Das Verkehrslexikon

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OLG Braunschweig Beschluss vom 07.02.2011 - Ss (OWiZ) 225/10 - Zur Annahme von Vorsatz bei einem Geschwindigkeitsverstoß

OLG Braunschweig v. 07.02.2011: Zur Annahme von Vorsatz bei einem Geschwindigkeitsverstoß


Das OLG Braunschweig (Beschluss vom 07.02.2011 - Ss (OWiZ) 225/10) hat entschieden:
Wenn der Betroffene zu dem Vorwurf einer Geschindigkeitsüberschreitung schweigt, kann die innere Tatseite des Vorsatzes nur aus den objektiven Tatumständen hergeleitet werden. Dies gilt sowohl für das Wissens- als auch für das Wollenselement, die beide Voraussetzung für eine Verurteilung wegen einer vorsätzlich begangenen Tat sind. Eine vorsätzliche Begehungsweise drängt sich umso mehr, je massiver das Ausmaß der Überschreitung ist. Dabei kommt es nach der neueren Rechtsprechung nicht auf die absolute, sondern auf die relative Geschwindigkeitsüberschreitung an, das heißt, auf das Verhältnis zwischen der vorgeschriebenen und der gefahrenen Geschwindigkeit. Je höher die prozentuale Überschreitung ausfällt, desto eher wird sie von einem Kraftfahrer, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit kennt, aufgrund der stärkeren Fahrgeräusche und der schneller vorbeiziehenden Umgebung bemerkt. Eine relative Überschreitung um 30 lm/h bei erlaubten 120 lm/h ist hierfür nicht ausreichend.


Siehe auch Zur Annahme von Vorsatz bei Geschwindigkeitsüberschreitungen und Geschwindigkeit und Geschwindigkeitsverstöße im Zivilrecht - Strafrecht - Ordnungswidrigkeitenrecht


Gründe:

Die Zulassungsbeschwerde hat nur teilweise Erfolg.

I.

Durch das angefochtene Urteil ist der Betroffene wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 36 km/h mit einer Geldbuße von 240,00 Euro belegt worden. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Betroffene am 30. November 2009 den Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ... in der Gemarkung Göttingen auf der Bundesautobahn A 7 in Fahrtrichtung Nord führte und dabei vier Verkehrszeichen passierte, welche jeweils die Geschwindigkeit auf 120 km/h beschränkten. Gleichwohl habe er nach Passieren der genannten Verkehrszeichen eine Geschwindigkeit von mindestens 156 km/h eingehalten. Das Amtsgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Betroffene hierbei zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt habe.

Hiergegen hat der Betroffene die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt und die Sachrüge erhoben. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Verwerfung des Zulassungsantrags beantragt.


II.

Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, da es gem. § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Außerdem war die Sache aus demselben Grunde, also ebenfalls zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, gem. § 80 a Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen. Wie unten im Einzelnen auszuführen sein wird, hat das Amtsgericht die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu der Frage nicht hinreichend beachtet, ob einem Betroffenen bei der von ihm begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits ein vorsätzliches Verhalten vorgeworfen werden kann oder ob zu seinen Gunsten nur von fahrlässigem Verhalten auszugehen ist. Die Zulassung ist erforderlich, da eine mit dem vorliegenden Fall vergleichbare Konstellation häufiger vorkommt und deshalb insoweit mit weiteren Fehlentscheidungen zu rechnen wäre (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 80 Rn. 5 m. w. N.).

Bei den genannten Entscheidungen zu Ziffer 1. und 2. der Urteilsformel handelt es sich um Entscheidungen des rechtsunterzeichneten Einzelrichters.


III.

Die Rechtsbeschwerde hat auf die Sachrüge hin nur teilweise Erfolg.

1. Die Feststellungen tragen nicht die Schuldform des Vorsatzes. Da der Betroffene zu dem Vorwurf schwieg, konnte die innere Tatseite des Vorsatzes nur aus den objektiven Tatumständen hergeleitet werden. Dies gilt sowohl für das Wissens- als auch für das Wollenselement, die beide Voraussetzung für eine Verurteilung wegen einer vorsätzlich begangenen Tat sind (Göhler, a. a. O., § 10 Rn. 2).

Vorliegend kann dahinstehen, ob der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 120 km/h aufgrund der vier beidseitig aufgestellten Schilderpaare, die in einem Abstand zwischen ca. 1500 und 500 m aufgestellt waren, auch tatsächlich (möglicherweise trotz Unaufmerksamkeit) erkannt hat (Wissenselement). Selbst wenn man dies im vorliegenden Fall bejaht, konnten (insbesondere wegen des Schweigens des Betroffenen) offensichtlich keine ausreichenden Feststellungen zum Wollenselement getroffen werden.

Zu Recht ist das Amtsgericht zwar davon ausgegangen, dass sich bei der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine vorsätzliche Begehungsweise um so mehr aufdrängt, je massiver das Ausmaß der Überschreitung ist (KG NStZ-RR 2002, 116 m. w. N.). Dabei kommt es nach der neueren Rechtsprechung nicht auf die absolute, sondern auf die relative Geschwindigkeitsüberschreitung an, das heißt, auf das Verhältnis zwischen der vorgeschriebenen und der gefahrenen Geschwindigkeit. Je höher die prozentuale Überschreitung ausfällt, desto eher wird sie von einem Kraftfahrer, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit kennt, aufgrund der stärkeren Fahrgeräusche und der schneller vorbeiziehenden Umgebung bemerkt (KG NZV 2004, 598 und a. a. O.; OLG Karlsruhe NZV 2006, 437).

Vorliegend erreicht jedoch die relative Geschwindigkeitsüberschreitung von 30 % (36 km/h gegenüber erlaubten 120 km/h) nicht das Ausmaß von mindestens ca. 40 %, das die Rechtsprechung zur Annahme vorsätzlicher Begehungsweise - auch bei Fahrzeugen mit gehobener technischer Ausstattung - voraussetzt, wenn weitere Tatsachen, aus denen auf Vorsatz geschlossen werden kann, nicht feststellbar sind (KG NStZ-RR 2002, 116 m. w. N.; vgl. auch KG NZV 2004, 598 und OLG Karlsruhe a. a. O.; vgl. auch OLG Brandenburg DAR 2008, 532, wonach eine Überschreitung um 32 % mangels Feststellbarkeit weiterer vorsatzbegründender Tatsachen nicht ausreichend ist, sowie weitere Rechtsprechung hierzu, zitiert in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl., Rn. 1594, der in Rn. 1593 sogar von einer "Faustregel" von ca. 50 % statt 40 % ausgeht). Eine besondere Beschaffenheit der von der Geschwindigkeitsüberschreitung betroffenen Wegstrecke, bspw. ein ungewöhnlich steiles Gefälle, hohe Talbrücken oder ein schlechter Zustand der Fahrbahndecke, hat im vorliegenden Fall aber ersichtlich keine Rolle gespielt.

Der vom Amtsgericht angenommene Vorsatz kann auch nicht mit der angeblichen "allgemeinen Lebenserfahrung" begründet werden,
"… dass der Betroffene beim Anblick der zahlreichen geschwindigkeitsbeschränkenden Schilder automatisch durch einen Blick auf den Tacho seine konkrete Geschwindigkeit überprüft hat. Sollte er dies beim Anblick der zahlreichen Schilder dennoch nicht getan haben, hat er die Geschwindigkeitsüberschreitung jedenfalls billigend in Kauf genommen."
Dieser vom Amtsgericht angewandte Satz setzt zum Einen voraus, dass der Betroffene die "zahlreichen geschwindigkeitsbeschränkenden Schilder" überhaupt alle bewusst wahrgenommen hat ("… beim Anblick der … Schilder"), eine Prämisse, die nicht durch Feststellungen belegt, sondern schlicht unterstellt wird. Zum Anderen gibt es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer, der nicht regelmäßig oder überhaupt nicht auf den Tachometer sieht, eine Geschwindigkeitsüberschreitung billigend in Kauf nimmt und deshalb "bedingt vorsätzlich" handelt (OLG Hamm, Beschl. v. 03.05.1994 - 4 Ss (OWi) 217/94, zit. nach Burhoff, a. a. O. Rn. 1594).

Aufgrund dieses Rechtsfehlers musste die Sache jedoch nicht an das Amtsgericht zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen werden. Da gerade auch im Hinblick auf das Schweigen des Betroffenen weitergehende, die Schuldform des Vorsatzes tragende Feststellungen nicht mehr zu erwarten sind, hat der Senat gem. § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst entschieden, indem er den Schuldspruch entsprechend den §§ 354 Abs. 1 StPO, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG (vgl. insoweit Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 354 Rn. 12 ff.) durch Erkennung auf eine fahrlässige Geschwindigkeitsüberschreitung berichtigt hat.

2. Im Übrigen greift die Sachrüge gegenüber dem Schuldspruch nicht durch. Insbesondere ist die anhand des Radarfotos vorgenommene Identifizierung des Betroffenen durch das Amtsgericht nicht zu beanstanden. Da in den Urteilsgründen auf das Radarfoto in prozessordnungsgemäßer Weise Bezug genommen worden ist, bedurfte es im vorliegenden Fall wegen des noch "generell geeigneten" Fotos keiner näheren Ausführungen zur Identitätsfeststellung. Selbst wenn man entgegen dieser Auffassung vorliegend Zweifel an der Eignung des Fotos als Grundlage für eine Identifizierung haben sollte, reichen die näheren Angaben im Urteil zur Identitätsfeststellung aus. Die Rüge, dass dem Rechtsbeschwerdegericht anhand der Beschreibung des Fotos durch das Amtsgericht nicht in gleicher Weise wie bei dessen Betrachtung die Prüfung ermöglicht werde, ob dieses zur Identifizierung generell geeignet sei, geht ins Leere, da dieses Erfordernis vom Bundesgerichtshof nur für den (hier nicht gegebenen) Fall erhoben wird, dass auf das Foto nicht prozessordnungsgemäß verwiesen wird (vgl. zu dem ganzen BGH NZV 1996, 157; Göhler, a. a. O., § 71 Rn. 47a f.).

Die weitere Rüge, dass sich Feststellungen bzgl. der Verkehrszeichen zur Geschwindigkeitsbegrenzung überwiegend der Akte nicht entnehmen ließen, greift ebenfalls nicht durch, da die Aktenwidrigkeit der Urteilsgründe nicht beanstandet werden kann (Meyer-Goßner, a. a. O., § 337 Rn. 15 a und 23 m. w. N.).


IV.

Auch über den Rechtsfolgenausspruch konnte der Senat gem. § 79 Abs. 6 OWiG selbst entscheiden, da die zugehörigen Feststellungen des Amtsgerichts - abgesehen von der berichtigten Schuldform - vollständig und zutreffend sind.

Entgegen der in der Rechtsbeschwerdebegründung geäußerten Auffassung sind die festgestellten Voreintragungen berücksichtigungsfähig und insbesondere nicht etwa nach § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVG (zweijährige Tilgungsfrist) tilgungsreif. Nach § 29 Abs. 6 StVG wird die Tilgung der vorausgehenden Eintragungen durch die Tilgung der am 17. Dezember 2009 und am 26. Februar 2008 rechtskräftig gewordenen (vgl. hierzu § 28 Abs. 4 Nr. 3 StVG) Entscheidungen gehindert. Die absolute Tilgungsfrist beträgt nach § 29 Abs. 6 S. 4 StVG fünf Jahre, die bei keiner der Eintragungen erreicht ist.

Außerdem ist auch die letzte Entscheidung vom 21. September 2009 berücksichtigungsfähig. Sie ist zwar erst 2 1/2 Wochen nach der Tatzeit der vorliegenden Geschwindigkeitsüberschreitung vom 30. November 2009 rechtskräftig geworden. Gleichwohl übte sie schon vorher aufgrund ihres Erlasses eine Warnfunktion aus. Diese Warnung hat der Betroffene bereits gut zwei Monate nach Erlass dieser Entscheidung nicht beachtet und ist wiederum einschlägig aufgefallen.

Unter Berücksichtigung aller einschlägigen vier Voreintragungen sah der Senat - ausgehend von einer Regelgeldbuße von 120,00 Euro für die fahrlässige Begehung durch einen nicht vorbelasteten Fahrer - eine Geldbuße von 180,00 Euro als angemessen an. Diese erhebliche Erhöhung der Geldbuße soll den Betroffenen darauf hinweisen, dass er gerade im Hinblick auf die häufige Wiederholung - insgesamt 5 Geschwindigkeitsüberschreitungen innerhalb relativ kurzer Zeit - bei der Begehung weiterer Ordnungswidrigkeiten mit einem Fahrverbot wegen beharrlicher Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers rechnen muss.


V.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 473 Abs. 4 StPO, 46 Abs. 1 OWiG.



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