Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Urteil vom 06.03.2003 - 12 U 229/01) - Zum Anscheinsbeweis bei Fahrstreifenwechsel und zur Mithaftung bei Trunkenheit

KG Berlin v. 06.03.2003: Zum Anscheinsbeweis bei Fahrstreifenwechsel und zur Mithaftung bei Trunkenheit


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 06.03.2003 - 12 U 229/01) hat entschieden:
  1. Ereignet sich ein Unfall in engem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine Haftung des Spurwechslers. Bleibt der zeitliche und örtliche Zusammenhang jedoch ungeklärt, haften die Unfallbeteiligten jeweils nur aus der Betriebsgefahr hälftig.

  2. Ist derjenige, der aus einer Grundstücksausfahrt in den fließenden Verkehr einfährt, infolge Alkoholgenusses absolut fahruntauglich, und kommt es sodann zu einem unklaren Unfall, dann trifft ihn bei der Haftungsabwägung nur dann ein Mitverschulden, wenn sich seine Alkoholisierung ursächlich auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat.

Siehe auch Anscheinsbeweis - Beweis des ersten Anscheins und Grundstücksausfahrt


Gründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise erfolgreich.

1. Die Beklagten sind dem Kläger gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 StVG, § 3 PflVersG zum Ersatz von 50 % derjenigen Schäden verpflichtet, die ihm aus dem Verkehrsunfall vom 25. März 2000 gegen 22.15 Uhr auf dem Lichtenrader Damm in Berlin entstanden sind.

a) Allerdings hat der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zu beweisen vermocht, dass der Beklagte zu 2. den streitigen Verkehrsunfall durch einen sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel schuldhaft herbeigeführt hätte. Zwar kann dem Landgericht nicht darin gefolgt werden, wenn es meint, der Kläger habe die Umstände des behaupteten Fahrstreifenwechsels nicht konkret dargetan, so dass keine Anhaltspunkte für eine Verletzung der in § 7 Abs. 5 StVO normierten Sorgfaltspflichten vorlägen. Einer solchen näheren Darlegung bedurfte es schon deshalb nicht, weil dann, wenn sich der Unfall, wie vom Kläger behauptet, in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem behaupteten Fahrstreifenwechsel ereignet hätte, gegen den Beklagten zu 2. der Beweis des ersten Anscheins dafür spräche, die gemäß § 7 Abs. 5 StVO geforderten besonderen Sorgfaltspflichten nicht beachtet zu haben (statt aller: Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 7 StVO Rdnr. 17 m. w. N.). Dem Landgericht kann auch nicht darin gefolgt werden, wenn es meint, nach den Schadensbildern an den Fahrzeugen der Parteien sei eine seitliche Berührung, wie sie für einen Fahrstreifenwechsel typisch sei, ausgeschlossen. Ein Kollisionswinkel von ca. 20°, wie er hier nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Parteien zwischen den beteiligten Fahrzeugen vorgelegen hat, ist bei einem Fahrstreifenwechsel ohne weiteres möglich. Allenfalls könnte gefragt werden, ob sich ein derartiger Kollisionswinkel mit der Unfalldarstellung der Beklagten vereinbaren lässt (dazu unten b)). Schließlich liegt auch keine unzulässige Behauptung ins Blaue hinein bzw. eine Sachverhaltsausforschung vor. Von einer Ausforschung kann nur dann gesprochen werden, wenn der Antragsteller ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürliche Behauptungen aufs Geratewohl oder ins Blaue hinein aufstellt, um durch die Beweisaufnahme beweiserhebliche Tatsachen erst zu erfahren und sie dann zur Grundlage eines Parteivortrags zu machen; um eine Ausforschung geht es demgegenüber nicht, wenn der Antragsteller die beweiserhebliche Tatsache selbst in das Wissen des Zeugen stellt (BGH WM 1991, 942, 946; NJW 1995, 2011, 2012; Urteil vom 12.09.2002 – IX ZR 66/01 – ständige Rechtsprechung). Hier hat der Kläger in das Wissen der Zeugin L gestellt, der Beklagte zu 2. habe am Unfallort einen Fahrstreifenwechsel seinerseits als Unfallursache angegeben. Der Kläger hat also die beweiserhebliche Tatsache in das Zeugnis der Polizeibeamtin gestellt. Die bei der Beiakte befindliche maßstabgerechte Skizze vom Unfallort (Hülle Bl. 5) spricht eher für die Darstellung des Klägers, denn sie enthält keinerlei Hinweis darauf, dass das klägerische Fahrzeug, wie von den Beklagten behauptet, aus einer Grundstücksausfahrt kommend gegen das Beklagtenfahrzeug gestoßen wäre, welches nach der Darstellung der Beklagten im mittleren Fahrstreifen gefahren sein soll. Vielmehr ist das Beklagtenfahrzeug in der Verkehrsunfallskizze im äußerst linken Fahrstreifen des Lichtenrader Dammes Fahrtrichtung Norden eingezeichnet.

Der Kläger hat den von ihm behaupteten Unfallhergang jedoch nicht zu beweisen vermocht. Die Zeugin R, vormals M, hat vielmehr die Unfalldarstellung der Beklagten bestätigt. Auch der auf Antrag des Klägers als Partei vernommene Beklagte zu 2. hat die Unfalldarstellung des Klägers nicht bestätigt. Der Umstand, dass die Zeugin L, die sich im Übrigen nicht mehr an den Vorgang erinnern konnte, bekundet hat, wenn am Unfallort von einem der Beteiligten erklärt worden wäre, eines der unfallbeteiligten Fahrzeuge sei ohne Beleuchtung aus einer Grundstücksausfahrt kommend in den Lichtenrader Damm eingefahren, so hätte sie dies vermerkt, reicht allein nicht aus, um die Richtigkeit der klägerischen Sachverhaltsdarstellung mit der gemäß § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit zu beweisen.

b) Aber auch die Beklagten haben ihre Unfalldarstellung, wonach der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs den Unfall dadurch verschuldet hat, dass er ohne die Fahrzeugbeleuchtung eingeschaltet zu haben, aus einer Grundstücksausfahrt in den Lichtenrader Damm eingefahren sei, ohne dabei die nach § 10 StVO gebotene besondere Sorgfalt beachtet zu haben, nicht bewiesen. Zwar hat die Zeugin R bekundet, das Fahrzeug des Klägers sei aus einer Grundstücksausfahrt kommend seitlich gegen die Front des Fahrzeugs des Beklagten zu 2. gestoßen. Das Gericht vermag sich jedoch nicht von der Richtigkeit der Aussage der Zeugin R zu überzeugen. Dagegen spricht zunächst, dass die Zeugin bekundet hat, das Fahrzeug des Klägers erstmals im Zeitpunkt der Kollision bemerkt zu haben. Wenn die Zeugin das Fahrzeug des Klägers aber vor der Kollision nicht bemerkt hat, so ist nicht erklärlich, woher sie wissen will, dass es aus einer Grundstücksausfahrt herausgefahren ist. Gegen die Richtigkeit der Aussage der Zeugin R spricht weiterhin, dass nach der von ihr gefertigten Skizze (Bl. 42 der Beiakten) ein Kollisionswinkel von nahezu 90° zu erwarten gewesen wäre. Tatsächlich betrug der Kollisionswinkel lediglich ca. 20°. Auch wäre nach der Darstellung der Zeugin R zu erwarten gewesen, dass das Fahrzeug des Beklagten zu 2. aus dem mittleren Fahrstreifen des Lichtenrader Dammes, in dem es nach ihrer Aussage zu diesem Zeitpunkt gefahren war, nach links in den dritten Fahrstreifen herübergeschoben worden wäre. Derartiges hat die Zeugin jedoch nicht bekundet. Zu guter Letzt fällt auf, dass die Zeugin in ihrer schriftlichen Aussage in dem gegen den Beklagten zu 2. gerichteten Strafverfahren ausgesagt hatte, sie habe im Fahrzeug des Beklagten zu 2. hinten rechts gesessen, während sie bei ihrer Vernehmung durch das Gericht bekundete, sie habe auf dem Beifahrersitz gesessen.

Auch die Angaben des als Partei vernommenen Beklagten zu 2. sind nicht geeignet, die Unfalldarstellung der Beklagten zu beweisen. Der Beklagte zu 2. hat bei seiner Vernehmung eingeräumt, aufgrund seiner alkoholbedingten Beeinflussung zum Unfallzeitpunkt die Einzelheiten des Unfallgeschehens nicht vollständig wahrgenommen zu haben. So war er nicht dazu in der Lage, die von ihm selbst eingehaltene Geschwindigkeit vor dem Unfall auch nur annähernd zu bestimmen. Die weitere Vernehmung hat ergeben, dass die Erinnerung des Beklagten an das Unfallgeschehen und die anschließenden Ereignisse, wie sie sich aus der Beiakte ergeben, nur bruchstückhaft ist.

c) Die Unaufklärbarkeit des Unfallhergangs hat zur Folge, dass keine der Parteien ein unfallursächliches Verschulden des Fahrers des gegnerischen Fahrzeugs beweisen kann. Bei der gemäß § 17 StVG erforderlichen Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile ist daher nur die nicht erhöhte Betriebsgefahr der beiden Fahrzeuge zu berücksichtigen. Dies führt im Ergebnis dazu, dass der Kläger von den Beklagten die Hälfte des ihm bei dem Unfall entstandenen, der Höhe nach unstreitigen Sachschadens ersetzt verlangen kann. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Beklagte zu 2. zum Unfallzeitpunkt infolge vorangegangenen Alkoholgenusses unstreitig absolut fahruntüchtig war. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sowie des Senats ist eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit bei der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG nur dann zu berücksichtigen, wenn sie sich nachweislich unfallursächlich ausgewirkt hat, wenn also feststeht, dass ein nüchterner Kraftfahrer in derselben Situation unfallverhütend reagiert hätte (BGH NJW 1995, 1029; OLG Hamm, DAR 2000, 568; Senat, Urteil vom 4. September 2000 – 12 U 4373/99; Urteil vom 22. Februar 2001 – 12 U 7599/99 –). Daran fehlt es hier.

2. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO n. F.).

3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO in Verbindung mit § 26 Nr. 8 EGZPO.