Das Verkehrslexikon

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VGH München Beschluss vom 21.06.2010 - 11 CS 10.377 - Bei der Beurteilung, ob ein Fahrerlaubnisinhaber 18 Punkte erreicht hat, gilt das Tattagsprinzip

VGH München v. 21.06.2010: Bei der Beurteilung, ob ein Fahrerlaubnisinhaber 18 Punkte erreicht hat, gilt das Tattagsprinzip


Der VGH München (Beschluss vom 21.06.2010 - 11 CS 10.377) hat entschieden:

   Der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts für das Tattagsprinzip kommt Bedeutung nicht nur für die Auslegung des § 4 Abs. 4 StVG, sondern auch für das zutreffende Verständnis der in § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG getroffenen Regelungen zu. Auch das Tattagsprinzip verzichtet jedoch keineswegs auf die Rechtskraft der Entscheidungen, durch die die Zuwiderhandlungen geahndet wurden, aus denen sich der Anfall von Punkten ergibt; es ist nur nicht erforderlich, dass die Unanfechtbarkeit bereits zu dem nach § 4 Abs. 4 Satz 4 StVG maßgeblichen Zeitpunkt eingetreten ist.

Siehe auch
Das Punktsystem - Fahreignungs-Bewertungssystem
und
Die Fahrerlaubnis im Verwaltungsrecht

Gründe:


I.

Dem Antragsteller wurde am 5. September 2001 eine Fahrerlaubnis erteilt, die u. a. die Klassen A und C1E umfasste.

Er ist im Straßenverkehr seither wie folgt in Erscheinung getreten:

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Mit Schreiben vom 13. Dezember 2004, dem Kläger zugestellt am Folgetag, verwarnte ihn das Landratsamt Nürnberger Land gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG und wies ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 8 StVG hin.

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Durch Bescheid vom 26. September 2006 gab das Landratsamt dem Antragsteller auf, an einem allgemeinen Aufbauseminar teilzunehmen und der Behörde innerhalb von drei Monaten nach der Zustellung des Bescheids einen Nachweis hierüber vorzulegen. Außerdem wurde er auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung nach § 4 Abs. 9 StVG und darauf hingewiesen, dass ihm beim Erreichen von 18 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werde.




Eine Bescheinigung über die Teilnahme des Antragstellers an einem Seminar im Sinn von § 4 Abs. 8 StVG ging dem Landratsamt am 16. November 2006 zu. Ausweislich einer der Behörde am 24. April 2007 vorgelegten Bescheinigung hat sich der Antragsteller in der Zeit vom 30. März 2007 bis zum 23. April 2007 zudem einer verkehrspsychologischen Beratung im Sinn von § 4 Abs. 9 StVG unterzogen.

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Durch Bescheid vom 9. Dezember 2009 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen (Nummer 1 des Bescheidstenors) und gab ihm unter Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit auf, seinen Führerschein beim Landratsamt abzuliefern (Nummer 2 des Tenors). Falls der Antragsteller der Ablieferungspflicht nicht innerhalb von drei Werktagen nach der Zustellung des Bescheids nachkomme, wurde ihm die zwangsweise Einziehung des Führerscheins angedroht. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe durch die am 12. September 2008 begangene Tat einen Stand von 20 Punkten erreicht. Dass die Eintragungen im Verkehrszentralregister, die die am 30. Mai 2003, am 16. August 2003 und am 18. April 2004 begangenen Zuwiderhandlungen zum Gegenstand hatten, inzwischen getilgt seien, sei nach der im Verfahren 3 C 21.07 ergangenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. September 2008 (BVerwGE 132, 57) unerheblich.

Über die am 23. Dezember 2009 zum Verwaltungsgericht Ansbach erhobene Klage, mit der der Antragsteller die Aufhebung des Bescheids vom 9. Dezember 2009 erstrebt, wurde nach Aktenlage noch nicht entschieden.

Auf den gleichzeitig gestellten Antrag hin, die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nummer 2 des angefochtenen Bescheids aufzuheben, ordnete das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 27. Januar 2010 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 9. Dezember 2009 hinsichtlich der Nummern 1 und 2 des Tenors an. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, die Auslegung des Rechtsschutzgesuchs ergebe, dass der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der anhängigen Klage sowohl hinsichtlich der Nummer 1 als auch der Nummer 2 des Bescheids vom 9. Dezember 2009 begehre. Dieser Antrag sei zulässig und begründet. Die angefochtene Anordnung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig, weil im Verkehrszentralregister niemals Ahndungen eingetragen gewesen seien, aus denen sich mindestens 18 Punkte ergäben. Bei der Berechnung des Punktestandes könnten nur solche Zuwiderhandlungen berücksichtigt werden, die nach den §§ 28 ff. StVG im Zeitpunkt der "letzten Eintragungsfähigkeit" einer Ahndung im Sinn von § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG verwertbar gewesen seien. Im Zeitpunkt der Eintragungsfähigkeit der zuletzt hinzugekommenen Ahndung - mithin am 15. September 2009 - seien im Verkehrszentralregister nur noch die Sanktionen zu erfassen gewesen, die die am 18. April 2004 und später begangenen Zuwiderhandlungen zum Gegenstand hatten. Aus diesen verwertbaren Ahndungen ergäben sich jedoch nur 15 Punkte. Die Regelungen über die Verwertbarkeit von Eintragungen im Verkehrszentralregister würden sich (mit Ausnahme der hier nicht ausschlaggebenden Bestimmung des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG) an der Rechtskraft der einzutragenden Entscheidung orientieren. Wenn der Antragsgegner unter Berufung auf das in der Sache 3 C 21.07 ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. September 2008 (a.a.O.) das Tattagsprinzip bereits auf die Bestimmung des Inhalts des Verkehrszentralregisters anwende, so fehle es hierfür an einer gesetzlichen Grundlage. Das Tattagsprinzip sei nur bei der Anrechnung von Punkten - insbesondere im Rahmen der Vorschriften des § 4 Abs. 4 und 5 StVG - anerkannt. Bei der Feststellung verwertbarer Ahndungen sei ein derartiges Vorgehen wegen des abschließenden Charakters der §§ 29 ff. StVG auch nicht im Wege einer Analogie möglich. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. September 2008 (a.a.O.) betreffe nur den Fall, dass auf der Grundlage verwertbarer Registereintragungen und deren Bewertung mit Punkten nach § 4 StVG zu einem gemeinsamen Zeitpunkt einmal 18 Punkte erreicht gewesen seien. Erst wenn danach die Voraussetzungen für eine Tilgung einträten, könnten diese die gesetzliche Vermutung der Nichteignung wegen Erreichens von 18 Punkten nicht mehr revidieren.


Mit der gegen diese Entscheidung eingelegten Beschwerde beantragt der Antragsgegner,

   den Beschluss vom 27. Januar 2010 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Das Verwaltungsgericht habe in unzutreffender Anwendung des Rechtskraftprinzips die vom Antragsteller am 12. September 2008 begangene Nötigung erst ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der sich hierauf beziehenden Ahndung bei der Berechnung der Punkte berücksichtigt. Der Antragsteller habe nach den in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. September 2008 (a.a.O., RdNr. 9) aufgestellten Grundsätzen 18 Punkte bereits durch die am 12. September 2008 begangene Straftat "erreicht". Das sich aus § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG ergebende Verwertungsverbot greife nur ein, bevor 18 Punkte erreicht wurden. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in der am 25. September 2008 in der Sache 3 C 3.07 ergangenen Entscheidung (BVerwGE 132, 48, RdNr. 13) darauf hingewiesen habe, dass auf § 4 Abs. 3 StVG gestützte Maßnahmen rechtskräftig geahndete Verkehrsverstöße voraussetzten, werde damit - auch vor dem Hintergrund des § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG - lediglich zum Ausdruck gebracht, dass Punkte erst dann angesetzt werden könnten, wenn eine Zuwiderhandlung rechtskräftig geahndet worden sei. Hieraus lasse sich jedoch nicht herleiten, Punkte dürften nicht rückwirkend - bezogen auf den Tattag - berücksichtigt werden. Wegen des weiteren Vorbringens des Antragsgegners wird auf die Beschwerdebegründung der Landesanwaltschaft Bayern vom 26. Februar 2010 verwiesen.

Der Antragsteller beantragt unter Bezugnahme auf sein Vorbringen in der Klage- und Antragsschrift vom 21. Dezember 2009 sowie auf die Ausführungen im angefochtenen Beschluss,
   die Beschwerde zurückzuweisen.

Das Tattagsprinzip dürfe nicht so weit ausgedehnt werden, dass Voreintragungen im Verkehrszentralregister, die unter keinen Umständen mehr berücksichtigungsfähig seien, wiederaufleben würden. Unabhängig davon sei die - bisher noch nicht entschiedene - Frage, ob die Bestimmung des § 3 Abs. 4 StVG Vorrang vor § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG genieße, zu seinen Gunsten zu beantworten, da § 4 StVG gegenüber der grundlegenden Ermächtigungsnorm des § 3 StVG subsidiär sei. Eine richterliche Überzeugung, die alle Umstände berücksichtigt habe, die auch im angefochtenen Verwaltungsakt erwähnt würden, dürfe nicht durch eine behördliche Maßnahme konterkariert werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die vom Verwaltungsgericht beigezogenen Vorgänge des Landratsamts verwiesen.




II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Anders als das Verwaltungsgericht ist der Bayerische Verwaltungsgerichtshof der Auffassung, dass die vom Antragsteller am 23. Dezember 2009 erhobene Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird. Denn der Bescheid vom 9. Dezember 2009 ist allen derzeit erkennbaren Umständen nach rechtens.

1. Das Landratsamt ging zutreffend davon aus, dass es dem Antragsteller nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis zwingend entziehen musste, da sich durch die von ihm am 12. September 2008 begangene Straftat zu seinen Lasten (mehr als) 18 Punkte ergeben hatten.

a) In den am 25. September 2008 in den Verfahren 3 C 3.07 (a.a.O.) und 3 C 34.07 (Juris) erlassenen Urteilen hat sich das Bundesverwaltungsgericht u. a. zu der Frage geäußert, wann eine Person eine bestimmte Zahl von Punkten im Sinn von § 4 Abs. 4 StVG erreicht hat. Es hat festgestellt, dass es für den Punktestand an dem in § 4 Abs. 4 Satz 4 StVG bezeichneten Stichtag und den davon abhängigen Umfang des Punkteabzugs ausschließlich darauf ankommt,

   "welche mit Punkten zu bewertende Verkehrsverstöße der Betroffene zum Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung begangen hat (sog. Tattagprinzip); es ist nicht erforderlich, dass die Verkehrsverstöße zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig geahndet sind" (BVerwG vom 25.9.2008 Az. 3 C 3.07, a.a.O., RdNr. 27; vom 25.9.2008 Az. 3 C 34.07, a.a.O., RdNr. 25).

Dieser Entscheidung für das Tattagsprinzip kommt Bedeutung nicht nur für die Auslegung des § 4 Abs. 4 StVG, sondern auch für das zutreffende Verständnis der in § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG getroffenen Regelungen zu. Denn die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zu der Frage, in welchem Zeitpunkt eine bestimmte Anzahl von Punkten im Sinn von § 4 Abs. 4 StVG "erreicht" wurde, erfolgten, um feststellen zu können, ob sich zu Lasten des Klägers des Verfahrens 3 C 3.07 im Sinn von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG mindestens 14 und zu Lasten des Klägers der Streitsache 3 C 34.07 wenigstens acht Punkte im Sinn von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ergeben hatten (vgl. die Randnummer 23 in dem im erstgenannten und die Randnummer 22 in dem im Verfahren 3 C 34.07 ergangenen Urteil vom 25.9.2008). Es kann nicht angenommen werden, dass nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nur die Entscheidung der Vorfrage, ob (und bejahendenfalls in welchem Umfang) die Teilnahme an einem freiwilligen Aufbauseminar oder an einer verkehrspsychologischen Beratung zu einem Punkteabzug führt, anhand des Tattagsprinzips zu erfolgen hat, während bei der Anwendung der in § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG enthaltenen Befugnisnormen andere Grundsätze gelten sollen. Dass auch beim Vollzug dieser Bestimmung vom Tattagsprinzip auszugehen ist, folgt ferner daraus, dass zwischen dem Sprachgebrauch des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG, wonach sich ein bestimmte Zahl von Punkten "ergeben" haben muss, und dem in § 4 Abs. 4 bis 6 StVG verwendeten Begriff des "Erreichens" von Punkten kein sachlicher Unterschied besteht; es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Gesetzgeber beide Ausdrucksweisen synonym verwendet hat (BVerwG vom 25.9.2008 Az. 3 C 3.07, a.a.O., RdNr. 29; vom 25.9.2008 Az. 3 C 34.07, a.a.O., RdNr. 27; vom 25.9.2008 Az. 3 C 21.07, a.a.O., RdNrn. 12 f.).




Allerdings setzen die Maßnahmen, die die Fahrerlaubnisbehörden nach § 4 Abs. 3 StVG beim Erreichen der dort genannten Punktzahlen zu treffen haben, rechtskräftig geahndete Verkehrsverstöße voraus (BVerwG vom 25.9.2008 Az. 3 C 3.07, a.a.O., RdNr. 13; vom 25.9.2008 Az. 3 C 34.07, a.a.O., RdNr. 12). Auch das Tattagsprinzip verzichtet jedoch keineswegs auf die Rechtskraft der Entscheidungen, durch die die Zuwiderhandlungen geahndet wurden, aus denen sich der Anfall von Punkten ergibt; es ist nur nicht erforderlich, dass die Unanfechtbarkeit bereits zu dem nach § 4 Abs. 4 Satz 4 StVG maßgeblichen Zeitpunkt eingetreten ist (BVerwG vom 25.9.2008 Az. 3 C 3.07, a.a.O., RdNr. 38; vom 25.9.2008 Az. 3 C 34.07, a.a.O., RdNr. 36).

Die vom Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich vorgenommene Entkoppelung zwischen dem nach § 4 Abs. 4 Satz 4 StVG maßgeblichen Zeitpunkt und dem Datum des Eintritts der Rechtskraft beansprucht nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Rahmen des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG in gleicher Weise Geltung. Wollte der Gesetzgeber nämlich im Rahmen des gesamten § 4 StVG einheitlich regeln, wann sich Punkte "ergeben" bzw. sie "erreicht" werden, so kann auch die Frage, ob es genügt, dass die Ahnung einer Zuwiderhandlung erst nach dem Zeitpunkt rechtskräftig geworden ist, in dem sich Punkte ergeben haben bzw. sie erreicht wurden, innerhalb dieser Vorschrift nur einheitlich beantwortet werden.

Da gegen den Antragsteller wegen der am 12. September 2008 begangenen Nötigung später rechtskräftig eine Geldstrafe verhängt wurde, haben sich die Punkte, deren Anfall diese Tat nach sich gezogen hat, im Sinn von § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG bereits am Tattag "ergeben". Da die am 1. September 2003 und am 29. September 2003 gegen ihn erlassenen Bußgeldbescheide am 12. September 2008 weder nach § 29 Abs. 6 Satz 4 StVG noch nach anderen Vorschriften zu tilgen waren, war er an jenem Tag unter Berücksichtigung des Abzugs von zwei Punkten, der gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 StVG wegen der von ihm nach dem Erreichen von 14, aber vor dem Erreichen von 18 Punkten absolvierten verkehrspsychologischen Beratung geboten ist, mit 20 Punkten belastet.

b) Der Umstand, dass die Bußgeldbescheide vom 1. September 2003 und vom 29. September 2003 am 27. November 2008 bzw. am 15. Oktober 2008 nach § 29 Abs. 6 Satz 4 StVG zu tilgen waren, so dass sie gemäß § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG dem Antragsteller seither nicht mehr für Zwecke im Sinn von § 28 Abs. 2 StVG vorgehalten und seinem Nachteil verwertet werden dürfen, führt zu keinem anderen Ergebnis.

Hat ein Fahrerlaubnisinhaber im Verkehrszentralregister 18 Punkte erreicht (das ist nach dem Vorgesagten nicht erst mit der Rechtskraft der Ahndung von Verstößen und erst recht nicht mit der Eintragung einer Ahndung in das Verkehrszentralregister, sondern bereits mit der Begehung der Zuwiderhandlung unter der Voraussetzung ihrer späteren rechtskräftigen Ahndung der Fall), so ist die Fahrerlaubnis wegen fehlender Eignung zu entziehen. Eine spätere Tilgung von Punkten ist hierfür ohne Bedeutung. Das gilt unabhängig davon, ob die Tilgung vor oder nach dem Erlass der Entziehungsverfügung eingetreten ist (BVerwG vom 25.9.2008 Az. 3 C 21.07, a.a.O., RdNr. 9; vgl. auch die Randnummern 14 und 21 jener Entscheidung).

Wenn Punktetilgungen, zu denen es erst nach der Begehung einer Zuwiderhandlung kommt, bei der Ermittlung des Punktestandes des Betroffenen außer Betracht bleiben, so stellt das keine Missachtung oder Umgehung der in § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG getroffenen Entscheidung des Gesetzgebers dar. Vielmehr rechtfertigt sich diese Vorgehensweise aus dem Umstand, dass bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Rahmen des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG auf den Zeitpunkt abzustellen ist, an dem der Verstoß begangen wurde, der (unter der Voraussetzung seiner späteren rechtskräftigen Ahndung) zum Entstehen derjenigen Punkte geführt hat, durch die die nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 StVG jeweils maßgebliche Zahl von Punkten erreicht oder überschritten wurde.

Die Frage, zu welchem Zeitpunkt die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen vorliegen müssen, von denen die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme abhängt, beantwortet sich in erster Linie nach den Aussagen des einschlägigen materiellen Rechts (vgl. z.B. BVerwG vom 25.11.1981 BVerwGE 64, 218/222; vom 3.11.1986 BVerwGE 78, 243/244 f.). Nur wenn sich ihm keine diesbezüglichen Aussagen entnehmen lassen, ist bei belastenden Verwaltungsakten auf die beim Ergehen der letzten Behördenentscheidung bestehende tatsächliche und rechtliche Situation abzustellen (vgl. z.B. BVerwG vom 28.7.1989 BVerwGE 82, 260/261).

Das Bundesverwaltungsgericht gelangte in dem im Verfahren 3 C 21.07 am 25. September 2008 ergangenen Urteil (a.a.O.) auf der Grundlage einer teleologischen, systematischen und historischen Gesetzesauslegung zu dem Ergebnis, dass eine Fahrerlaubnis immer dann zu entziehen ist, wenn ihr Inhaber Rechtsverstöße begangen hat, die in ihrer Gesamtheit den Anfall von mindestens 18 Punkten nach sich ziehen. Sind aber alle Entwicklungen, die nach dem Tag eintreten, an dem sich zu Lasten des Betroffenen 18 Punkte ergeben haben, ohne Belang, so folgt daraus, dass es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Entziehungsentscheidung auf die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten in dem Zeitpunkt ankommt, zu dem der Adressat einer solchen Maßnahme die 18-Punkte-Grenze erreicht hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem in der Sache 3 C 21.07 am 25. September 2008 erlassenen Urteil (a.a.O., RdNr. 22) hierzu ausgeführt:

   "Die materielle Prüfung beschränkt sich lediglich auf die Frage, ob der Betroffene 18 Punkte erreicht hat; wie sich der Punktestand im Weiteren entwickelt hat, ist demgegenüber unerheblich. Gleichgültig ist daher auch, wann die Behörde diesen Umstand prüft. Ausgangs- und Widerspruchsbehörde haben gleichermaßen zu ermitteln, ob die 18-Punkte-Grenze überschritten war. Sachliche Veränderungen zwischen Ausgangs- und Widerspruchsbescheid hat die Widerspruchsbehörde nur zu berücksichtigen, wenn das materielle Recht dies gebietet. Die nachträgliche Tilgung von Punkten ändert aber nichts daran, dass die 18-Punkte-Grenze überschritten war, und ist deshalb nicht nur für die Widerspruchsbehörde, sondern auch - anders als das Verwaltungsgericht meint - für die Ausgangsbehörde rechtlich unerheblich."




Dass das Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, im Rahmen des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG bilde die Begehung der Tat, durch die eine Person die 18-Punkte-Grenze erreicht oder überschreitet, den für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt, muss auch daraus geschlossen werden, dass im Urteil vom 25. September 2008 (Az. 3 C 21.07, a.a.O., RdNr. 9) die Annahme der Vorinstanz, der Erlass des Ausgangsbescheids stelle den maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage dar, als mit Bundesrecht unvereinbar bezeichnet wurde. Begründet hat das Bundesverwaltungsgericht die Ablehnung dieser Auffassung mit dem Argument, dass bei Zugrundelegung dieses Beurteilungszeitpunkts eine vor dem Erlass des Ausgangsbescheids eingetretene Tilgung zu berücksichtigen wäre (BVerwG vom 25.9.2008, a.a.O., RdNr. 9). Bereits im Beschluss vom 3. Mai 2010 (Az. 11 CS 09.3149, RdNr. 23) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof vor diesem Hintergrund seine frühere Auffassung, bei auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Entziehungen der Fahrerlaubnis komme es auf die im Zeitpunkt der Bekanntgabe einer solchen Verfügung bestehende Sach- und Rechtslage an, ausdrücklich aufgegeben (vgl. zu diesem Fragenkreis auch BayVGH vom 5.5.2010 Az. 11 CS 10.290, RdNr. 18).

Kommt es aber ausschließlich darauf an, wie viele Punkte die vom Antragsteller bis einschließlich 12. September 2008 begangenen Rechtsverstöße nach sich gezogen haben, so verstößt es nicht gegen das sich aus § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG ergebende Verwertungsverbot, wenn eine mit Blickrichtung auf diesen Zeitpunkt durchgeführte Prüfung der Sach- und Rechtslage erst später eingetretene Tilgungen außer Betracht lässt.

2. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig. Insbesondere hat das Landratsamt, wenn es dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen hat, nicht die sich aus § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG ergebende Bindungswirkung missachtet.

Nach dieser Bestimmung darf die Fahrerlaubnisbehörde, wenn sie in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigt, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gerichteten Strafverfahren gewesen ist, zu dessen Nachteil u. a. insoweit nicht vom Inhalt des Urteils abweichen, als sich die gerichtliche Entscheidung auf die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht.

In den Gründen des Berufungsurteils vom 25. Juni 2009 hat sich das Landgericht Bamberg auch mit der Frage befasst, ob dem Antragsteller die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB entzogen werden musste. Es hat die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme mit der Erwägung verneint, es liege kein Regelfall nach § 69 Abs. 2 StGB vor. Außerdem ergebe sich aus dem Bericht eines Diplom-Psychologen, bei dem der Antragsteller von sich aus verkehrstherapeutische Sitzungen absolviert habe, und den eigenen Einlassungen des Antragstellers in beiden strafgerichtlichen Rechtszügen, dass er sich mit seinem Fahrverhalten kritisch auseinandergesetzt habe. Da seit der am 12. September 2008 begangenen Tat zudem keine neuen Verkehrsverstöße bekannt geworden seien, erachtete das Landgericht das bereits von der Vorinstanz verhängte, durch das Berufungsurteil aufrecht erhaltene dreimonatige Fahrverbot zur Einwirkung auf den Antragsteller für ausreichend.



Obwohl das Strafgericht mithin eine fehlende Fahreignung des Antragstellers ausdrücklich verneint hat, ist der Antragsgegner nicht an diese Auffassung gebunden. Hierbei lässt es der Verwaltungsgerichtshof ausdrücklich dahinstehen, ob die sich aus § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG ergebende Bindungswirkung - was nach dem Sinn und Zweck der Regelung und der Gesetzessystematik als durchaus zweifelhaft erscheint - überhaupt auf Maßnahmen erstreckt, die auf der Grundlage von § 4 StVG erlassen werden. Denn selbst dann, wenn die Verwaltung auch beim Vollzug des Punktsystems grundsätzlich nicht von einer gerichtlichen Eignungsbeurteilung abweichen dürfte, bestünde eine solche Bindungswirkung im gegebenen Fall nicht. Denn § 3 Abs. 4 StVG steht einer von einer gerichtlichen Entscheidung abweichenden Beantwortung der Frage nach der Fahreignung einer Person durch die öffentliche Verwaltung dann nicht entgegen, wenn die Fahrerlaubnisbehörde über einen umfassenderen Sachverhalt zu befinden hat, als er Gegenstand des strafgerichtlichen Verfahrens war (vgl. z.B. BVerwG vom 11.1.1988 Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 78; vom 15.7.1988 Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 83; vom 11.10.1989 Az. 7 B 150.89 , RdNr. 2; vom 1.4.1993 Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 89; vom 17.2.1994 Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 92; vom 19.3.1996 Buchholz 442.10 § 15 StVZO Nr. 5).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Von den Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr, die sich der Antragsteller hat zuschulden kommen lassen, durfte das Landgericht die am 30. Mai 2003 und am 16. August 2003 begangenen Ordnungswidrigkeiten nicht mehr berücksichtigen, da sie im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung bereits getilgt waren; sie scheinen demgemäß auch in der in Abschnitt II der Gründe des Urteils vom 25. Juni 2009 enthaltenen Zusammenstellung seiner Vorahndungen nicht mehr auf. Für das Landratsamt waren diese Verstöße wegen des abweichenden Beurteilungszeitpunkts, auf den beim Vollzug des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG abzustellen ist, demgegenüber noch verwertbar. Zwei mit insgesamt sieben Punkten bewertete Ordnungswidrigkeiten stellen zudem keine nur marginale Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage gegenüber dem Sachverhalt dar, der den Gegenstand des Strafurteils bildete.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG und den Empfehlungen in den Abschnitten II.1.5 Satz 1, II.46.1, II.46.5 und II.46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8. Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327).

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