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OLG Hamm Urteil vom 16.08.2000 - 13 U 20/00 - Zur groben Fahrlässigkeit bei Überfahren eines nur mit Andreaskreuzen gesicherten unbeschrankten Bahnübergangs

OLG Hamm v. 16.08.2000: Zur groben Fahrlässigkeit bei Überfahren eines nur mit Andreaskreuzen gesicherten unbeschrankten Bahnübergangs


Das OLG Hamm (Urteil vom 16.08.2000 - 13 U 20/00) hat entschieden:
Die Sorgfaltsanforderung des § 19 StVO gehören zu den höchsten Anforderungen, die die StVO überhaupt einem Verkehrsteilnehmer abverlangt. Ein Kraftfahrer, der sich einem unbeschrankten Bahnübergang nähert, hat ganz besondere Aufmerksamkeit aufzubringen und muss seine Fahrweise und insbesondere seine Geschwindigkeit so einrichten, dass er in der Lage ist, vor einem herannahenden Zug anzuhalten und diesem Vorrang zu gewähren. Ist die Strecke unübersichtlich, dann muss er ggf. mit Schrittgeschwindigkeit an den Übergang heranfahren und notfalls sogar halten, bis er beurteilen kann, dass die Strecke frei ist. Hiergegen hat der Zeuge Z verstoßen. Ein Verstoß gegen die besondere Sorgfaltspflicht des § 19 StVO wiegt besonders schwer und ist objektiv grob fahrlässig.


Tatbestand:

Die Klägerin verlangt aus übergegangenem Recht von dem beklagten Haftpflichtversicherer Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls vom 13.02.1995 in K bei C, bei dem der Beifahrer des bei dem Beklagten versicherten Fahrers Z zu Tode kam. Die Parteien sind sich einig, dass sich der Unfall bei einer betrieblichen Tätigkeit ereignet hat, bei dem der grundsätzliche Haftungsausschluss gem. § 637 RVO dann nicht gilt, wenn der Unfall grob fahrlässig herbeigeführt ist.

Zum Unfall ist es wie folgt gekommen:

Der Zeuge Z hatte am Unfalltag mit drei weiteren Kollegen auf dem Wasserschloss K gearbeitet. Er war gegen 07.00 Uhr morgens dorthin gefahren und befand sich zum Unfallzeitpunkt auf dem Rückweg. Zum Wasserschloss führt eine ca. 300 m lange Zufahrtstraße. Etwa in der Mitte befindet sich ein unbeschrankter Bahnübergang, der - vom Wasserschloss kommend - nur durch zwei Andreaskreuze gesichert ist, die rechts und links vor dem Bahnübergang aufgestellt sind. Der Zeuge Z überfuhr den Bahnübergang mit seinem Nissan Sunny und wurde von dem von rechts kommenden Zug erfasst. Das Fahrzeug wurde etwa 80 m mitgeschleift. Der Beifahrer kam ums Leben, Z selbst wurde schwer verletzt. Im Strafverfahren wurde Z wegen fahrlässiger Beeinträchtigung der Sicherheit des Bahnverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 40,00 DM verurteilt. Daneben wurde ihm für die Dauer von einem Monat die Fahrerlaubnis entzogen.

Die Klägerin, eine Bau-Berufsgenossenschaft, hält das Verhalten des Zeugen Z für grob fahrlässig und verlangt Ersatz ihrer Aufwendungen i.H.v. unstreitig 168.377,50 DM.

Wegen des Sachverhalts im einzelnen und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat grobe Fahrlässigkeit verneint und die Klage abgewiesen. Das Landgericht hat ausgeführt, es könne im einzelnen nicht festgestellt werden, dass sich der Fahrer im besonderen Maße unaufmerksam gezeigt habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin. Die Klägerin ist der Auffassung, dass es sich bei der Missachtung des § 19 StVO um einen besonders schwerwiegenden Verkehrsverstoß handelt, der objektiv grob fahrlässig begangen worden sei. Subjektiv sei dieses Verhalten nicht zu entschuldigen, da der Zeuge Z in hohem Maße unaufmerksam gewesen sei und mehrere Warnhinweise missachtet habe. So habe er nicht auf die zweimaligen Pfeifsignale des Zuges geachtet, die unüberhörbar seien, und auch nicht auf die beiden weithin sichtbaren Andreaskreuze reagiert.

Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils
  1. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 168.377,50 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 27. August 1999 zu zahlen,

  2. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren Aufwendungen zu ersetzen, die diese aus dem Verkehrsunfall vom 13.02.1995 in K wegen der Eintrittspflicht für den bei ihr versicherten und bei diesem Unfall getöteten Herrn B entstanden sind und künftig entstehen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Er ist der Auffassung, dass der Unfall in erster Linie darauf zurückzuführen sei, dass der Bahnübergang unzureichend gesichert gewesen sei. Ein etwaiges Überhören des Pfeiftons und das zu späte Erkennen der Andreaskreuze habe demgegenüber geringeres Gewicht und verdiene nicht den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit. Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze verwiesen. Die Akten 500 Js 5447/95 StA Chemnitz lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Der Senat hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen Z und des Sachverständigen Q. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den im allseitigen Einverständnis gefertigten Berichterstattervermerk als Anlage zum Protokoll vom 16.08.2000 verwiesen.


Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet.

Die Klägerin kann aus übergegangenem Recht Schadensersatz gem. §§ 823 BGB, 3 Nr. 1 PflVG, 640 RVO i.H.v. 168.377,50 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 27.08.1999 verlangen.

Der Zeuge Z hat den Verkehrsunfall vom 13.02.1995 grob fahrlässig herbeigeführt, so dass die Haftungsfreistellung gem. §§ 637, 640 RVO entfällt.

1. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und wer unbeachtet gelassen hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (BGH VersR 89, 582). Neben einer objektiv grob verkehrswidrigen Fahrweise muss daneben auch subjektiv eine gesteigerte persönliche Vorwerfbarkeit festgestellt werden. Dabei kann vom äußeren Geschehensablauf und vom Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte Vorwerfbarkeit geschlossen werden (BGH VersR 92, 1085; OLG Hamm r+s 99, 188; r+s 99, 145; OLG Oldenburg VersR 97, 611; OLG Nürnberg VersR 95, 331). Allerdings können in der Person des Handelnden liegende subjektive Umstände die Verantwortlichkeit geringer als grob fahrlässig erscheinen lassen. Dabei ist allein der Umstand, dass der Handelnde nur für eine kurze Frist die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen hat (sogenanntes Augenblicksversagen), nicht geeignet, den Schuldvorwurf herabzustufen. Es müssen vielmehr weitere, in der Person des Handelnden liegende Umstände hinzukommen, die den Grund des momentanen Versagens erkennen und in einem milderen Licht erscheinen lassen (BGH VersR 92, 1085). Die objektive und die subjektive Seite sind im Rahmen einer einheitlichen Gesamtbetrachtung abschließend zu würdigen (Römer, VersR 92, 1187, 1190).

2. Das Überfahren des unbeschrankten, mit zwei Andreaskreuzen beschilderten Bahnübergangs war im konkreten Fall objektiv grob fahrlässig. § 19 StVO, der dem Schienenverkehr Vorrang einräumt und der die Sorgfaltspflichten an Bahnübergängen vorschreibt, ist eine Regelung, deren Einhaltung wegen der extrem gefährlichen Situation in jedem Fall verlangt werden muss. Die Sorgfaltsanforderung des § 19 StVO gehören zu den höchsten Anforderungen, die die StVO überhaupt einem Verkehrsteilnehmer abverlangt. Ein Kraftfahrer, der sich einem unbeschrankten Bahnübergang nähert, hat ganz besondere Aufmerksamkeit aufzubringen und muss seine Fahrweise und insbesondere seine Geschwindigkeit so einrichten, dass er in der Lage ist, vor einem herannahenden Zug anzuhalten und diesem Vorrang zu gewähren. Ist die Strecke unübersichtlich, dann muss er ggf. mit Schrittgeschwindigkeit an den Übergang heranfahren und notfalls sogar halten, bis er beurteilen kann, dass die Strecke frei ist. Hiergegen hat der Zeuge Z verstoßen. Dieser Verstoß gegen die besondere Sorgfaltspflicht des § 19 StVO wiegt besonders schwer und ist objektiv grob fahrlässig (vgl. auch BGH VersR 94, 618 m.w.N.; OLG Karlsruhe VersR 97, 1480; OLG München VersR 93, 242).

3. Aus dieser feststehenden objektiv groben Verkehrswidrigkeit ist auf ein gesteigertes persönliches Verschulden des Zeugen Z zu schließen. Umstände in der Person des Zeugen, die diesen Vorwurf milder erscheinen lassen könnten, liegen nicht vor.

a) Die nach rechts eingeschränkte Sicht auf die Bahngleise (Bäume und Hecke) entlastet den Zeugen Z nicht. Die Andreaskreuze waren im Abblendlicht der Scheinwerfer zu erkennen. Sie waren nicht durch Bäume verdeckt. Das Foto Nr. 1 der Lichtbildmappe aus dem Strafverfahren (Bl. 7 Beiakte) gibt die Sichtverhältnisse nachvollziehbar wieder. Wie der Sachverständige dazu ausgeführt hat, ist dieses Foto aus einer Entfernung von ca. 35 - 40 m aufgenommen worden.

Gem. § 3 Abs. 1 S. 4 StVO darf ein Fahrzeugführer nur so schnell fahren, dass er innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten kann. Diese Vorschrift hat gerade bei Dunkelheit und bei Fahren mit Abblendlicht große Bedeutung. Wie weit das Abblendlicht im konkreten Fall gereicht hat, ist nicht entscheidungserheblich. Der Sachverständige Q geht von einer Reichweite des Abblendlichtes von ca. 30 - 35 m aus, ohne aber konkrete Feststellungen bezüglich des Fahrzeuges des Zeugen Z getroffen zu haben. Die Berufungserwiderung, die sich auf die Aussage des Polizeibeamten T im Strafverfahren stützt (Bl. 128 R Beiakte), nimmt 25 - 30 m an. In jedem Fall waren die Andreaskreuze aber innerhalb dieser bei Abblendlicht überschaubaren Strecke zu erkennen. Ein Fahrzeugführer hat seine Geschwindigkeit den Licht- und Sichtverhältnissen, die er bei Einschalten seines Abblendlichtes wahrnehmen kann, anzupassen. Welche Geschwindigkeit der Zeuge Z gefahren ist, lässt sich, wie der Sachverständige ausgeführt hat, im konkreten Fall nicht zuverlässig feststellen. Die von Z zunächst selbst angegebenen 60 - 70 km/h hält der Sachverständige für zu hoch. Der Unfall selbst und das verspätete Erkennen der Andreaskreuze rechtfertigt aber die Feststellung, dass der Zeuge Z entweder zu schnell gefahren ist oder aber verspätet auf die im Scheinwerferlicht erkennbaren Andreaskreuze reagiert hatte. Dies wiegt subjektiv besonders schwer. Der Zeuge Z hätte bei Erkennbarkeit der Andreaskreuze im Abblendlicht auf diese dergestalt reagieren müssen, dass er ein solches Bremsmanöver unternahm, dass er im Falle eines herannahenden Zuges vor dem Bahnübergang noch hätte anhalten können. Ggf. musste er mit einer Vollbremsung reagieren.

b) Die Vernehmung des Zeugen Z vor dem Senat hat keine entlastenden Umstände erbracht. Der lange Arbeitstag und die schweren Arbeiten entlasten ihn nicht. Dies ist eine alltägliche Situation, der sich viele Kraftfahrer ausgesetzt sehen.

c) Die fehlende zusätzliche Sicherung des Bahnüberganges, etwa durch Aufstellen einer einstreifigen Warnbake (§ 40 StVO Zeichen 162) oder des Gefahrenzeichens 151 vermag den Zeugen ebenfalls nicht zu entlasten. Es kann schon nicht festgestellt werden, dass eine solche zusätzliche Sicherung im konkreten Fall erforderlich war. Auch ein Verstoß gegen die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung, etwa gegen § 11 EBO ist nicht ersichtlich und wird auch nicht eingewandt. Der Bahnübergang liegt nicht versteckt, etwa hinter einer Kurve, sondern befindet sich auf gerader Strecke. Zudem war dem Zeugen die Strecke und der Bahnübergang nicht unbekannt. Er hatte morgens die ca. 300 m lange Zufahrt zum Wasserschloss befahren und musste daher den etwa auf der Hälfte liegende Bahnübergang, der in dieser Richtung zusätzlich durch Warnbaken gesichert ist, bemerkt haben. Gerade weil der Bahnübergang ganz nahe am Wasserschloss liegt, konnte der Zeuge Z ihn in Erinnerung behalten. Zudem hätte er die Andreaskreuze auf der Rückfahrt bei aufmerksamer Fahrweise weit vorher bemerken können. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sind die Andreaskreuze im normalen Abblendlicht von der Brücke aus, die 93,6 m vor den Andreaskreuzen liegt, für mehrere Sekunden zu erkennen. Die Brücke liegt auf einer Kuppe, so dass bei Erreichen des höchsten Punktes das Abblendlicht wesentlich weiter reicht und die Kreuze geradezu angeleuchtet werden. Zwar ist zunächst eine Rechtskurve zu durchfahren, dann aber führt die Straße gerade auf die Brücke zu. Darüber hinaus hat der Zugführer vor dem Bahnübergang zweimal Pfeifsignale gegeben, die ebenfalls von dem Zeugen Z hätten beachtet werden müssen.

Auch bei zusammenfassender Würdigung der konkreten örtlichen Verhältnisse und der in der Person Z liegenden Besonderheiten ist das Fehlverhalten als besonders schwer und damit grob fahrlässig zu beurteilen.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 BGB.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 10, 711 ZPO.