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OLG München Urteil vom 25.07.2008 - 10 U 2539/08 - Mithaftung von 50% bei Zusammentreffen von zu spätem Reagieren auf einen erkennbaren Bremsvorgang mit unachtsamem Wenden

OLG München v. 25.07.2008: Zur Mithaftung von 50% bei Zusammentreffen von zu spätem Reagieren auf einen erkennbaren Bremsvorgang mit unachtsamem Wenden


Das OLG München (Urteil vom 25.07.2008 - 10 U 2539/08) hat entschieden:
Reagiert ein Fahrer eines Kraftfahrzeuges auf den für ihn erkennbaren Bremsvorgang eines anderen Fahrzeugs zu spät, worauf es zur Kollision der Fahrzeuge kommt, so ist von einer Mithaftung von 50% auszugehen; eine derartige Mithaftungsquote ist angemessen, wenn der vorausfahrende Fahrer nach einem verkehrsfehlerhaften Fahrspurwechsel auf die linke Fahrspur den Wendevorgang durch einen Mittelstreifendurchbruch einleitet und dann abbremst, ohne sich über einen Blick nach hinten darüber zu vergewissern, ob eine Gefährdung des rückwärtigen Verkehrs ausgeschlossen ist.


Siehe auch Fahrstreifenwechsel - Spurwechsel und Auffahrunfall - Bremsen des Vorausfahrenden


Zum Sachverhalt: Der Kläger machte gegen den Beklagten zu 1) und dessen Haftpflichtversicherung einen Anspruch auf Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall geltend. Am Freitag, dem 03.03.2006 gegen 16.30 Uhr befuhr die Tochter des Klägers, die Zeugin S.D. mit dem Pkw Opel Corsa des Klägers, amtl. Kennzeichen …, auf dem rechten von zwei Fahrstreifen der C. Straße Richtung T.platz. Beifahrer war ihr Freund, der Zeuge L.. Die Tochter des Klägers wechselte auf die linke Fahrspur, um an einem Mittelstreifendurchbruch zu wenden. Dabei kam es zur Kollision mit dem hinter der Zeugin D. auf dem linken Fahrstreifen mit seinem Pkw Volvo fahrenden Beklagten zu 1).

Der Kläger trägt vor, seine Tochter habe links geblinkt und sei bereits einige Zeit am Mittelstreifendurchbruch mit dem Heck noch in der linken, von ihr zuvor befahrenen Fahrspur gestanden, als der Beklagte zu 1) auf den Corsa aufgefahren sei.

Die Beklagten tragen vor, die Zeugin D. habe die Spur 10 m-15 m vor dem Mittelstreifendurchbruch gewechselt ohne den Spurwechsel durch blinken anzukündigen, der Abstand zu dem auf der linken Spur fahrenden Pkw Volvo habe nur 2 m-3 m betragen und dann habe die Zeugin D. erneut ohne zu blinken zu wenden versucht und plötzlich gebremst, der Beklagte zu 1) habe den Unfall nicht vermeiden können.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme (Zeugenvernehmung und Sachverständigengutachten) die Klage abgewiesen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... II. Das Landgericht hat, wie erst die in zweiter Instanz wiederholte Beweisaufnahme ergab, zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz verneint und ist unzutreffend von einem gegen den Kläger sprechenden Anscheinsbeweis aus §§ 7 V, 9 V StVO unter Ablehnung eines Mitverschuldens des Beklagten zu 1) ausgegangen.

II. 2. Der Senat ist nach der von ihm selbst durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Tochter des Klägers nach dem verkehrsfehlerhaften Fahrspurwechsel auf die linke Fahrspur den Wendevorgang einleitete, ohne sich über einen Blick nach hinten, etwa über die Spiegel, davon zu vergewissern, ob die Gefährdung des rückwärtigen Verkehrs ausgeschlossen ist, und der Beklagte seinerseits auf den für ihn erkennbaren Bremsvorgang des Corsa zu spät reagierte, wodurch es zur Kollision der Fahrzeuge kam. Bei rechtzeitiger Reaktion hätte der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug problemlos noch vor dem Corsa zum Stillstand abbremsen können.

Da das Fahrzeug des Klägers bei dem Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) durch dieses beschädigt wurde, besteht grundsätzlich ein Anspruch des Klägers aus § 7 I StVG und, da ein Verschulden des Beklagten zu 1) vorliegt, aus § 823 I BGB gegen den Beklagten zu 1) sowie aus § 3 Nr. 1 PflVersG a.F. gegen die Beklagte zu 2). Dass der Unfall durch höhere Gewalt (§ 7 II StVG) verursacht worden sei, wird von keiner Partei geltend gemacht. Ein Anspruch des Klägers wäre deshalb nur ausgeschlossen, wenn der Unfallschaden von der Zeugin D. durch ein für den Beklagten zu 1) unabwendbares Ereignis (§ 17 III 1 StVG) oder jedenfalls ganz überwiegend verursacht bzw. verschuldet wurde, so daß der Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) vernachlässigt werden kann (§§ 17 I StVG; 254 I BGB). Beides ist vorliegend nicht der Fall.

II. 2. b. Die Zeugin D. hat bei dem Wendevorgang gegen § 9 V StVO verstoßen, wobei anzumerken ist, dass § 9 V StVO vorliegend § 7 V StVO vorgeht, vgl. Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl. 2007, § 7 StVO Rn. 17. Vorliegend kam es zur Kollision im Zusammenhang mit dem Wendemanöver der Zeugin D.. Bei dem Wendemanöver unter Benutzung des Mittelstreifendurchbruches liegt angesichts der baulichen Ausgestaltung (der Mittelstreifen ist so schmal, dass er in einem Bogen umfahren werden kann und muss und nicht erst zwischen den beiden Fahrbahnen ein Stück geradeaus gefahren werden muss, vgl. KG VerkMitt. 1981, 67) ein Wenden nach § 9 V StVO und kein Linksabbiegen vor. Die Zeugin räumte ein, dass sie sich vor Einleitung des eigentlichen Wendemanövers durch Abbremsen, leichtes Ausschwenken nach rechts und anschließendes Einlenken in den Mittelstreifendurchbruch nicht durch Rückschau oder Blick nach hinten darüber vergewisserte, ob eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Der Beklagte zu 1) gab an, die Zeugin D. habe die Spur nach links gewechselt, als er auf der linken Spur mit einer Annäherungsgeschwindigkeit von 50 km/h-55 km/h fast schon auf Höhe des Hecks des Corsa war, er habe gebremst und seine Geschwindigkeit habe nach dem Spurwechsel 40 km/h-45 km/h und der Abstand 3 m-4 m betragen. Die Zeugin D. erinnerte sich, dass sie vor Einleitung des Spurwechsels im Innen- und linken Außenspiegel schaute und kein Fahrzeug auf der linken Spur hinter sich sah. Dies spricht dafür, dass sich der Beklagte zu 1) zum Zeitpunkt der Einleitung des Spurwechsels im „toten Winkel“ des Corsa befand. Der Senat glaubt dem Beklagten zu 1) daher, dass der Abstand nach dem Spurwechsel lediglich wenige Meter betrug und damit als solcher verkehrswidrig war. Deshalb liegt ein Verstoß gegen § 9 V StVO vor und eines Rückgriffs auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises bedarf es nicht.

II. 2. d. Die weiteren Angaben des Beklagten zu 1), dass bei Abschluss des Spurwechsels die Entfernung vom späteren Kollisionsort noch 10 m-15 m betrug, hat der Sachverständige Prof. Dr. B., von dessen Sachkunde der Senat sich überzeugt hat, als technisch nicht möglich erachtet. Die Zeugin D. gab an, dass sie auf der linken Spur aus einer Geschwindigkeit von etwa 50 km/h bremste und den Wendevorgang einleitete. Sie musste - um nach dem Spurwechsel bis zum Wendeort in die Kollisionsstellung zu gelangen und im Hinblick darauf, dass eine kontrollierte Lenkbewegung mit einer Querbeschleunigung von 3 m/sek.² es dem Normalfahrer noch ermöglicht, gleichzeitig mit einer Bremsverzögerung von 3 m/sek.² kontrolliert abzubremsen - nach dem Spurwechsel mindestens 29 m-32 m auf der linken Spur zurücklegen, um bis zu einer höchstens anzunehmenden Kollisionsgeschwindigkeit von 12 km/h (schneller konnte die Zeugin D. das Wendemanöver vorliegend nicht fahren) bzw. bis zum Stillstand abzubremsen. Nach Angaben aller am Unfall Beteiligten, auch des Beklagten zu 1), war der Corsa fahrbahnparallel auf der linken Fahrspur eingeordnet und der Spurwechsel technisch beendet, bevor die Zeugin D. den eigentlichen Wendevorgang einleitete. Dies bestätigte auch der Zeuge L., der schätzte, dass der Beginn des Spurwechsels 60 m-80 m vor der Wendemöglichkeit lag.

II. 2. f. Der Beklagte zu 1) hätte, wie der Sachverständige überzeugend ausführte und erläuterte - ausgehend von einer Reaktionsaufforderung zum Zeitpunkt des Aufleuchtens der Bremslichter des Corsa (was der Beklagte zu 1) nach eigenen Angaben auch wahrnahm) aus einer Geschwindigkeit von 45 km/h bei einer anzusetzenden Reaktionszeit von 0,8 sek. und einer Bremsschwellzeit von 0,2 sek. bei einer auch bei nasser Fahrbahn anzusetzenden Bremsverzögerung von 5 m/sek.² - sein Fahrzeug problemlos noch vor dem Corsa bis zum Stillstand abbremsen können, und zwar selbst bei einem Abstand von 0 m, da sein Anhalteweg 27 m betrug. Da selbst der Beklagte zu 1) nach dem Spurwechsel einen Abstand zum vorausfahrenden Corsa von 3 m-4 m angibt, hätte er in jedem Fall bei rechtzeitiger Bremsung die Kollision verhindern können. Damit steht auch ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1) fest.

II. 2. h. Im Rahmen der nach § 17 II StVG vorzunehmenden Abwägung geht der Senat vorliegend von einer Mithaftung des Beklagten zu 1) in Höhe von 50 % aus. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass angesichts der erkennbaren Verzögerung des Corsa in Annäherung an den Mittelstreifendurchbruch mit einem Abbiegen oder Wenden zu rechnen war, da ein sonstiger verkehrsbedingter Grund für die Verzögerung nicht vorlag (vgl. Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 10. Aufl. 2007, Rn. 258). ..."