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Bundesverwaltungsgericht Beschluss vom 20.12.1988 - 7 B 199/88 - Zur fehlenden Bindungswirkung eines Strafurteils

BVerwG v. 20.12.1988: Keine Bindungswirkung an das Strafurteil, wenn die Entziehung der Fahrerlaubnis nur wegen der verstrichenen Zeit unterblieben ist


Das Bundesverwaltungsgericht (Beschluss vom 20.12.1988 - 7 B 199/88)hat entschieden:
Begründet der Strafrichter das Absehen von einer Entziehung der Fahrerlaubnis ausschließlich mit einem Hinweis auf die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit, so liegt darin regelmäßig keine Beurteilung der Kraftfahreignung. Die Verwaltungsbehörde ist dadurch gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG nicht an einer eigenständigen Beurteilung der Fahreignung gehindert (im Anschluß an BVerwG, Urteil vom 15. Juli 1988 - BVerwG 7 C 46.87 - VRS Bd. 75, 379 *= NVZ 1988, 238 *= DAR 1988, 390).


Siehe auch Bindungswirkung und Fahrerlaubnis-Themen


Gründe:

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis der Klasse 3. Er wurde durch Urteil des Amtsgerichts L. vom 21. Juni 1985 wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung durch Trunkenheit am Steuer eines Pkw (Blutalkoholgehalt 1,5 Promille) in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Trunkenheitsfahrt in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort (§§ 315 c, 316, 142 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt; die Fahrerlaubnis wurde nicht entzogen. Einer nach Rechtskraft des Strafurteils ergangenen Aufforderung der zuständigen Fahrerlaubnisbehörde nach § 15 b Abs. 2 StVZO, ein Gutachten zur Überprüfung seiner Kraftfahreignung beizubringen, kam der Kläger nicht nach. Gegen die daraufhin gemäß § 4 Abs. 1 StVG angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis erhob der Kläger Anfechtungsklage, die in beiden Rechtszügen erfolglos blieb. Auch die Beschwerde, mit der er die Zulassung der Revision gegen das Berufungsurteil erstrebte, kann keinen Erfolg haben.

Die Sache hat nicht die in der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Die Beschwerde hält die Frage für klärungsbedürftig, ob und in welchem Umfang die Verwaltungsbehörde den Inhalt eines Strafurteils bestimmen oder auslegen dürfe, an das sie gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG bei der Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen gebunden sei. Der Kläger wendet sich damit gegen die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof gebilligte Auffassung der Fahrerlaubnisbehörde, das Urteil des Amtsgerichts L. entfalte keine Bindungswirkung, weil die einzige einschlägige Formulierung des Strafurteils: "Die Fahrerlaubnis mußte dem Angeklagten jetzt - mehr als acht Monate nach der Tat - nicht mehr entzogen werden" keine Eignungsbeurteilung darstelle. Der Kläger ist der Ansicht, daß die Verwaltungsbehörden den Strafgerichten schon aus Gründen der Gewaltenteilung nicht vorschreiben könnten, wie ausführlich sie die Eignungsfrage behandelten; eine Formulierung wie die vom Amtsgericht L. gewählte mache ausreichend deutlich, daß das Strafgericht die Ungeeignetheit des Angeklagten geprüft und verneint habe.

Mit diesem Beschwerdevorbringen läßt sich eine Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht erreichen. Der beschließende Senat hat zu Inhalt und Umfang der Bindung an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG zuletzt in seinem Urteil vom 15. Juli 1988 - BVerwG 7 C 46.87 - (VRS Bd. 75, 379 = NZV 1988, 238 = DAR 1988, 390, m. weit. Nachw.) zusammenfassend folgendes ausgeführt: Mit dieser Vorschrift solle die sowohl dem Strafrichter (durch § 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (durch § 4 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, einem Kraftfahrer bei Ungeeignetheit die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, daß überflüssige und aufwendige Doppelprüfungen unterbleiben und daß es nicht zu widersprechenden Entscheidungen kommen kann. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung finde seine innere Rechtfertigung darin, daß auch die Entziehung der Fahrerlaubnis durch den Strafrichter als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine Entscheidung über die künftige Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr sei. Während die Behörde allerdings die Kraftfahreignung aufgrund einer umfassenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers zu beurteilen habe, dürfe der Strafrichter nur eine Würdigung der Persönlichkeit vornehmen, soweit sie in der jeweiligen Straftat zum Ausdruck gekommen sei. Deshalb sei die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung auch nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruhe und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen habe. Die Bindungswirkung lasse sich nur rechtfertigen, wenn die Verwaltungsbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen könne, daß überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Kraftfahreignung beurteilt habe. Deshalb entfalle eine Bindungswirkung, wenn das von einer Entziehung der Fahrerlaubnis absehende Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthalte oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibe, ob das Strafgericht die Kraftfahreignung des Angeklagten eigenständig beurteilt habe. Die Vorschrift des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG dürfe nämlich im Ergebnis nicht dazu führen, daß in keinem der beiden in Betracht kommenden Verfahren die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ordnungsgemäß überprüft und beurteilt werde.

Das Berufungsurteil hält sich im Rahmen dieser Grundsätze und verneint - unter Bezugnahme auf die Gründe des verwaltungsgerichtlichen Gerichtsbescheides und seiner eigenen in dieser Sache ergangen Beschwerdeentscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO - in Würdigung des Strafurteils vom 21. Juni 1985 eine Bindung der Verwaltungsbehörde. Eine Klärung grundsätzlich bedeutsamer Fragen über die bisher in der Rechtsprechung des beschließenden Senats entwickelten Maßstäbe hinaus wäre in einem Revisionsverfahren nicht zu erwarten. Insbesondere stimmt es mit der geschilderten Rechtsprechung überein, wenn das Berufungsgericht die Formulierung in den Gründen des Strafurteils, die Fahrerlaubnis müsse dem Angeklagten jetzt - mehr als acht Monate nach der Tat - nicht mehr entzogen werden, dahin wertet, daß damit eine Beurteilung der Kraftfahreignung nicht erfolgt sei. Der schlichte Hinweis auf den Zeitablauf, ohne überhaupt auf die möglichen Auswirkungen der Straftat auf die Kraftfahreignung und auf die Persönlichkeit des Angeklagten einzugehen, enthält keine Aussage über die Eignung eines Kraftfahrers zum Führen von Kraftfahrzeugen, die die zu einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit verpflichtete Verwaltungsbehörde (vgl. das Urteil des Senats vom 20. Februar 1987 - BVerwG 7 C 87.84 - BVerwGE 77, 40 <42> = NJW 1987, 2246) binden könnte.

Allerdings muß das Vorliegen einer Eignungsbeurteilung und damit der Eintritt der Bindungswirkung nicht auf der Grundlage einer einzigen Formulierung, sondern nach dem Gesamtzusammenhang der Gründe des Strafurteils festgestellt werden. Doch ergibt sich im vorliegenden Falle auch insoweit nichts anderes. Das Urteil des Amtsgerichts läßt nicht erkennen, daß und gegebenenfalls aus welchen Gründen der Strafrichter die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen (§ 69 Abs. 1 Satz 1 StGB) verneint hätte, obwohl er übrigens bei der auf die §§ 315 c, 316 und 142 StGB gestützten Verurteilung zu einer Begründung verpflichtet war, weshalb die Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB nicht angeordnet wurde (vgl. § 267 Abs. 6 Satz 2 StPO). Zutreffend weist das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang darauf hin, daß sich das Strafurteil unter dem Gesichtspunkt der Kraftfahreignung überhaupt nicht mit dem zur Frage der Schuldfähigkeit eingeholten und vom Amtsgericht als "überzeugend" bewerteten und in voller Länge zum Bestandteil der Urteilsgründe gemachten psychiatrischen Gutachten des Dr. Dr. N. befaßt, obwohl dieses Gutachten den Kläger als Gewohnheitstrinker bezeichnet, der jeden Tag einen bestimmten Pegel an Alkohol haben müsse. Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, wenn in einem so gelagerten Fall, in dem der Verdacht auf die Fahreignung beeinflussende Trinkgewohnheiten nicht fernliegt, die Verwaltungsbehörde zu dem Schluß kommt, das Strafurteil enthalte keine Eignungsbeurteilung in dem von § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG vorausgesetzten Sinn.

Auch im Hinblick auf die Hilfserwägungen des Berufungsurteils ergeben sich keine noch klärungsbedürftigen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem im Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen Beschluß, auf dessen Gründe das Berufungsurteil Bezug nimmt, ausgeführt: Selbst wenn der Ansicht des Klägers gefolgt würde, daß der Strafrichter mit der zitierten Formulierung zur Frage der Kraftfahreignung Stellung genommen habe, wäre dies lediglich die isolierte Würdigung einer einzigen Zuwiderhandlung, nämlich der konkret abgeurteilten Straftat, gewesen und nicht eine Bewertung der Kraftfahreignung aufgrund aller maßgebenden Umstände; insbesondere wären die verkehrsrechtliche Vorstrafe aus dem Jahr 1982 und die Aussagen des psychiatrischen Sachverständigengutachtens unberücksichtigt geblieben. Der daraus vom Berufungsgericht gezogene rechtliche Schluß auf die mangelnde Bindung entspricht der ständigen Rechtsprechung des beschließenden Senates. Er hat mehrfach betont, daß die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden ist, wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat (vgl. die Nachweise im Urteil vom 15. Juli 1988 - BVerwG 7 C 46.87 - a.a.O.).