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Verwaltungsgericht München Urteil vom 05.03.2010 - M 6a K 09.5473 - Ein Arztattest mit normalen Leberwerten kann keine notwendige Abstinenzdauer ersetzen

VG München v. 05.03.2010: Ein Arztattest mit normalen Leberwerten kann keine notwendige Abstinenzdauer ersetzen


Das Verwaltungsgericht München (Urteil vom 05.03.2010 - M 6a K 09.5473) hat entschieden:
  1. Wenn der erforderliche Nachweis der Alkoholabstinenz von mindestens einem Jahr seit dem letzten nachgewiesenen Konsum von Alkohol nicht erbracht wird und mangels Zeitablauf auch gar nicht erbracht werden kann, dann kann auch eine ärztliche Bestätigung darüber, dass die Leberwerte im Normbereich liegen, nichts ändern, dass zunächst der Abstinenznachweis erbracht werden muss, weil zum einen auch bei im Normbereich liegenden Leberwerten ein Alkoholkonsum nicht ausgeschlossen ist und es zum anderen auf der Hand liegt, dass die behauptete Abstinenz über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Monat die Anforderungen der Nr. 8.4 der Anlage 4 zur FeV in keinem Fall erfüllen kann.

  2. Von (wieder)vorhandener Fahreignung kann nur ausgegangen werden, wenn nicht (mehr) mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit mit einer Fahrt unter Alkoholeinfluss gerechnet werden muss. Dies ist der Fall, wenn Alkohol nur noch kontrolliert getrunken wird, so dass Trinken und Fahren zuverlässig getrennt werden können, oder wenn Alkoholabstinenz eingehalten wird. Letzteres wird dann gefordert, wenn aufgrund der Lerngeschichte anzunehmen ist, dass sich ein konsequenter kontrollierter Umgang mit alkoholischen Getränken nicht erreichen lässt.

Siehe auch MPU und Alkoholproblematik und Stichwörter zum Thema Alkohol


Tatbestand:

Die 1959 geborene Klägerin erhielt nach einer Trunkenheitsfahrt mit einer BAK von 2,77 ‰ im August 1997 wieder eine Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt).

Mit Schreiben vom … September 2009 teilte die Polizeiinspektion W. dem Beklagten mit, dass die Klägerin, die ein Alkoholproblem habe, teilweise und überraschend stark hyperventiliere, unter Angstzuständen leide und nach Bedarf ohne vorherige Konsultation eines Arztes Diazepam-Tabletten zu sich nehme, nach A. wegen Selbstgefahr eingeliefert worden sei.

Auf Anforderung des Beklagten legte die Klägerin nach ihrer Entlassung aus der Klinik dem Beklagten den vorläufigen Arztbericht der ...Kliniken gGmbH für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin vom … August 2009 vor. Darin ist ausgeführt, dass die Klägerin am … August 2009 „polizeilich zuverwiesen“ worden sei, nachdem sie in alkoholisiertem Zustand gegenüber Mitarbeitern des KKH W. Suizidabsichten geäußert hatte, sich eine Dauertropf-Infusion entfernt hatte und das KKH verlassen wollte. Ein Atemalkoholtest in der Klinik habe einen Wert von 2,61 ‰ ergeben. Weiterhin ist in dem vorläufigen Arztbericht ausgeführt, dass die Klägerin vorher das KKH W. wegen ausgeprägter Ängste aufgesucht habe. Sie habe dort angegeben, dass sie sich wegen stärkerer Blutungen nach einer IUP-Entfernung Sorgen mache und erneut angefangen habe, Alkohol zu konsumieren. Als Diagnose wurde angegeben: „Suizidale Krise im Rahmen einer Alkoholintoxikation bei vorbekanntem Abhängigkeitssyndrom (ICD10:F10.0;F10.2); anamnestisch: rezidivierende depressive Episoden“.

Mit Schreiben vom 29. September 2009 teilte der Bevollmächtigte der Klägerin dem Beklagten mit, dass bei der Klägerin „ein vorbekanntes Abhängigkeitssyndrom“ bestehe und dass es „zu einem Rückfall gekommen“ sei, der aber keinen Zusammenhang mit dem Straßenverkehr gehabt habe. Mit Schreiben vom 15. Oktober 2009 führte der Bevollmächtigte der Klägerin weiterhin aus, seine Mandantin habe zwar eine größere Menge Alkohol zu sich genommen. Dies sei jedoch nicht als Rückfall zu bewerten, sondern als „Ausrutscher“. Weiterhin legte er eine ärztliche Bescheinigung vor, der zu Folge die Leberwerte der Klägerin bei Blutuntersuchungen am … September 2009 und … Oktober 2009 „völlig im Normbereich“ gewesen seien und es „laborchemisch keinen Hinweis auf Alkoholkonsum“ gegeben habe.

Nach vorheriger Anhörung entzog der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 30. Oktober 2009 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis der Klassen 3 (alt), 4 (alt) und 5 (alt) und forderte die Klägerin auf, den Führerschein bis spätestens 5 Tage nach Zustellung des Bescheids vorzulegen. Für den Fall der nicht fristgerechten Vorlage wurde ein Zwangsgeld in Höhe von € 500,00 angedroht. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei fahrungeeignet, weil eine therapiebedürftige Abhängigkeit von Alkohol nach ICD10 vorliege. Deshalb müsse ihr die Fahrerlaubnis entzogen werden.

Mit Schreiben vom 18. November 2009 erhob der Bevollmächtigte der Klägerin Klage gegen den Beklagten und beantragte,
den Bescheid des Beklagten vom 30.10.2009 mit dem der Klägerin die Fahrerlaubnis der Klassen 3, 4 und 5 entzogen wurde, aufzuheben.
Weiterhin wurde beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei rechtswidrig, weil zuvor kein ärztliches Gutachten angefordert worden sei. Es habe sich bei dem Vorfall vom … August 2009 nur „um einen Ausrutscher“ gehandelt. Aktuell liege keine entgleiste Alkoholabhängigkeit nach ICD10 vor.

Mit Schreiben vom 4. Dezember 2009 legte der Beklagte die Behördenakten vor und beantragte, die Klage abzuweisen und den Antrag abzulehnen. Die Diagnose „Alkoholintoxikation bei vorbekanntem Abhängigkeitssyndrom (ICD10:F10.0;F10.2)“ im Arztbrief vom … August 2009 habe nach Punkt 8.3 der Anlage 4 zur FeV die Ungeeignetheit der Klägerin zum Führen von Kraftfahrzeugen und damit die Entziehung der Fahrerlaubnis zur Folge.

Mit Beschluss vom 14. Dezember 2009 lehnte das Gericht den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ab (Az. M 6a S 09.5475).

Mit Beschluss vom 29. Januar 2010 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.

Am 5. März 2010 fand die mündliche Verhandlung statt, in der der Bevollmächtigte der Klägerin den Antrag aus dem Schriftsatz vom 18. November 2009 stellte. Die Vertreterin des Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte verwiesen.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 30. Oktober 2009 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, d.h. der Zeitpunkt der Zustellung des Bescheids am 3. November 2009.

Nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1, § 11 Abs. 1 FeV sind die notwendigen Voraussetzungen zum Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr insbesondere dann nicht erfüllt, wenn ein Mangel im Sinne der Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegt, durch den die Fahreignung ausgeschlossen wird.

In Nr. 8 der Anlage 4 zur FeV wird bezüglich Alkohol ausgeführt, dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bei Alkoholmissbrauch (Nr. 8.1) und bei Alkoholabhängigkeit (Nr. 8.3) grundsätzlich nicht besteht. Von Alkoholmissbrauch wird in diesem Zusammenhang immer dann gesprochen, wenn ein Bewerber oder Inhaber einer Fahrerlaubnis das Führen von Kraftfahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann, ohne bereits abhängig zu sein. Als alkoholabhängig wird in der Regel bezeichnet, wer die Kriterien der diagnostischen Leitlinien der Alkoholabhängigkeit nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 erfüllt.

Nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 115, Bergisch Gladbach im Februar 2000) können nach erfolgtem Alkoholmissbrauch die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen dann als wiederhergestellt gelten, das heißt es muss nicht mehr mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit mit einer Fahrt unter Alkoholeinfluss gerechnet werden, wenn zum einen das Trinkverhalten ausreichend geändert wurde. Dies ist der Fall, wenn Alkohol nur noch kontrolliert getrunken wird, so dass Trinken und Fahren zuverlässig getrennt werden können, oder wenn Alkoholabstinenz eingehalten wird. Letzteres wird dann gefordert, wenn aufgrund der Lerngeschichte anzunehmen ist, dass sich ein konsequenter kontrollierter Umgang mit alkoholischen Getränken nicht erreichen lässt (Nr. 3.11.1). Zum anderen muss die vollzogene Änderung im Umgang mit Alkohol stabil und motivational gefestigt sein. Gleiches bestätigt im wesentlichen Anlage 4 zur FeV, die nach Beendigung des Alkoholmissbrauchs fordert, dass die Änderung des Trinkverhaltens gefestigt ist (Nr. 8.2). Zur Feststellung dieser Frage ist eine psychologische Bewertung erforderlich, der somit bei der Klärung von Eignungszweifeln im Hinblick auf Alkoholmissbrauch entscheidende Bedeutung zukommt.

Waren die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen wegen Alkoholabhängigkeit, bei der die Fähigkeit zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen generell aufgehoben ist, nicht gegeben, so können sie nach den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung nur dann wieder als gegeben angesehen werden, wenn durch Tatsachen der Nachweis geführt wird, dass dauerhafte Abstinenz besteht. Hierzu ist in der Regel eine erfolgreiche Entwöhnungsbehandlung mit anschließend mindestens einjähriger Abstinenz erforderlich, die mittels regelmäßiger ärztlicher Untersuchungen und Labordiagnostik nachgewiesen werden muss; weiterhin dürfen keine sonstigen eignungsrelevanten Mängel vorliegen. Diesbezüglich wird auch auf Anlage 4 Ziffer 8.4 zur FeV hingewiesen.

Im Fall der Klägerin steht aufgrund der Einlassungen des Bevollmächtigten der Klägerin („richtig ist auch, dass ein vorbekanntes Abhängigkeitssyndrom besteht“; „größere Menge Alkohol zu sich genommen“) und des vorläufigen Arztbriefs der …Kliniken gGmbH vom … August 2009 („Alkoholintoxikation bei vorbekanntem Abhängigkeitssyndrom“; „wir entlassen Frau B. entgiftet, aber nicht entwöhnt“) fest, dass die Klägerin alkoholabhängig ist und am … August 2009 ihre Alkoholabhängigkeit wiederum eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Der vom Bevollmächtigten der Klägerin gestellten Frage, ob der exakte Grad der Alkoholisierung (AAK-Wert laut Klinik 2,61 ‰) dabei „gerichtsverwertbar festgestellt“ worden ist, kommt dabei keine Bedeutung zu - insofern spielt auch weder der verwendete Gerätetyp oder das Eichdatum eine Rolle. Maßgeblich ist lediglich, dass die Klägerin alkoholabhängig ist und dennoch Alkohol konsumiert hat - noch dazu in einem Umfang, der regelmäßig zu schweren Intoxikationserscheinungen und massiven Ausfallerscheinungen führt. Dies kann nicht einfach - wie es der Bevollmächtigte der Klägerin versucht - als „Ausrutscher“ abgetan werden; es zeigt vielmehr, dass die Klägerin nicht dauerhaft alkoholabstinent leben kann. Dies hat die Fahrungeeignetheit der Klägerin zur Folge. Im Einzelnen:

Folgende Abhängigkeitsmerkmale sind im Arztbrief erkennbar:

a) Die Klägerin hat aufgrund von Sorgen erneut angefangen, Alkohol zu konsumieren. Sie hatte damit in einer belastenden Situation das Verlangen nach Alkohol und erhoffte damit eine Besserung zu erlangen (süchtiges Verhalten, physische Abhängigkeit)

b) Die Klägerin trank Alkohol unkontrolliert bis zum Auftreten von Vergiftungserscheinungen. Die Fähigkeit, den Alkoholkonsum zu steuern, insbesondere die Menge, war nicht gegeben (Eintritt einer Kontrollminderung/eines Kontrollverlusts)

c) Die Klägerin musste stationär unter Zuhilfenahme von Diazepam und Vitamin B1 entgiftet werden (Entzugssymptomatik).

d) Sie hatte zuvor Alkohol in einem Umfang (AAK 2,61 Promille) konsumiert, der nur bei extremer Alkoholgewöhnung konsumiert werden kann (sehr hohe Toleranzbildung)

Es liegen somit mindestens 3 Kriterien im Sinne der ICD-10 vor, die für die Stellung der Diagnose einer Abhängigkeit erforderlich sind. Damit steht in Übereinstimmung mit der Diagnose im vorläufigen Arztbericht vom … August 2009 fest, dass die Klägerin infolge Alkoholabhängigkeit und fehlender Entwöhnung ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist. Bei dieser Sachlage hat der Beklagte zutreffend darauf hingewiesen, dass die Einholung eines - weiteren - Gutachtens auf der Grundlage von § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV entbehrlich ist. Danach ist ein ärztliches Gutachten nämlich nur dann einzuholen, wenn Tatsachen die Annahme von Alkoholabhängigkeit lediglich nahelegen. Bei der Klägerin ist der Nachweis der Alkoholabhängigkeit durch den Bericht der Fachklinik aber bereits erbracht.

Ebenso rechtsfehlerfrei hat der Beklagte angenommen, dass eine Wiedererlangung der Fahreignung bis zum Erlass des Entziehungsbescheids nicht erfolgt ist, zumal der nach Nr. 8.4 der Anlage 4 zur FeV erforderliche Nachweis der Alkoholabstinenz von mindestens einem Jahr seit dem letzten nachgewiesenen Konsum von Alkohol am … August 2009 nicht erbracht wurde und mangels Zeitablauf bislang auch gar nicht erbracht werden kann. Daran kann auch die ärztliche Bestätigung vom … September 2009 nichts ändern, weil zum einen auch bei im Normbereich liegenden Leberwerten ein Alkoholkonsum nicht ausgeschlossen ist und es zum anderen auf der Hand liegt, dass die behauptete Abstinenz über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Monat die Anforderungen der Nr. 8.4 der Anlage 4 zur FeV in keinem Fall erfüllen kann. Wenn auch die Anlage 4 zur FeV nur eine „im Regelfall“ einjährige Abstinenz verlangt, so kann der Zeitraum nicht auf nur wenige Tage oder Wochen verkürzt werden. Der Beklagte hatte der Klägerin somit zwingend die Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV entziehen müssen, ohne dass ihm ein Ermessen verblieb.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist somit rechtmäßig. Ebenso rechtmäßig ist die Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern; diese Verpflichtung ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FeV.

Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung bestehen nicht und wurden auch nicht geltend gemacht.

Die Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.