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Amtsgericht Gießen Urteil vom 22.01.2010 - 49 C 1023/08 - Zur Kollision eines vorbeifahrenden Fahrzeugs mit einer nicht in die Fahrbahn ragenden geöffneten Fahrzeugtür eines parkenden Pkw

AG Gießen v. 22.01.2010: Zur Kollision eines vorbeifahrenden Fahrzeugs mit einer nicht in die Fahrbahn ragenden geöffneten Fahrzeugtür eines parkenden Pkw


Das Amtsgericht Gießen (Urteil vom 22.01.2010 - 49 C 1023/08) hat entschieden:
Kommt es zu einem Unfall zwischen einem fahrenden Fahrzeug und einem in einer Parkbucht abgestellten Pkw, dessen geöffnete Fahrertür jedoch nicht über den Rinnstein hinaus in die Fahrbahn hineinragt, so haftet der Fahrer des fahrenden Pkw allein, weil er den gebotenen Sicherheitsabstand zum rechten Fahrbahnrand von mindestens einem Meter nicht eingehalten hat.


Tatbestand:

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls gegen die Beklagte geltend. Die Beklagte verlangt widerklagend Schadensersatz wegen desselben Verkehrsunfalls.

Die Klägerin ist Eigentümerin eines Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ... welches im Unfallzeitpunkt bei der Widerbeklagten zu 3) haftpflichtversichert war. Die Beklagte ist Fahrerin und Halterin des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ....

Am 14.04.2008 befuhr der Widerbeklagte zu 2) mit dem klägerischen Fahrzeug gegen 9.20 Uhr die ... Straße in ... Die Beklagte befand sich mit ihrem Pkw zu diesem Zeitpunkt ebenfalls auf der ... Straße in gleicher Fahrtrichtung am rechten Fahrbahnrand. Es kam zu einer Kollision zwischen dem klägerischen Fahrzeug und dem Pkw der Beklagten, als der Widerbeklagte zu 2) an dem Beklagtenfahrzeug vorbeifuhr und gegen dessen geöffnete Fahrertür fuhr. An dem klägerischen Pkw entstand ein Schaden im Bereich der rechten Fahrzeugseite. Der Pkw der Beklagten wurde im Bereich der Fahrertür beschädigt. Der Klägerin ist ein materieller Schaden in Höhe von 2.975,15 Euro sowie Rechtsanwaltskosten in Höhe von 316,18 Euro entstanden. Der der Beklagten entstandene Schaden beziffert sich auf 5.021,90 Euro. Wegen des genauen Schadensumfangs wird auf die Aufstellungen in den Schriftsätzen vom 25.05.2008 sowie 17.09.2008 Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 02.09.2008 hat die Haftpflichtversicherung der Beklagten den der Klägerin entstandenen materiellen Schaden in Höhe von 1.089,58 Euro sowie die außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 316,18 Euro reguliert.

Die Klägerin behauptet, die Beklagte habe am Fahrbahnrand angehalten. Als der Widerbeklagte zu 2) mit dem klägerischen Fahrzeug fast auf gleicher Höhe gewesen sei, habe die Beklagte ohne auf den rückwärtigen Verkehr zu achten, die Fahrertür plötzlich aufgezogen. Sie bestreitet pauschal die Höhe der Widerklage.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.975,15 Euro nebst 5 Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 06.05.2008 sowie außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 316,18 Euro nebst 5 Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit abzüglich am 02.09.2008 insgesamt gezahlte 1.405,76 Euro zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Widerklagend beantragt die Beklagte,
die Klägerin, den Widerbeklagten zu 2) und die Widerbeklagte zu 3) als Gesamtschuldner zu verurteilen, 5.021,90 Euro nebst 5 Prozent Zinsen seit dem 15.04.2008 an die Beklagte zu zahl
en. Die Beklagte behauptet, sie habe ihren Pkw ordnungsgemäß in der hierfür vorgesehenen Parkbucht neben dem rechten Straßenrand an der ... Straße abgestellt. Die Fahrertür habe nicht in die Fahrbahn hineingeragt. Weiterhin habe sie vor dem Öffnen der Tür den rückwärtigen Verkehr durch einen Blick in den Rückspiegel und einen Schulterblick beobachtet. Dies sei nicht plötzlich geschehen. Der Widerbeklagte zu 2) sei vielmehr in die bereits mehrere Sekunden offen stehende Tür gefahren.

Die Klägerin, der Widerbeklagte zu 2) sowie die Widerbeklagte zu 3) beantragen,
die Widerklage und Drittwiderklage abzuweisen.
Die Klägerin, der Widerbeklagte zu 2) sowie die Widerbeklagte zu 3) behaupten, die Beklagte habe vor dem Öffnen der Tür nicht in den Rückspiegel geschaut und diese plötzlich geöffnet, als sich der Widerbeklagte zu 2) bereits auf gleicher Höhe wie das Fahrzeug der Beklagten befunden habe.

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 20.02.2009 durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. ... vom 07.08.2009 sowie das Sitzungsprotokoll vom 08.12.2009 Bezug genommen.

Die polizeiliche Ermittlungsakte der Polizeistation ... – wurde beigezogen und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Schadensersatz gemäß §§ 7, 18 StVG. Der Widerbeklagte zu 2) ist als Fahrer des klägerischen Pkw für den Unfall verantwortlich, weil er den gebotenen Sicherheitsabstand zum rechten Fahrbahnrand nicht eingehalten hat. Der Abstand zwischen dem klägerischen Pkw und dem Fahrzeug der Beklagten betrug zum Zeitpunkt der Kollision weniger als einen Meter. Ausweislich der polizeilichen Fotos, die den Standort des Beklagtenfahrzeugs, unmittelbar an dem an den rechten Fahrbahnrand angrenzenden Rinnstein, dokumentieren, betrug der Abstand zwischen diesem und der Fahrbahn nur wenig mehr als 50 cm, die Breite des Rinnsteins. Gemäß § 2 Abs. 2 StVO ist möglichst weit rechts zu fahren, nicht nur bei Gegenverkehr, beim Überholtwerden, an Kuppen, in Kurven oder bei Unübersichtlichkeit. Das Rechtsfahrgebot bedeutet dabei nicht äußerst oder soweit rechts wie technisch möglich, sondern angemessen weit rechts, soweit wie ohne Gefährdung möglich, unter Einhaltung von etwa einem Meter zum rechten Fahrbahnrand, zu fahren. Ausnahmen, die einen geringeren Abstand zum rechten Fahrbahnrand rechtfertigen, kommen nur bei besonderen Umständen in Betracht. Dies ist im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben.

Ein Sorgfaltspflichtverstoß der Beklagten, aus dem sich ein Mitverschulden dieser ergibt, besteht nicht. Ein solcher ist insbesondere nicht daraus herzuleiten, dass die Beklagte die Fahrertür ihres Pkw geöffnet hat, da sie die ihr gemäß § 14 StVO obliegenden Pflichten beim Ein- und Aussteigen beachtet hat. Danach muss sich derjenige, der ein- oder aussteigt so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, Abs. 1. Insbesondere darf er die Tür zum aussteigen nicht rasch und zu weit öffnen, ohne sich vorher ausreichend umgeschaut zu haben. Auf die Frage, ob die Beklagte sich vor dem Türöffnen zuvor ausreichend umgeschaut hat und wie lange die Tür im Zeitpunkt der Kollision bereits offen gestanden hat, kommt es hier nicht an. Die Beklagte hat die Tür jedenfalls nicht in verkehrsgefährdender Weise geöffnet, da die geöffnete Tür nicht in die Fahrbahn hineingeragt hat. Nach rechts schließt sich im Bereich der Unfallstelle ein gepflasterter Rinnstein an die Fahrbahn an. Der Rinnstein zählt jedoch nicht mehr zur Fahrbahn. Die Fahrbahn ist durch die Art ihrer Befestigung oder durch eine Fahrbahnbegrenzung (Z 295) gekennzeichnet. Breite und Grenzen der befestigten Fahrbahn müssten äußerlich deutlich sichtbar sein /vgl. Hentschel/König/Dauer, 40. Aufl. 2009, § 2 Rn. 24). Im vorliegenden Fall wird die eigentliche Fahrbahn äußerlich sichtbar durch den gepflasterten Rinnstein abgegrenzt.

Dass die geöffnete Fahrertür des in der dafür vorgesehenen Parkbucht gestanden Fahrzeugs der Beklagten nicht über den Rinnstein hinaus in die Fahrbahn hineingeragt hat, steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts fest, § 286 Abs. 1 ZPO.

Der Sachverständige ist in seinem Gutachten zu folgendem Ergebnis gekommen:

Der Rinnstein an der Unfallstelle weist eine Breite von 0,5 Meter auf. Bei dem Unfall ist es nicht zu einem Abgleiten der Türkante entlang des Klägerfahrzeugs und auch nicht zu einem Umschlagen der Tür nach vorn, sondern zu einer Verhakung gekommen. Aufgrund dessen muss die Tür mit einem Winkel von ca. 30 bis 35 Grad geöffnet gewesen sein. Damit ragte die Hinterkante der geöffneten Tür um 45 bis 50 cm über den Rinnstein an den äußeren Rand des Rinnsteins heran. Damit die Tür des Beklagtenfahrzeugs das festgestellte Schadensbild aufweist, ragt die hintere Türkante bei der Kollision nicht über den gepflasterten Rinnstein hinaus. Wäre dies der Fall gewesen, dann hätte ein Umschlagen der Tür nach vorne stattgefunden.

Das Gericht folgt den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen. Das Gutachten ist in sich schlüssig und nachvollziehbar. Insbesondere ist der Sachverständige von zutreffenden Tatsachen ausgegangen und hat die daraus gezogenen Konsequenzen logisch und widerspruchsfrei dargestellt.

Daher ergibt sich für die Klägerin eine Haftungsquote von 100 Prozent. Eine Betriebsgefahr für ein stehendes Fahrzeug, das nicht in die Fahrbahn ragt, ist nicht anzurechnen.

Die Widerklage und Drittwiderklage sind ebenfalls zulässig und darüber hinaus begründet.

Die örtliche Zuständigkeit für die Widerklage folgt bezüglich der Klägerin aus § 32 ZPO. Die sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts wurde im Wege rügeloser Einlassung gemäß § 39 Satz 1 ZPO begründet. Die örtliche Zuständigkeit für die Drittwiderklage folgt für den Widerbeklagten zu 2) aus § 32 ZPO, für die Widerbeklagte zu 3) aus § 20 StVG.

Der Beklagten ist es auch nicht verwehrt, den Fahrer des klägerischen Pkw sowie die Haftpflichtversicherung der Klägerin als weitere Widerbeklagte in den Prozess einzubeziehen. Der für die Widerklage geltende Grundsatz der Parteiidentität gilt bei der Einbeziehung Dritter lediglich mit der Einschränkung, dass sich die Widerklage zumindest auch gegen die Klägerin richten muss und die Voraussetzungen der nachträglichen Parteierweiterung gegeben sind. Dies ist zum einen das Vorliegen einer nachträglichen Streitgenossenschaft gemäß §§ 59, 60 ZPO zwischen der Klägerin und den Dritten, zum anderen entweder deren Einwilligung oder die Sachdienlichkeit analog § 263 2. Alternative ZPO. Der Widerbeklagte zu 2) und die Widerbeklagte zu 3) haben im Schriftsatz vom 10.11.2008 eingewilligt, § 263 Alternative 1 ZPO. Die Zulässigkeit der durch die Einbeziehung entstandenen nachträglichen subjektiven Klagehäufungen folgt aus § 260 ZPO analog.

Die zulässige Widerklage und Drittwiderklage sind auch begründet. Die Beklagte hat einen Schadensersatzanspruch gegen die Klägerin, den Widerbeklagten zu 2) und die Widerbeklagte zu 3) aus §§ 7, 18 StVG, 115 VVG. Dies folgt aus denselben Gründen, auf denen die Entscheidung über die Unbegründetheit der Klage beruht.

Die Höhe der Widerklage ist unstreitig. Das pauschale Bestreiten durch die Klägerin ist unzulässig. Der Widerklägerin sind auch die gesetzlichen Zinsen ab Rechtshängigkeit der Widerklage zuzusprechen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Satz 1 ZPO.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.