftigt (BGH Urteil vom 29. Januar 2003 - IV ZR173/01 - BGH Report 2003,428, 430 mit Anm. Reinert). Es müssen noch weitere Umstände hinzukommen, die es rechtfertigen, im Einzelfall unter Abwägung aller Umstände den Schuldvorwurf geringer als grob fahrlässig zu bewerten (BGH NJW 1992, 2418). Der Ausdruck des Augenblicksversagens beschreibt nur den Umstand, dass der Handelnde für eine kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Die bei Regelverstößen im Straßenverkehr häufig typischen Fälle der unbewussten Fahrlässigkeit schließen die Möglichkeit der groben Fahrlässigkeit nicht für sich allein aus. Vielmehr müssen noch weitere Umstände hinzukommen, die den Grund des momentanen Versagens erkennen und in einem milderen Licht erscheinen lassen (vgl. hierzu auch OLG Koblenz NVersZ 20Q1, 419 = OLGR 2001, 400 = Zfs 2001, 415).

Das Überfahren einer Kreuzung birgt hohe Gefahren, insbesondere wenn sie für den Verkehrsteilnehmer durch rotes Ampellicht gesperrt ist. Deshalb sind auch besonders hohe Anforderungen an den Verkehrsteilnehmer zu stellen. Von einem durchschnittlich sorgfältigen Kraftfahrer kann und muss verlangt werden, dass er an die Kreuzung jedenfalls mit einem Mindestmaß an Konzentration heranfährt, das es ihm ermöglicht, die Verkehrssignale wahrzunehmen und zu beachten. Das Heranfahren an eine Kreuzung ist keine Dauertätigkeit. Sie erfordert jedes Mal erneut besondere Aufmerksamkeit. Eine kurzfristige Geistesabwesenheit ist keine ausreichende, entschuldigende Begründung für ein Außerachtlassen der notwendigen Sorgfalt.

Bei der Bestimmung, ob der Verkehrsteilnehmer grob fahrlässig, d.h. unentschuldbar gehandelt hat, kann nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich vom äußeren Geschehensablauf und vom Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte Vorwerfbarkeit geschlossen werden (BGH, NJW 1992, 2418).

Das Landgericht hat das Nichtbeachten der roten Ampel - entsprechend dem erstinstanzlichen Vortrag des Klägers - ausschließlich unter dem Aspekt des Augenblicksversagens gewürdigt. Es hat hierzu ausgeführt: Von einem durchschnittlich sorgfältigen Kraftfahrer könne und müsse verlangt werden, dass er an eine Kreuzung mit einem Mindestmaß an Konzentration heranfahre und sich nicht von weniger wichtigen Vorgängen und Eindrücken ablenken lasse. Dieses Maß habe der Kläger subjektiv nicht aufgebracht. Er hätte sich durch seine Kinder und das Hupen nicht derart ablenken lassen dürfen, dass er in den Kreuzungsbereich hineingefahren sei, ohne sich noch durch einen kurzen Blick über die Ampelschaltung zu vergewissern. Der vom Kläger begangene "Rotlichtverstoß" unterscheide sich demnach von denen, bei der der Verkehrsteilnehmer das Rotlicht überfahren oder nach Anhalten vor der das Rotlicht zeigenden Ampel angefahren sei, weil er nachvollziehbar durch eine auf Grünspringen für eine andere Fahrspur geltende Ampel oder durch anfahrende Fahrzeuge zu dem Irrtum veranlasst worden sei, die für ihn geltende Ampel sei auf grün umgesprungen.

Zu Recht rügt nunmehr die Berufung in Anknüpfung an die jüngere Entscheidung des BGH BGH Report 2003, 428, dass das Fahrverhalten des Klägers nicht ausschließlich unter dem Aspekt des Augenblicksversagens geprüft werden darf. Der Kläger hatte durchaus, ähnlich wie in dem vom BGH bzw. dem OLG Frankfurt a.M. als Berufungsgericht entschiedenen Fall, im Einzelnen dargelegt, was der Fehlreaktion vorausgegangen war, wenn auch als Vortrag zur Begründung des Vorliegens von "Augenblicksversagen". Im dem vom BGH bzw. OLG Frankfurt a.M. zu entscheidenden Fall hatte der Versicherungsnehmer vorgetragen, auf der Linksabbiegespur habe ein anderes Fahrzeug gestanden, in dem er einen Arbeitskollegen erkannt und gegrüßt habe. Als er nach rechts geschaut habe, habe er "grün" gesehen und sei der Meinung gewesen, das Umschalten der Ampel während des Hinüberschauens zu seinem Arbeitskollegen übersehen zu haben. Seinen Irrtum könne er nur so erklären, dass er das Umschalten eines anderen Elements der Ampelanlage missgedeutet habe oder durch das im Rückspiegel registrierte Grünlicht einer hinter ihm an der zurückliegenden Kreuzung installierten Ampelanlage getäuscht worden sei. Das OLG Frankfurt a.M hat dieses Verhalten nicht als grob fahrlässig erachtet, dies allerdings unter den Aspekt des Augenblicksversagens subsumiert, sich damit in Abweichung zur Rechtsprechung des BGH gesehen, was aus seiner Sicht die Korrekturbedürftigkeit des Begriffs der groben Fahrlässigkeit und der Beweislastfrage erforderte. Der BGH ist dem entgegentreten und hat dargelegt, dass aufgrund des festgestellten Sachverhaltes - Heranfahren, Anhalten und Wiederanfahren bei Rotlicht aufgrund Fehldeutung eines im Blickfeld des Fahrers liegenden optischen Signals - der Sachverhalt sich nicht auf den Aspekt des Augenblicksversagens beschränke, sondern gerade weitere entlastende Momente hinzugetreten seien, welche die vom Berufungsgericht getroffene Wertung eines in subjektiver Hinsicht nicht unentschuldbaren Fehlverhaltens rechtfertige (Anm. Reinert, BGH Report 2003, 430).

Auch in dem hier zu entscheidenden Fall beschränkte sich das Fehlverhalten des Klägers nicht auf ein bloßes Augenblicksversagen. Vielmehr sind von außen Faktoren hinzugekommen, die es rechtfertigen, das Verhalten in subjektiver Hinsicht nicht als schlechthin unentschuldbar zu betrachten. Der Kläger ist als erstes Fahrzeug an die Ampel herangefahren, hat dort verkehrsgemäß gewartet, wurde dann durch seine Kinder im Fahrzeug und das Hupen eines anderen Fahrzeugs mehrfach abgelenkt, was ihn veranlasste, ohne nochmaliges Schauen auf die Ampelanlage in den Kreuzungsbereich hineinzufahren.

Der Senat ist nach eingehender Beratung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Fehlreaktion des Klägers aufgrund eines akustischen Signals nicht anders zu beurteilen ist als die, welche durch ein optisches Signal hervorgerufen wird. Da der Kläger als erstes Fahrzeug an der Ampel hielt, zwischenzeitlich durch seine Kinder abgelenkt war, ist nachvollziehbar, dass er im Glauben war, das Hupen gelte ihm, weil er das Umschalten der Ampel verpasst habe. Das Losfahren ohne nochmaliges Hinschauen auf die Ampelanlage stellt sich entgegen der Auffassung des Landgerichts deshalb nicht als grob fahrlässiges und unentschuldbares Fehlverhalten dar, das einem Kraftfahrer schlechterdings einfach nicht passieren darf. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass durch das Hupen auf den Kläger subjektiv Druck ausgeübt wurde, beschleunigt seine bisherige, scheinbare Säumigkeit zu korrigieren, für den Kläger subjektiv mithin überraschend eine Eilsituation eingetreten war.

Auf die Berufung des Klägers ist das angegriffene Urteil abzuändern und die Beklagte antragsgemäß nebst Zinsen zu verurteilen. Der Zinsanspruch folgt aus § 288 BGB. Die Höhe des Schadens war unstreitig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 5.682,45 €.