Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 04.11.2010 - I ZR 190/08 - Zur verbotenen Verwertung von in einem anderen Verfahren gemachten Zeugenaussagen als gerichtsbekannt

BGH v. 04.11.2010: Zur verbotenen Verwertung von in einem anderen Verfahren gemachten Zeugenaussagen als gerichtsbekannt


Der BGH (Urteil vom 04.11.2010 - I ZR 190/08) hat entschieden:
Es verstößt gegen den zivilprozessualen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, wenn ein Gericht Aussagen, die Zeugen vor ihm in einem anderen Verfahren gemacht haben, als gerichtsbekannt verwertet. Die Ergebnisse der Beweisaufnahme in einem anderen Verfahren können im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden, wenn dies von der beweispflichtigen Partei beantragt wird (BGH, Urteil vom 30. November 1999 - VI ZR 207/98, NJW 2000, 1420, 1421).


Siehe auch Zeugenbeweis und Beweiswürdigung


Tatbestand:

Die Klägerin ist Transportversicherer der H. GmbH in K. (im Weiteren: Versenderin). Sie nimmt die Beklagte, die einen Paketbeförderungsdienst betreibt, aus abgetretenem und übergegangenem Recht der Versenderin wegen Verlusts von Transportgut in 13 Fällen in Höhe von 52.172,16 € nebst Zinsen auf Schadensersatz in Anspruch. Alle Transportaufträge wurden im sogenannten EDI-Verfahren abgewickelt. Das Landgericht hat die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung von 50.997,99 € nebst Zinsen verurteilt.

Das Berufungsgericht hat die Klage in seinem ersten Urteil vom 13. Oktober 2004 in Höhe von 41.140,49 € nebst Zinsen für begründet erachtet. Es ist dabei von einer unbeschränkten Haftung der Beklagten gemäß § 425 Abs. 1, § 435 HGB (in vier Schadensfällen) sowie nach Art. 17 Abs. 1, Art. 29 CMR (in neun Schadensfällen) ausgegangen. Ein der Klägerin zurechenbares Mitverschulden der Versenderin wegen unterlassener Wertdeklaration (§ 254 Abs. 1 BGB) oder Unterlassens eines Hinweises auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens (§ 254 Abs. 2 Satz 1 BGB) hat das Berufungsgericht verneint.

Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision der Beklagten unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen aufgehoben, soweit das Berufungsgericht über einen Betrag von 5.100,51 € nebst Zinsen hinaus zum Nachteil der Beklagten erkannt hatte, weil das Berufungsgericht ein der Klägerin zurechenbares Mitverschulden der Versenderin in sechs Schadensfällen (2, 3, 5, 7, 8 und 13) verneint hatte (Urteil vom 30. Januar 2008 - I ZR 165/04, TranspR 2008, 122). Das Berufungsgericht hatte auf der Grundlage des unstreitigen Sachverhalts und der getroffenen Feststellungen zu Unrecht angenommen, es könne nicht festgestellt werden, dass die Beklagte Pakete bei zutreffender Wertangabe mit größerer Sorgfalt behandele, wenn der Wert des Paketinhalts 2.500 € übersteige. Zudem hatte der Senat die weitere Annahme des Berufungsgerichts beanstandet, die Gefahr eines besonders hohen Schadens drohe erst bei einem Paketwert oberhalb von 50.000 US-Dollar.

In dem jetzt mit der Revision angegriffenen Urteil hat das Berufungsgericht in den Schadensfällen 2, 3, 5, 7, 8 und 13 wiederum ein Mitverschulden der Versenderin nach § 254 Abs. 1 und 2 Satz 1 BGB verneint und die Verurteilung der Beklagten erneut in Höhe von 41.140,49 € nebst Zinsen bestätigt.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage, soweit sie zur Zahlung von mehr als 5.100,51 € nebst Zinsen verurteilt worden ist. Die Klägerin beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.


Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat zur Verneinung eines Mitverschuldens der Versenderin ausgeführt:

Der auf die unterlassene Wertdeklaration gestützte Mitverschuldenseinwand scheitere daran, dass sich nicht feststellen lasse, dass die Pakete im Falle einer solchen Deklaration sorgfältiger behandelt worden wären. Der Versand der abhandengekommenen Pakete sei im EDI-Verfahren mit rein elektronischer Übermittlung der Paketdaten erfolgt. Die aus Vernehmungen der von der Beklagten benannten Zeugen S. und C. in anderen Verfahren bekannt gewordene Arbeitsweise im EDI-Verfahren vermittele nicht die Überzeugung, dass die Beklagte die in Rede stehenden Sendungen bei einer EDV-mäßigen Wertdeklaration sorgfältiger als in ihrem Standardverfahren behandelt hätte. Ebenso wenig falle der Klägerin zur Last, dass die Versenderin die Beklagte nicht auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen, nämlich 5.000 € übersteigenden Schadens aufmerksam gemacht habe. Dieses Versäumnis habe sich auf den Geschehensablauf nicht ausgewirkt und nichts zur Schadensentstehung beigetragen. Die Beklagte habe bestätigt, dass sie die Übernahme von Standardpaketen mit einem ihr bekannten Wert von mehr als 5.000 € nicht ablehne, sondern diese ohne Besonderheiten in ihrem Standardverfahren befördere.


II.

Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur erneuten Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

1. Das Berufungsgericht hat seine Annahme, es könne nicht festgestellt werden, dass die abhandengekommenen Pakete im Falle einer Wertdeklaration sorgfältiger behandelt worden wären, hauptsächlich auf die Bekundungen der beiden Mitarbeiter der Beklagten S. und C. gestützt, die diese in einem anderen Verfahren, an dem die Beklagte beteiligt war, gemacht hatten. Es hat den Inhalt der Aussagen dieser Mitarbeiter als gerichtsbekannt angesehen und gemeint, diese Aussagen ebenso würdigen und verwerten zu können wie im vorliegenden Rechtsstreit erhobene Beweise.

2. Mit dieser Verfahrensweise hat das Berufungsgericht gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 ZPO) verstoßen. Der Umstand, dass den Richtern des Berufungsgerichts bekannt war, was die Mitarbeiter der Beklagten S. und C. in einem anderen Verfahren ausgesagt hatten, ändert nichts an dem Grundsatz, dass die Beweisaufnahme nach § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO vor dem Prozessgericht zu erfolgen hat. Die Ergebnisse der Beweisaufnahme in einem anderen Verfahren können zwar im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden, wenn dies von der beweispflichtigen Partei beantragt wird (BGH, Urteil vom 30. November 1999 - VI ZR 207/98, NJW 2000, 1420, 1421). Einen solchen Antrag haben jedoch weder die Klägerin noch die Beklagte gestellt. Die Beklagte hat vielmehr der Würdigung der Aussagen der in einem anderen Verfahren vernommenen Zeugen S. und C. ausdrücklich widersprochen und geltend gemacht, entweder sei eine erneute Beweisaufnahme (Gegenüberstellung) oder eine vollkommen neue Bewertung der Bekundungen notwendig. Es kommt hinzu, dass die in einem anderen Verfahren vernommenen Mitarbeiter S. und C. der Beklagten in diesem Verfahren von keiner Partei als Zeugen benannt worden sind. Auch deshalb durfte das Berufungsgericht deren Bekundungen, die sie in einem anderen Rechtsstreit gemacht haben, nicht ohne weiteres zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens machen.

Der Verstoß des Berufungsgerichts gegen § 355 ZPO ist nicht gemäß § 295 ZPO geheilt worden. Zwar kann auch das Recht, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zu rügen, nach § 295 ZPO verlorengehen (BGH, Urteil vom 9. Januar 1997 - III ZR 162/95, NJW-RR 1997, 506 mwN). Hier ist der Verstoß gegen § 355 ZPO jedoch erst durch das Urteil selbst offengelegt worden. In einem solchen Fall ist kein Raum für eine Heilung des Mangels, weil die betroffene Partei keine Möglichkeit hatte, den Fehler zu rügen (BGH, NJW-RR 1997, 506).

3. Die Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme stellt einen Verfahrensfehler dar, der - soweit er nicht geheilt worden ist - dazu führt, dass ein dadurch gewonnenes Beweisergebnis nicht verwertet werden darf und eine darauf beruhende Entscheidung aufgehoben werden muss. So liegt der Fall hier. Das Berufungsgericht hat seine Feststellungen zur Arbeitsweise der Beklagten im EDI-Verfahren maßgeblich auf die in diesem Verfahren nicht verwertbaren Aussagen der Mitarbeiter S. und C. der Beklagten in einem anderen Rechtsstreit gestützt. Ohne die verfahrensfehlerhaft verwerteten Bekundungen fehlt dem angefochtenen Urteil eine tragfähige Grundlage.

4. Die Revision rügt auch mit Erfolg einen Verstoß des Berufungsgerichts gegen den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Beklagte hat in ihrer Klageerwiderung im Einzelnen dargelegt, auf welche Weise Wertpakete mit einer Wertdeklaration von mehr als 2.500 € befördert werden. Diesen Vortrag, auf den die Beklagte in zweiter Instanz Bezug genommen hat, hat die Beklagte durch die Benennung eines Zeugen unter Beweis gestellt. Auf die Vernehmung des von ihr benannten Zeugen hat die Beklagte im Berufungsverfahren nicht verzichtet. Dies ergibt sich aus ihrem Vortrag im Schriftsatz vom 13. Mai 2008, in dem die Beklagte geltend gemacht hat, sie habe erst- und zweitinstanzlich ausführlich zur besonderen Behandlung von Wertpaketen vorgetragen und Beweis angetreten. Das Berufungsgericht hätte den erstinstanzlichen Beweisantritt der Beklagten daher im Berufungsverfahren berücksichtigen müssen.


III.

Danach ist das Berufungsurteil auf die Revision der Beklagten aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Soweit der Tenor des angefochtenen Urteils neu gefasst und die Beklagte zur Zahlung von 41.140,49 € nebst Zinsen verurteilt worden ist, bezieht dieser Ausspruch die aufgrund des Senatsurteils vom 30. Januar 2008 rechtskräftige Verurteilung der Beklagten in Höhe von 5.100,51 € mit ein. Gleichwohl ist das Berufungsurteil insgesamt aufzuheben, weil das Berufungsgericht nur über den 5.100,51 € übersteigenden Betrag von 36.039,98 € entschieden hat.