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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 01.08.1996 - 1 BvR 121/95 - Zum Anwaltsverschulden bei der Faxübermittlung von Schriftsätzen

BVerfG v. 01.08.1996: Zum Anwaltsverschulden bei der Faxübermittlung von Schriftsätzen - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 01.08.1996 - 1 BvR 121/95) hat entschieden:
  1. Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in allen Gerichtszweigen uneingeschränkt zulässig. Wird dieser Übermittlungsweg durch ein Gericht eröffnet, so dürfen die aus den technischen Gegebenheiten dieses Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Dies gilt im besonderen für Störungen des Empfangsgeräts im Gericht. In diesem Fall liegt die entscheidende Ursache für die Fristsäumnis in der Sphäre des Gerichts. Aber auch Störungen der Übermittlungsleitungen sind dem gewählten Übermittlungsmedium immanent, da ein Telefax nur über sie zum Empfangsgerät gelangt. Erst Leitungen und Gerät gemeinsam stellen die vom Gericht eröffnete Zugangsmöglichkeit dar. Auch bei einer Leitungsstörung versagt daher die von der Justiz angebotene Zugangseinrichtung. Der Nutzer hat mit der Wahl eines anerkannten Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss bis 24.00 Uhr zu rechnen ist.

  2. Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Die Gerichte dürfen daher bei Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen. Allerdings sind die nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen und zumutbaren Anstrengungen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zu verlangen.

  3. Von einem Rechtsanwalt, der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch Boten oder per Post, sondern durch Fax zu übermitteln, kann beim Scheitern der gewählten Übermittlung infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder wegen Leitungsstörungen nicht verlangt werden, dass er innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte, vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart sicherstellt.

Siehe auch Fax - Telefaxschreiben - Schriftform - Textform - faksimilierte und aufgedruckte Unterschriften und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand


Gründe:

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, nachdem die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax gescheitert war.

I.

1. Die Beschwerdeführerin, eine GmbH in Liquidation, unterlag in fünf Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Schwerin. Ihr Liquidator ist als Rechtsanwalt in einer Anwaltskanzlei tätig, die ein Zweitbüro am Sitz des zuständigen Landesarbeitsgerichts in Rostock hat. Zweitinstanzlich ließ sich die Beschwerdeführerin durch einen Prozessbevollmächtigten aus Hamburg vertreten. Dessen Berufungsbegründungen gingen erst einen Tag nach Ablauf der verlängerten Begründungsfrist beim Landesarbeitsgericht ein. Die Beschwerdeführerin beantragte fristgerecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Am letzten Tag der Begründungsfrist sei bis 20.31 Uhr vergeblich versucht worden, die jeweilige Begründung per Fax von Hamburg dem Gericht in Rostock zu übermitteln. Es sei nicht zu klären, ob dies auf einem Defekt oder Papiermangel beim Empfangsgerät des Landesarbeitsgerichts oder auf einer Leitungsstörung beruhe. Bei einer Telefonkontrolle der Fax-Leitung sei das Freizeichen ertönt.

2. Das Landesarbeitsgericht verwarf die Berufungen als unzulässig, ohne zu klären, worauf die gescheiterte Übermittlung per Fax zurückzuführen war. Der Beschwerdeführerin sei die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu versagen. Unter Berücksichtigung der durch die Ausnutzung der Frist bis zum letzten Tag entstandenen erhöhten Sorgfaltspflicht hätten die Übermittlungsbemühungen nicht um 20.31 Uhr abgebrochen werden dürfen. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin habe vielmehr eine andere Übermittlungsmöglichkeit suchen müssen. Auch wenn ihm eine Fahrt nach Rostock nicht zumutbar gewesen sei, hätte ein in den Nachtbriefkasten des Gerichts einzuwerfendes Blitztelegramm aufgegeben werden können. Auch hätten die Berufungsbegründungen per Fax einem anderen Rechtsanwalt in Rostock übermittelt werden können, damit dieser sie in den Nachtbriefkasten werfe. Dies sei hier um so naheliegender gewesen, als die Kanzlei des Liquidators der Beschwerdeführerin in Rostock ein Zweitbüro unterhalte, das über einen Faxanschluss verfüge.

Die Revisionen wurden vom Bundesarbeitsgericht zur gemeinsamen Entscheidung verbunden und zurückgewiesen. Das Landesarbeitsgericht habe dargestellt, welche zumutbaren Wege der fristgerechten Übermittlung bis Mitternacht es noch gegeben habe. Telegrafische Begründungen hätten eventuell auf den formal notwendigen Inhalt gekürzt werden können. Möglicherweise habe es beim Landesarbeitsgericht auch einen Nachtportier gegeben, den der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin telefonisch hätte erreichen und der eine Störung des Empfangsgeräts hätte beseitigen können. Die Beschwerdeführerin habe nicht vorgetragen, dass derartige Möglichkeiten nicht bestanden hätten.


II.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin geltend, sie habe darauf vertrauen dürfen, dass die von den Gerichten zur Verfügung gestellten Kommunikationseinrichtungen auch funktionsfähig seien. Die Kosten eines Blitztelegramms hätten in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Prozesses gestanden. Außerdem würden Telegramme in Rostock nach 20.30 Uhr nicht mehr zugestellt. Ein Pförtner könne nach Dienstschluss nicht mehr telefonisch erreicht werden. Er wäre gegebenenfalls auch weder befugt noch fähig, ein defektes Telefaxgerät zu reparieren.

Außerdem sei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Das Bundesarbeitsgericht habe die Rechtssache dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe vorlegen müssen. Es sei von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 2. Oktober 1991 (NJW 1992, S. 244) abgewichen. Dieser habe verlangt, dass die Justizbehörden auch nach Dienstschluss für die Funktionsfähigkeit eines Telefaxgeräts zu sorgen hätten, wenn sie den Zugang zum Gericht durch ein solches Gerät eröffnet hätten.


III.

Zu der Verfassungsbeschwerde hat der Präsident des Bundesgerichtshofs Stellung genommen.


B.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie ist innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eingelegt worden. Allerdings sind die letzte Seite der Beschwerdeschrift mit der Unterschrift des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin sowie die beigefügten Anlagen erst nach Fristablauf ausgedruckt worden. Die ankommenden Signale sind jedoch von einem Telefaxgerät des Bundesverfassungsgerichts, das einen Internspeicher besitzt, noch am letzten Tag der Frist empfangen worden. Dies ergibt sich aus einem entsprechenden Vermerk auf dem Fax-Ausdruck. Der Zugang eines Telefaxes ist zu fingieren, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die abgesandten Signale eingegangen sind, das Empfangsgerät daraus aber keinen vollständigen Ausdruck gefertigt hat (so schon für den Bereich der Zivilprozessordnung: BGHZ 105, 40 <44 f.>; NJW 1994, S. 1881 <1882>). Die Verfassungsbeschwerde ist damit fristgerecht eingegangen.


II.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Beschwerdeführerin ist offensichtlich in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 69, 381 <385>, stRspr; zuletzt BVerfGE 88, 118 <123 ff.>). Die Gerichte dürfen daher bei Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen (BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; stRspr). Allerdings sind die nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen und zumutbaren Anstrengungen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zu verlangen (BVerfGE 74, 220 <225>). Etwaige Fristversäumnisse, die auf der Verzögerung der Entgegennahme von Schriftsätzen durch das Gericht beruhen, dürfen dem Bürger aber nicht angelastet werden (BVerfGE 52, 203 <207> m.w.N.). Ebensowenig darf auf ihn die Verantwortung für Risiken und Unsicherheiten bei der Entgegennahme rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts gelangter fristwahrender Schriftsätze abgewälzt werden, sofern die Ursache hierfür allein in der Sphäre des Gerichts zu finden ist (BVerfGE 69, 381 <386>).

2. Diesem verfassungsrechtlichen Maßstab werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie überspannen die vom Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin zu erfüllenden Sorgfaltspflichten und wälzen Risiken bei der Benutzung eines Faxgerätes, die allein in der Sphäre des Gerichts liegen, auf den rechtsuchenden Bürger ab.

Das Landesarbeitsgericht hat nicht geklärt, ob die Übermittlung per Telefax wegen Leitungsstörungen oder wegen eines Fehlers am Gerät des Landesarbeitsgerichts gescheitert ist. Das Scheitern war jedenfalls nicht auf eine Überlastung der Leitungen zurückzuführen. Dies ergibt sich aus dem unbestrittenen Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin, bei einem Kontrollanruf sei ein Freizeichen ertönt. In beiden denkbaren Störfällen durften die Gerichte jedoch keine weiteren Anstrengungen des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin zur fristgerechten Übermittlung der Berufungsbegründungen verlangen.

Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in allen Gerichtszweigen uneingeschränkt zulässig (Hoppmann, VersR 1992, S. 1068 ; s. auch BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, NJW-RR 1995, S. 441 <442>). Wird dieser Übermittlungsweg durch ein Gericht eröffnet, so dürfen die aus den technischen Gegebenheiten dieses Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Dies gilt im besonderen für Störungen des Empfangsgeräts im Gericht. In diesem Fall liegt die entscheidende Ursache für die Fristsäumnis in der Sphäre des Gerichts. Aber auch Störungen der Übermittlungsleitungen sind dem gewählten Übermittlungsmedium immanent, da ein Telefax nur über sie zum Empfangsgerät gelangt. Erst Leitungen und Gerät gemeinsam stellen die vom Gericht eröffnete Zugangsmöglichkeit dar. Auch bei einer Leitungsstörung versagt daher die von der Justiz angebotene Zugangseinrichtung. Der Nutzer hat mit der Wahl eines anerkannten Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss bis 24.00 Uhr zu rechnen ist.

Von einem Rechtsanwalt, der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch Boten oder per Post, sondern durch Fax zu übermitteln, kann daher beim Scheitern der gewählten Übermittlung infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder wegen Leitungsstörungen nicht verlangt werden, dass er innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte, vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart sicherstellt. Fristen sollen die Gerichte vor unangemessenen Verfahrensverzögerungen schützen (vgl. BVerfGE 88, 118 <124>). Eine Verzögerung, die allein infolge eines in der Sphäre des Gerichts liegenden Umstandes eintritt, kann in diesem Sinne nicht als unangemessen betrachtet werden.

Die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Auffassung (ähnlich: BGH, NJW 1992, S. 244; NJW 1995, S. 1431 <1432>; BAGE 65, 255 <259>; BSG, AP Nr. 26 zu § 233 ZPO 1977; OLG München, VersR 1991, S. 831) führt zudem zu einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte: Ein Prozessbevollmächtigter, der seinen Schriftsatz bereits am frühen oder späten Nachmittag des letzten Tages der Frist fertiggestellt hat, müsste danach beim Scheitern einer Übermittlung per Telefax unter erheblichem Zeit- und Kostenaufwand alle nur denkbaren Anstrengungen unternehmen, um den fristgerechten Eingang bei Gericht doch noch sicherzustellen. Demgegenüber müsste ein Anwalt, der seinen Schriftsatz erst kurz vor Fristablauf fertigt, ohne weiteres Wiedereinsetzung erhalten, sofern er nur einen fehlgeschlagenen Übermittlungsversuch so zeitig begonnen hat, dass er unter normalen Umständen bis 24.00 Uhr abgeschlossen worden wäre (ähnlich BVerfGE 52, 203 <211 f.>).


III.

Die angegriffenen Entscheidungen sind aufzuheben und die Rechtsstreitigkeiten an das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin zu erstatten (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG).