Das Verkehrslexikon

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Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 21.01.1999 - 3 C 9/98 - Zur Zulässigkeit von Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen

BVerwG v. 21.01.1999: Zur Zulässigkeit von Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen


Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 21.01.1999 - 3 C 9/98) hat entschieden:
Ist davon auszugehen, dass die auf einem bestimmten Streckenabschnitt - im Gegensatz zu benachbarten Abschnitten - beobachtete deutlich erhöhte Unfallhäufigkeit auf eine erhöhte Verkehrsdichte zurückzuführen war, welcher die Verkehrsteilnehmer nicht mit entsprechend herabgesetzten Geschwindigkeiten entsprochen hatten, dann ist die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung für diesen Abschnitt rechtmäßig.


Tatbestand:

Der Kläger, der in A. wohnt und in H. beruflich tätig ist und deshalb nach seinem Vorbringen täglich mit einem Pkw die Bundesautobahn (BAB) A 1 benutzt, wendet sich gegen eine im Jahre 1994 dort - zwischen dem AK H.-O. und der AS A. für beide Fahrtrichtungen - angeordnete verkehrsbeschränkende Maßnahme im Sinne des § 45 Abs. 1 StVO (Höchstgeschwindigkeitsbegrenzung auf 120 km/h in Form des Verkehrszeichens 274 im Sinne des § 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO; im folgenden: Maßnahme).

Das beklagte Landesamt ordnete die Maßnahme auf Initiative des Ministers für Wirtschaft, Technik und Verkehr sowie nach Einholung entsprechender Stellungnahmen namentlich der Verkehrspolizeidirektion an. Ihr lag die Einschätzung zugrunde, dass sich der betroffene Streckenabschnitt in den vorhergehenden Jahren als besonders unfallauffällig erwiesen habe. In den Verkehrsspitzenzeiten (Berufspendler- und Urlaubsverkehr) komme es darüber hinaus des öfteren zu Staubildungen mit der Gefahr des Auffahrens. Gerade im Vergleich zu den sich in nördlicher Richtung anschließenden Abschnitten sei ein auffallender Anstieg der Unfallzahlen zu beobachten. Überwiegend sei dieser Anstieg auf überhöhte Geschwindigkeiten zurückzuführen. Die Maßnahme diene daher "zur Verminderung der von der vorhandenen Dishomogenität der gefahrenen Geschwindigkeiten und den daraus resultierenden gefährlichen Fahrstreifenwechseln bei oft nicht ausreichenden Sicherheitsabständen ausgehenden Gefahren für die Verkehrssicherheit". Die Verkehrszeichen wurden am 1. September 1994 aufgestellt. Den vom Kläger erhobenen Widerspruch hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1994 zurückgewiesen.

Die auf Aufhebung der Maßnahme gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 StVO lägen vor; die ermittelten Unfallzahlen rechtfertigten die Annahme einer konkreten Gefahrensituation im fraglichen Teilabschnitt. Eine lückenlose Zuordnung der einzelnen Unfälle zur Ursachenkategorie der überhöhten Geschwindigkeit sei nicht erforderlich; es reiche aus, dass ein nicht unerheblicher Teil der Unfälle nach den eingeholten Stellungnahmen, deren Korrektheit nicht in Zweifel zu ziehen sei, auf nicht angepasste Geschwindigkeiten zurückzuführen sei. Dass der Beklagte keine sachfremden Erwägungen angestellt habe, werde durch den Umstand belegt, dass die ursprünglich erwogene Ausdehnung der Maßnahme in nördlicher Richtung nicht durchgeführt worden sei; die ermittelten Unfalldaten hätten dies nicht gerechtfertigt. Der Kläger dürfe auch nicht verlangen, dass differenziertere Regelungen statt der pauschalen Geschwindigkeitsbegrenzung getroffen werden müssten.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers, mit der hilfsweise die Aufhebung der Maßnahme während verkehrsarmer Zeiten beansprucht worden ist, mit folgender Begründung zurückgewiesen:

Die für die Maßnahme vorauszusetzenden Gründe der Verkehrssicherheit lägen vor, wenn - wie es sich im Streitfall verhalte - Verkehrsbeobachtungen und Unfalluntersuchungen ergeben hätten, dass Fahrzeugführer eine den verkehrlichen Gegebenheiten angepasste, Zusammensetzung und Dichte der jeweiligen Verkehrsströme angemessen berücksichtigende Fahrgeschwindigkeit nicht einhielten und sich diese Verhaltensweise in einer evidenten Häufung von Unfällen niederschlage. Die diesbezüglichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts seien zutreffend. Gerade weil sich der erfasste Autobahnteilabschnitt nach seinem großzügig gestalteten Ausbauzustand und dem geradlinigen, übersichtlichen Streckenverlauf nicht nennenswert von dem nördlichen Anschlussabschnitt unterscheide, welcher keine annähernd vergleichbare Unfallhäufung aufweise, sei im übrigen die Annahme naheliegend, dass sich den Verkehrsteilnehmern die Gefährlichkeit des erfassten Abschnitts nicht ohne weiteres erschließe. Deshalb bedürfe es der Maßnahme in besonderer Weise.

Der Berufung müsse auch der Erfolg versagt bleiben, soweit der Kläger hilfsweise eine begrenzte Aufhebung der Maßnahme beanspruche. Die Entscheidung darüber, wie eine erforderliche verkehrsbeschränkende Anordnung ausgestaltet wird, liege im pflichtgemäßen Ermessen der Straßenverkehrsbehörde. Dieser komme zum einen hinsichtlich der Beurteilung der Verkehrssituation eine Einschätzungsprärogative zu, und zum anderen müsse im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung Berücksichtigung finden, dass eine Verkehrsbeschränkung die zu regelnde Verkehrssituation ihrem Wesensgehalt nach notwendigerweise (nur) grob und verallgemeinernd abgreifen könne und sich insoweit darauf beschränken dürfe, den Regelsachverhalt angemessen zu erfassen. Deswegen unterliege es keinen Bedenken, dass der Beklagte aus Gründen der Übersichtlichkeit der Regelung und der Klarheit des Verbots auf eine zeitliche Differenzierung verzichtet habe. Im übrigen könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass in den vermeintlich verkehrsärmeren Zeitabschnitten immer gleiche Verhältnisse herrschten, die durch eine einfache und übersichtliche Regelung erfasst werden könnten. Vielmehr träten gerade auf der BAB A 1 im Wochenend-, Ferien- und Sonntagabendverkehr (wegen des dann wieder beginnenden Lkw- Verkehrs) nicht der Regel entsprechende Belastungsspitzen auf.

Zur Begründung der Revision macht der Kläger geltend: Das Berufungsgericht habe der Behörde für deren Entscheidung, welche zeitliche Ausdehnung der Maßnahme erforderlich ist, keine Einschätzungsprärogative zugestehen dürfen. Keine der insoweit in der Rechtsprechung und im Schrifttum anerkannten Fallgruppen sei im Streitfall einschlägig. Vielmehr gehe es darum, ob die vom Kläger geforderte zeitliche Begrenzung der Maßnahme gegenüber der nicht eingegrenzten ein minder intensiver (aber gleich wirksamer) Eingriff sei. Deshalb hätte das Gericht die Notwendigkeit der Geschwindigkeitsbegrenzung umfassend prüfen müssen und die unbeschränkte Maßnahme nur dann billigen dürfen, wenn es aufgrund von Ermittlungen zu Verkehrsdichte, Unfallhäufigkeit und Unfallursachen einen Sachverhalt festgestellt hätte, der auch in typischerweise verkehrsärmeren Zeitabschnitten die Maßnahme plausibel erscheinen lasse. Anderenfalls sei das Übermaßverbot verletzt.

Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für im Ergebnis zutreffend. Das Oberverwaltungsgericht habe die maßgeblichen tatsächlichen wie rechtlichen Beurteilungen von der Annahme einer Einschätzungsprärogative unbeeinflusst vorgenommen. Lediglich bei der Prognose, ob auch eine zeitlich eingegrenzte Maßnahme als gleichwirksam einzuschätzen sei, habe das Gericht der Exekutive einen Einschätzungsspielraum zugebilligt; dies sei nicht zu beanstanden, zumal die insoweit zugrunde gelegte tatsächliche Annahme nachvollziehbar sei, eine ausdifferenzierte zeitliche Begrenzung der Maßnahme müsse verwirrend und gefahrerhöhend ausfallen.

Der Oberbundesanwalt vertritt die Auffassung, dass sich die Straßenverkehrsordnung im Grundsatz dafür entschieden habe, im Autobahnverkehr keine höchstzulässige Geschwindigkeit (sondern lediglich eine Richtgeschwindigkeit von 130 km/h) vorzuschreiben; daher dürfe die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung nicht auf allgemeinen Erwägungen der Gefahrenabwehr bzw. der Verkehrssicherheit beruhen, sondern müsse durch die Verkehrssituation vor Ort zwingend indiziert sein. Eine Einschätzungsprärogative stehe der Behörde insoweit nicht zu. Das gelte auch für die Frage, ob eine Maßnahme alltäglich bzw. ganztägig oder nur für bestimmte Tage bzw. Tages- oder Nachtzeiten zwingend notwendig sei.


Entscheidungsgründe:

Die Revision ist unbegründet. Das angefochtene Berufungsurteil verletzt nicht Bundesrecht im Sinne des § 137 Abs. 1 VwGO. Es ist auf der Grundlage der vom Oberverwaltungsgericht festgestellten Tatsachen, an die der erkennende Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden ist, nicht zu beanstanden. Seine Annahme, die Voraussetzungen für die angegriffene Maßnahme lägen vor (1.) und der Kläger könne auch nicht verlangen, dass andere, ihn weniger belastende Maßnahmen - namentlich eine zeitliche Eingrenzung der angeordneten Geschwindigkeitsbegrenzung - hätten ergriffen werden müssen (2.), steht mit den Maßstäben in Einklang, die vom Bundesverwaltungsgericht für verkehrsbeschränkende Anordnungen im Sinne des § 45 Abs. 1 StVO i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG entwickelt worden sind (vgl. allgemein: Urteil vom 27. Januar 1993 - BVerwG 11 C 35.92 - BVerwGE 92, 32; speziell für Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen: Beschluss vom 12. September 1995 - BVerwG 11 B 23.95 - Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 34; jeweils m.w.N.). Dabei ist von der zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht am 11. Juni 1997 gültigen Fassung der genannten Vorschriften auszugehen; ob die Maßnahme auch dann Bestand hätte, wenn in die rechtlichen Erwägungen die durch die Vierundzwanzigste Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 7. August 1997 (BGBl I 2028) angefügte Vorschrift des § 45 Abs. 9 StVO sowie der neu gefasste § 39 Abs. 1 StVO einzustellen gewesen wären, lässt der Senat mangels Entscheidungserheblichkeit offen.

1. Der Kläger macht mit der Revision nicht (mehr) geltend, die dem Berufungsurteil zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnisse auf dem in Rede stehenden Streckenabschnitt der Bundesautobahn hätten nicht die Bewertung als konkrete Gefahr gerechtfertigt, welcher mit der Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung begegnet werden durfte. Die Revisionsbegründung setzt nämlich erst an den - auf S. 16 beginnenden - Ausführungen im angefochtenen Urteil an, die den hilfsweise geltend gemachten Anspruch des Klägers auf eine zeitliche Eingrenzung der Maßnahme verneinen und - nur - in diesem Zusammenhang die von der Revision beanstandeten Darlegungen zu einer "Einschätzungsprärogative" der Straßenverkehrsbehörde enthalten. Dem entspricht es, dass die Revision die mit der Nichtzulassungsbeschwerde vorgebrachte Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) weder ausdrücklich noch sinngemäß - durch Bezugnahme (vgl. hierzu Urteil vom 25. Oktober 1988 - BVerwG 9 C 37.88 - BVerwGE 80, 321 <323>) - wiederholt hat.

In tatsächlicher Hinsicht ist daher davon auszugehen, dass die auf dem streitigen Streckenabschnitt - im Gegensatz zu benachbarten Abschnitten - beobachtete deutlich erhöhte Unfallhäufigkeit auf eine erhöhte Verkehrsdichte zurückzuführen war, welcher die Verkehrsteilnehmer nicht mit entsprechend herabgesetzten Geschwindigkeiten entsprochen hatten. Auf dieser Grundlage ist die Auffassung des Berufungsgerichts, das unangepasste Fahrverhalten der Autofahrer stelle eine Gefahr für die Sicherheit des Verkehrs im Sinne des § 45 Abs. 1 StVO dar, rechtlich nicht zu beanstanden. Da die festgestellte "evidente Häufung von Unfällen" auf dem Streckenabschnitt auf überhöhte Geschwindigkeiten zurückzuführen ist, sind sowohl das von dem Beklagten angestrebte Ziel (Senkung der Unfallzahlen zumindest auf das Niveau der angrenzenden Streckenabschnitte) als auch das hierzu ausgewählte Mittel der Geschwindigkeitsbeschränkung rechts- und ermessensfehlerfrei. Der Kläger hat selbst nicht geltend gemacht, dass ein anderes Mittel zur Bekämpfung der Gefahr zu Verfügung stünde.

2. Kann mithin an der grundsätzlichen Zulässigkeit der angeordneten Maßnahme nicht gezweifelt werden, dringt der Kläger auch nicht mit der Rüge durch, das Oberverwaltungsgericht habe bei der Prüfung der zeitlichen Ausdehnung der Geschwindigkeitsbegrenzung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet.

a) Freilich ist der Revision zuzugeben, dass der gleichzeitige Gebrauch der Begriffe "pflichtgemäßes Ermessen" sowie "Einschätzungsprärogative" durch das angefochtene Urteil im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Argument, eine Begrenzung der angeordneten Maßnahme auf Verkehrsspitzenzeiten würde ein gleiches positives Ergebnis hervorgerufen haben, zumindest missverständlich ist. Insoweit bleibt zum einen festzuhalten, dass einer Straßenverkehrsbehörde kein Ermessen zusteht bei der Frage, ob ein milderes Mittel gleich wirksam ist (vgl. Urteil vom 27. Januar 1993, a.a.O. ). Zum anderen gilt unverändert, dass eine "Einschätzungsprärogative" der Tatbestandsseite der Norm im Zusammenhang mit unbestimmten Rechtsbegriffen zuzuordnen ist (vgl. aus neuer Zeit Urteil vom 19. März 1998 - BVerwG 2 C 5.97 - Buchholz 237.6 § 39 Nds LBG Nr. 9 m.w.N. ; vgl. demgegenüber das Urteil des Senats vom 25. November 1993 - BVerwG 3 C 38.91 - BVerwGE 94, 307: kein Beurteilungsspielraum bei der Zuerkennung von Weinprädikaten), während das Ermessen die Rechtsfolgenseite betrifft (vgl. Urteil vom 25. Juli 1985 - BVerwG 3 C 25.84 - BVerwGE 72, 38 <53>).

b) Gleichwohl kann die Versagung des klägerischen Hilfsbegehrens nicht beanstandet werden, weil die insoweit tragende Begründung des Oberverwaltungsgerichts einer Überprüfung anhand zutreffender Maßstäbe standhält; sie lautet nämlich der Sache nach beanstandungsfrei dahin, dass es gerade auf der streitigen Autobahn wegen im Verlaufe des Jahres wechselnden Wochenend- und Ferienverkehrs sowie wegen des internationalen Lkw-Verkehrs nicht möglich sei, trennscharf und für die Verkehrsteilnehmer leicht nachvollziehbar verkehrsarme von verkehrsreichen Zeiten zu scheiden. Die Richtigkeit dieser Annahme erschließt sich ohne weiteres vor dem Hintergrund der insoweit festgestellten bzw. offenkundigen Tatsachen; namentlich bedingt der Charakter der in Rede stehenden Bundesautobahn als Verbindung Skandinaviens mit der Bundesrepublik Deutschland und den westlich und südlich angrenzenden Ländern, d.h. mit Ländern, die ganz verschiedene Urlaubs- und Ferienzeiten aufweisen, dass bereits erhebliche Unterschiede im jahreszeitlichen Verkehrsaufkommen einer Freihaltung bestimmter Tage oder Tageszeiten von der Maßnahme entgegenstehen. Eine diesen Unterschieden Rechnung tragende Regelung hätte zur Folge, dass die Verkehrsteilnehmer durch entsprechend differenzierte Anordnungen in unvertretbarer Weise verwirrt würden. Soweit möglicherweise radargesteuerte Verkehrsleitsysteme zur Lösung der zu bewältigenden Probleme tauglich sind, hat der Beklagte im Laufe des Verfahrens in nicht zu beanstandender Weise auf die erheblichen Kosten dieser Systeme hingewiesen. Damit erweist sich der Angriff der Revision als erfolglos, weil die vorstehende vom Berufungsgericht gegebene Begründung für eine Widerlegung der klägerischen Auffassung auch auf der Grundlage umfassender Prüfungsbefugnisse eines Gerichts zureicht.