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OVG Münster Beschluss vom 12.01.2010 - 16 B 1413/09 - Bei der Prüfung der Einhaltung des Wohnsitzprinzips sind freiwillige Angaben des Betroffenen verwertbar

OVG Münster v. 12.01.2010: Bei der Prüfung der Einhaltung des Wohnsitzprinzips sind freiwillige Angaben des Betroffenen verwertbar


Das OVG Nordrhein-Westfalen in Münster (Beschluss vom 12.01.2010 - 16 B 1413/09) hat entschieden:
Erklärungen und Informationen des Führerscheininhabers hält der EuGH dann nicht im Sinne des Nachweises, dass die Wohnsitzvoraussetzung bei der Erlangung der ausländischen Fahrerlaubnis nicht beachtet worden ist für verwertbar, wenn diese Erklärungen und Informationen im Verwaltungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren in Erfüllung einer dem Führerscheininhaber nach dem innerstaatlichem Recht des sog. Aufnahmemitgliedstaats auferlegten Mitwirkungspflicht abgegeben worden sind. Das lässt Raum für die Annahme, dass die inländische Fahrerlaubnisbehörde nicht gehindert ist, Bekundungen des Führerscheininhabers zu dessen Ungunsten heranzuziehen, wenn er diese außerhalb des ordnungsbehördlichen Verfahrens bzw. aus freien Stücken abgegeben hat.


Gründe:

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die dargelegten Gründe beschränkte Überprüfung durch den Senat führt zu keinem für den Antragsteller günstigeren Ergebnis.

Soweit der Antragsteller bemängelt, die Voraussetzungen eines besonderen Eilbedürfnisses seien nicht dargetan worden, wird schon nicht deutlich, ob damit auf die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung durch den Antragsgegner oder die Ausführungen des Verwaltungsgerichts im Rahmen der vom Gericht eigenständig vorzunehmenden Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO abgestellt wird. Das Verwaltungsgericht hat sowohl die Beachtung der behördlichen Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 VwGO geprüft als auch seine eigene Abwägung eingehend begründet und nachvollziehbar gemacht. Inwieweit dabei Umstände unberücksichtigt geblieben oder fehlgewichtet worden sind, wird mit der Beschwerde nicht verdeutlicht.

Es muss nicht abschließend entschieden werden, ob die allein im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit europäischem Recht streitige Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 11. August 2009 offensichtlich rechtmäßig ist und der dagegen erhobenen Klage des Antragstellers offensichtlich keine Erfolgsaussichten eingeräumt werden können. Zumindest lässt sich derzeit nicht feststellen, dass die Ordnungsverfügung offensichtlich rechtswidrig ist. Die angesichts (zumindest) offener Erfolgsaussichten anzustellende Abwägung der betroffenen Interessen des Antragstellers und der Öffentlichkeit fällt eindeutig zulasten des Antragstellers aus.

Die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 11. August 2009 ist nicht deshalb offensichtlich rechtswidrig, weil der Antragsgegner zu Unrecht von einem berücksichtigungsfähigen Verstoß des Antragstellers gegen das Wohnsitzerfordernis gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b iVm Art. 9 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein ausgegangen wäre. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verwehren die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG es einem Mitgliedstaat nicht, in seinem Hoheitsgebiet einer EU/EWR-ausländischen Fahrerlaubnis die Anerkennung zu verweigern, wenn auf der Grundlage von Angaben im Führerschein oder aufgrund anderer vom Ausstellermitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen ein Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis feststeht.
Vgl. EuGH, Urteile vom 26. Juni 2008 C329/06 und C343/06 (Wiedemann u.a.), NJW 2008, 2403 = DÖV 2008, 723 = NZV 2008,641, und C334/06 bis C336/06 (Zerche u.a.), DAR 2008, 459.
In welchem Umfang der sog. Aufnahmestaat auch in sonstigen Fällen des evidenten Wohnsitzverstoßes so erlangten ausländischen Fahrerlaubnissen die Anerkennung versagen kann,
vgl. dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Januar 2009 16 B 1610/08, DAR 2009, 159 = NWVBl. 2009, 190 = VRS 116 (2009), 314 und vom 5. Februar 2009 16 B 991/08, Juris, sowie Urteil 8. Mai 2009 16 A 3373/07, DAR 2009, 480 = VRS 116 (2009), 472,
ist auch durch die soweit bekannt jüngste Entscheidung des EuGH hierzu
Beschluss vom 9. Juli 2009 C445/08 (Wierer), DAR 2009, 637 = Blutalkohol 46 (2009), 408
nicht abschließend geklärt. Erklärungen und Informationen des Führerscheininhabers hält der EuGH dann nicht im Sinne des Nachweises, dass die Wohnsitzvoraussetzung bei der Erlangung der ausländischen Fahrerlaubnis nicht beachtet worden ist für verwertbar, wenn diese Erklärungen und Informationen im Verwaltungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren in Erfüllung einer dem Führerscheininhaber nach dem innerstaatlichem Recht des sog. Aufnahmemitgliedstaats auferlegten Mitwirkungspflicht abgegeben worden sind. Das lässt Raum für die Annahme, dass die inländische Fahrerlaubnisbehörde nicht gehindert ist, Bekundungen des Führerscheininhabers zu dessen Ungunsten heranzuziehen, wenn er diese außerhalb des ordnungsbehördlichen Verfahrens bzw. aus freien Stücken abgegeben hat. Der Sinn einer solchen Differenzierung kann darin gesehen werden, dass Einlassungen des Führerscheininhabers, die dieser als Mitwirkungsverpflichteter abzugeben gehalten war, dem diese Mitwirkung einfordernden sog. Aufnahmemitgliedstaat gleichsam als eigene Erkenntnis zugerechnet werden, während dies für nicht erzwungene oder erzwingbare Einlassungen nicht zutrifft. Ansonsten sieht der Senat nach wie vor keinen nachvollziehbaren Grund, (freimütigen) Bekundungen des Antragstellers einen geringeren Erkenntniswert als Verlautbarungen des Ausstellerstaates zuzuerkennen bzw. die Augen vor einem offenkundigen Missbrauchsverhalten zu verschließen, zumal den in Polen häufigen Fällen der Begründung eines Scheinwohnsitzes immanent ist, dass in der Regel dem polnischen Staat gerade keine Erkenntnisse über die wahren Aufenthaltsverhältnisse des Betreffenden vorliegen.

Soweit der Antragsteller am 7. Februar 2008 bei einer Verkehrskontrolle gegenüber der Polizei angegeben hat, er habe nach diversen Verkehrsverstößen eine medizinisch-psychologische Untersuchung durchführen müssen und zu deren Umgehung einen neuen Führerschein in Polen gemacht, tritt hinreichend hervor, dass der Antragsteller den Führerschein nicht während eines längeren, etwa berufsbedingten, Aufenthaltes in Polen erworben hat dann wäre nicht von einem „Umgehen“ der in Deutschland geltenden Anforderungen an die Wiedererlangung einer Fahrerlaubnis die Rede gewesen, sondern unter Verstoß gegen die Bestimmungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und des Art. 9 der Richtlinie 91/439/EWG. Selbst wenn diese Einlassung des Antragstellers nicht mehr im Rahmen einer noch ungezielten informatorischen Befragung erfolgt wäre, sondern schon einem gegen ihn gerichteten Straf oder Bußgeldverfahren zuzuordnen war, bestünde weder ein hinreichender Zusammenhang mit dem nachfolgenden fahrerlaubnisrechtlichen Verfahren, noch hätte für den Antragsteller eine Mitwirkungspflicht bestanden. Vielmehr ist sowohl das Strafverfahren als auch das Ordnungswidrigkeitenverfahren von dem auch völkerrechtlich (Art. 14 Abs. 3 Buchst. g des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, BGBl. 1973 II S. 1533, 1541) abgesicherten Grundsatz geprägt, dass niemand gehalten ist, sich selbst anzuklagen oder gegen sich selbst Zeugnis abzulegen (nemo-tenetur-Prinzip).
Zur Geltung auch im Ordnungswidrigkeitenrecht vgl. König, in: Göhler, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, 14. Aufl., § 55 Rn. 8 mwN.
Abgesehen davon bestehen zumindest gewichtige Anhaltspunkte für einen aus Verlautbarungen des Ausstellermitgliedstaates hervorgehenden Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis der Richtlinie 91/439/EWG. Die in der vom Antragsteller vorgelegten polnischen Bescheinigung („ZASWIADCZENIE O ZAREJESTROWANIU POBYTU OBYWATELA UNII EUROPEJSKIEJ“) genannten Daten („20070802“ sowie „2007-08-08“) können entsprechend den Angaben des Antragstellers als Anfangs- und Endtermin des tatsächlichen bzw. von vorherein geplanten Polenaufenthalts verstanden werden; damit wäre ein unter der Grenze von 185 Tagen ( Art. 9 der Richtlinie 91/439/EWG ) bleibender Aufenthalt des Antragstellers im Ausstellerstaat belegt. Hinzu kommt, dass die nunmehr vorliegende Mitteilung der Stadtverwaltung T. also eine weitere Verlautbarung des Ausstellerstaates zumindest als Hinweis auf laufende Ermittlungen gegen den Antragsteller in Polen im Hinblick auf die Umstände seines Führerscheinerwerbs verstanden werden kann; im Falle eines den europarechtlichen Vorgaben entsprechenden Aufenthalts des Antragstellers in Polen wäre die Aufnahme derartiger Ermittlungen schwer nachzuvollziehen.

Kann nach alledem nicht offensichtlich ausgeschlossen werden, dass die Nichtanerkennung der polnischen Fahrerlaubnis des Antragstellers in Deutschland auch den europarechtlichen Anforderungen genügt, Zweifel an der innerstaatlichen Befugnis des Antragsgegners zum Erlass der angefochtenen Ordnungsverfügung sind weder dargelegt noch ersichtlich, fällt die Interessenabwägung zu Ungunsten des Antragstellers aus. Der Antragsteller war in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum hinweg heroinabhängig und hat nicht einmal ansatzweise nachgewiesen, dass sich hieran etwas geändert hätte. Es ist auch nichts dafür erkennbar geworden, dass beim Erwerb der polnischen Fahrerlaubnis der Suchtproblematik des Antragstellers nachgegangen worden oder sie den polnischen Stellen auch nur bekannt gewesen wäre. Aufgrund der Vorgeschichte des Antragstellers stellt sich sein Führerscheinerwerb was er auch selbst eingeräumt hat, als ein Versuch dar, statt der notwendigen Aufarbeitung und Überwindung seiner Betäubungsmittelabhängigkeit, die er wenn sie denn vorläge ohne weiteres durch eine medizinisch-psychologische Begutachtung nachweisen könnte, auf vermeintlich einfache Weise wieder am motorisierten Straßenverkehr teilzunehmen. Die so zutage getretene Gleichgültigkeit des Antragstellers gegenüber den Belangen der Sicherheit des Straßenverkehrs und damit auch gegenüber dem Schutzbedürfnis anderer Verkehrsteilnehmer gibt allen Anlass, nicht nur weiterhin an seiner gesundheitlichen Eignung, sondern auch an seiner charakterlichen Eignung durchgreifend zu zweifeln. Die behauptete beanstandungsfreie Verkehrsteilnahme des Antragstellers in den letzten zwei Jahren kann falls sie wirklich zutrifft auch auf glücklichem Zufall beruhen und ist nicht geeignet, die nach wie vor dringend gebotene verkehrsmedizinische und psychologische Begutachtung zu ersetzen. Die vorläufige Fernhaltung des Antragstellers vom motorisierten Straßenverkehr ist somit zwingend geboten und seinem persönlichen Mobilitätsinteresse klar übergeordnet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 sowie 53Abs. 3 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar ( § 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66Abs. 3 Satz 3 GKG ).



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